Postulat über die Lehrsätze der Naturwissenschaften - Addendum zu den "kosmologischen Axiomen"

Mein Text über die kosmologischen Axiome führte mich zum Postulat über die Definition von Axiomen selbst. Im Text der Erstveröffentlichung bildet dieses Postulat den Anhang. 

Die Kosmologie als Wissenschaft die sämtlichen anderen Naturwissenschaften Herberge gibt, führt als Bindeglied derselben unweigerlich zu den großen Fragen der Existenz. Eine minimal fehlerhafte Grundannahme hat hier große Folgen. Wenn man immer mal wieder ließt, "Einstein hatte Unrecht" oder "Standartmodell falsch", fördert dies nicht unbedingt das Vertrauen in die Physik, die ansonsten hohen Wert auf Falsifizierbarkeit und Validierbarkeit legt. Aus meiner Sicht liegt das häufig an einem fehlenden Verständnis von der Relativität vieler Grundannahmen der heutigen Physik. 

Somit führte mich die neuerliche Befassung mit Kosmologie und Naturphilosophie zu einer instrumentellen Verfeinerung des Axiombegriffs. Was ist wahr? Was ist manchmal und nur an bestimmten Orten wahr? Was ist nur begrenzte Zeit wahr und war es dann überhaupt jemals richtig? Und warum ist das alles so?


Differenzierte Kategorisierung des Axiombegriffs im mathematisch- naturwissenschaftlichen Kontext


Dass ein Axiom – im Gegensatz zur These – innerhalb einer formalen Theorie als angenommener Grundsatz keines eigenen Beweises bedarf, bleibt hier unbestritten. Die einleuchtenden Prinzipien Aristoteles’ und Euklids sowie der modernere formalistische Ansatz eines David Hilbert1 orientieren sich jedoch nur bedingt an einer grundlegenden Kategorisierung zwischen den verschiedenen Klassen naturwissenschaftlicher und mathematischer Axiome. Jene Klassen scheinen erkennbar, wenn man sich zum Exempel die Funktionsfähigkeit euklidischer Lehrsätze innerhalb der newtonschen Mechanik vor Augen führt und gleichzeitig jedoch ihre Unzuverlässigkeit bei relativistischen Strukturen. Andere axiomatische Grundsätze sind nicht nur Relationen unterworfen, sondern lediglich von temporärer Gültigkeit, da genauere Erkenntnisse a posteriori ihnen schließlich widersprechen. Was jedoch nicht bedeutet, dass sie niemals Gültigkeit oder Nutzen besaßen beziehungsweise bis dato besitzen. Ob man nun von ableitbaren Axiomen innerhalb eines formalen Kalküls spricht oder von logisch unabhängigen Lehrsätzen: Eine differenzierende Kategorisierung des Axiom-Begriffs innerhalb der Naturwissenschaft bleibt sinnvoll. Dies belegt sich auch im stetig wachsenden Erkenntnisschatz a posteriori in Physik und Astronomie. Ohne Unterlass Quasi-Axiome einzuführen und wieder abzusetzen ist der Naturforschung kaum dienlich und minimiert ihren zugrundeliegenden Anspruch ständiger Validierbarkeit. Nur wo sich ein neues Axiom als kategorisierbar erweist, kommt der zugehörigen Theorie ein entsprechender Wert zu.
   Übergeordnet werden Axiome in drei Kategorien unterteilt und auf verschiedene Weisen von Nicht-Axiomen abgegrenzt. Im klassischen Sinne definiert sich ein Axiom als »unmittelbar einleuchtender Grundsatz« (Euklid, Aristoteles). Gemäß des formalen Axiombegriffs dagegen als ein ableitbarer »Ausgangssatz, der in einem Kalkül gültig ist« (Hilbert). Innerhalb der erfahrbaren Naturwissenschaften (Physik, etc.) beschreibt das Axiom ein fundamentales Gesetz, welches empirisch mehrfach bestätigt und niemals in der Basis widerlegt wurde. Eingedenk dieser Definition ist es in Bezug auf die oben beschriebenen Entwicklungen im kosmologischen Weltbild notwendig, zumindest den Axiom-Begriff innerhalb der Naturwissenschaft auszudifferenzieren – speziell bei moderner Physik unter Berücksichtigung klassischer und formaler Axiomatik.
   Unter Beachtung der oben skizzierten historischen Entwicklung sowie der scheinbaren Relativität von Lehrsätzen in der modernen Physik können Axiome naturwissenschaftlicher Forschung – insbesondere die mathematisch ausformulierten von Kosmologie und theoretischer Physik – wie folgt kategorisiert werden:

§ 1. Absolute Axiome

Es existieren absolute Axiome, die unabhängig vom Bezugssystem und der Wahrnehmung eines subjektiven Betrachters immerzu und unter allen Umständen als wahr zu bezeichnen sind.
   Ein simples Beispiel für absolute Axiome sind die Grundrechenarten der Mathematik. Ist die Mathematik in ihrer Nomenklatur auch eine menschliche Schöpfung, so sind mathematische Relationen und Aussagen doch Sinnbilder universeller Gesetzmäßigkeiten: Das Ergebnis einer Addition ist auch unter dem Gefrierpunkt immer dasselbe. Genauso verhält es sich beispielsweise mit den Aussagen der Trigonometrie. Die Summe der Innenwinkel eines rechtwinkligen Dreiecks beträgt immer 180°, woraus mit Sicherheit folgt, dass der rechte Winkel der größte von allen ist.

§ 2. Relative Axiome

Als relative Axiome werden jene Grundsätze bezeichnet, die in einem oder mehreren Bezugs- und Parameterbereichen wissenschaftlich probate Gültigkeit besitzen, in anderen dagegen nicht.
   In diese Kategorie fallen unter anderen jene Lehrsätze, die durch die revolutionäre Einführung der beiden Relativitätstheorien sowie der Quantenphysik ihre Allgemeingültigkeit eingebüßt haben. Physikalische Theorien werden selbstverständlich unterschiedlich axiomatisiert, was zahlreiche Grundsätze relativiert. Die newtonschen Gesetze besitzen im quantenphysikalischen und im relativistischen Spektrum beispielsweise keine uneingeschränkte Gültigkeit, jedoch innerhalb der klassischen Mechanik.

§ 3. Temporäre Axiome

Temporäre Axiome sind Aussagen spekulativer Natur, die Theorien vervollständigen, ohne empirisch bewiesen worden zu sein. Sie besitzen eine mathematische oder philosophische Eleganz und gelten, solange keine absoluten oder relativen Axiome ihren Platz einnehmen oder sie selbst zu solchen erklärt werden.
   Innerhalb einer kosmischen Beschreibung oder einer Theorie wandeln sich Hypothesen zu temporären Axiomen, wenn sie als Platzhalter notwendig werden. Dunkle Energie und dunkle Materie sind unabdingbare Axiome für die erklärbare Stabilität eines begrenzt expandierenden Universums. Und das, obwohl auch völlig offen ist, ob diese Entitäten tatsächlich existieren und welche exakten Eigenschaften sie prägen. Ein abgelöstes temporäres Axiom stellt der seit der Antike vermutete Äther dar, welcher 1904 durch Lorentz theoretisch widerlegt und 1905 durch Einstein obsolet gemacht wurde. An seine Stelle rückten die relativen Axiome, die aus den Theorien der beiden hervorgehen.

Differenzierende Axiom-Begriffe unterstützen die gängige Praxis zuverlässig. Mathematisch eleganten Theorien wird lediglich ein begrenzter Wert beigemessen, sollten die zugrundeliegenden Annahmen umstritten sein. Gerade die Relativität einzelner Lehrsätze wird zumeist zwar nominell anerkannt, erhält im Diskurs aber selten ausreichende Beachtung. Ein Axiom-Begriff dieser Art schützt einen Lehrsatz vor der pauschalen Aburteilung als »falsch«, sollte seine Gültigkeit bei einzelnen Bezugs- oder Inertialsystemen begrenzt sein.
   Ebenso sollten temporäre Axiome nicht voreilig als Dogmen oder Mystizismen abgestempelt werden, nur weil es für sie an empirischen Beweisen mangelt. Auch ein Platzhalter-Axiom vermag a priori Sinn zu ergeben, leitet es sich aus absoluten oder relativen Axiomen her. Dass sich die Grundzüge der Hypothesen zur dunklen Energie und dunklen Materie a posteriori weitgehend als zutreffend erweisen; sie letztlich ausformuliert in § 1 oder § 2 aufgenommen werden können – das ist durchaus möglich.
   Dem Sinn dieser instrumentellen Verfeinerung folgend, erfüllt den Denker rasch die Ehrfurcht vor der treffsichersten Sprache der Naturwissenschaft: der Mathematik. Sie setzt alles im Kosmos ins richtige Verhältnis. In Verfahren wie der Lorentz-Transformation zeigt sich ihr universelles Vermögen: Sie schafft es sogar in Bezug auf verschiedene Axiombegriffe und damit unterschiedliche Wirkungssphären der Physik. Eine auf die Naturwissenschaft gerichtete Philosophie vollbringt den Balanceakt, diese Sprache zugleich in Worte zu gießen, die alle Dinge meinen – wenn auch nicht unbedingt immer allgemeinverständlich.

1 Der deutsche Mathematiker David Hilbert (1862 – 1943) leistete Bahnbrechendes im Bereich der Formalisierung der Mathematik. Er axiomatisierte die euklidische Geometrie und dehnte diese Methode auf die gesamte Mathematik aus (Vgl. Gödelscher Unvollständigkeitssatz, Hilbertprogramm).


Literatur (für diesen Text, sowie für Kosmologische Axiome im Wandel der Zeit)

Coppernicus, Nicolaus: Über die Kreisbewegungen der Weltkörper. Verlag Ernst Lambeck, Thorn [1543] 1879

Einstein, Albert: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Vieweg & Sohn, XIV. Auflage, Braunschweig 1922

Friedemann, Manuel Albert: Tempus fugit. Ewald & Ewald Nr. 22, 2017, S. 13-30

Hanslmeier, Arnold: Astronomie und Astrophysik. Spektrum, Heidelberg 2002

Hegel, G. W. F.: Vom wissenschaftlichen Erkennen. Verlag Felix Meiner, Leipzig, [1807] 1947

Planck, Max: Das Prinzip der Erhaltung der Energie. II. Auflage, B.G. Teubner, Berlin [1887]1908

Riordan, M., Schramm, D.: Die Schatten der Schöpfung. Dunkle Materie und die Struktur des Universums. Spektrum, Heidelberg [1991] 1993

Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Verlag von Otto Hendel, III. Auflage, Halle [1819] 1891

Spatschek, Karl-Heinz: Astrophysik. Theorie und Grundlagen. Teubner, Stuttgart 2003

Randall, Lisa: Verborgene Universen. S. Fischer, Frankfurt a.M. [2005] 2006

Hawking, S., Penrose, R.: Raum und Zeit. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000

Mormann, Thomas: Bertrand Russell. C. H. Beck, München 2007


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