Tower of London - Schlaglicht auf einen unheimlich schönen Ort

In der 52. Ausgabe des 'Baker Street Chronicle' habe ich mich erneut mit dem Tower befasst. Diesmal mehr mit dessen Geschichte - aus architektonischer und politischer Sicht. 

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Tower of London

Schlaglicht auf einen unheimlich schönen Ort


Gloster: Mein gnäd’ger Fürst, beliebt es Euch zu gehen?    
Ich und mein guter Vetter Buckingham,
Wir woll’n zu Eurer Mutter und sie bitten,
Daß sie im Turm Euch trifft und Euch bewillkommt.

York: Wie? Denkt Ihr in den Turm zu gehn, Mylord?

Prinz: Mylord Protektor will es so durchaus.

York: Ich schlafe sicher nicht mit Ruh‘ im Turm.

Gloster: Warum? Was könnt Ihr fürchten?

York: Ei, meines Oheims Clarence zorn’gen Geist;
Großmutter sagt, er wurde da ermordet.

Prinz: Ich fürchte keinen toten Oheim.

Gloster: Auch keine, hoff‘ ich, die am Leben sind.

Prinz: Sind sie’s, so hab‘ ich nichts zu fürchten, hoff‘ ich.
Doch kommt, Mylord, und mit beklommnem Herzen,
Ihrer gedenkend, geh‘ ich in den Turm.1



Die Furcht Richards – junger Herzog von York – vorm Geist des Onkels könnte als böses Omen gewertet werden; jenes Schreckens, der ihn und seinen älteren Bruder Edward im Tower von London erwarten sollte. Nur ging die wahre Bedrohung nicht vom Gespenst eines Toten aus, sondern von dessen überaus lebendigem Bruder, einem wahren Ränkeschmied: Der Herzog von Gloster – Bruder des am 9. April 1483 verstobenen Königs Edward IV. – hatte die beiden Prinzen in den Tower gelockt. Kurz darauf ließ er beide für „illegitim“ erklären und riss jene Krone an sich, die eigentlich seinem Neffen Edward zugestanden hatte. Fürchten mussten die beiden 13- respektive zehnjährigen Königssöhne also nicht die Toten, sondern vielmehr die Lebenden.

Über das Schicksal der beiden unglücklichen Kinder wurde seit William Shakespeares Zeiten viel spekuliert. Nach 1483 wurden sie jedenfalls nie wieder gesehen. Vermutlich wurden sie ausgehungert oder ermordet im Auftrag Richards III., vormals Herzog von Gloster. Spätere Knochenfunde wurden 1933 exhumiert und zeitgemäßen wissenschaftlichen Untersuchungen unterzogen. Die Resultate bestätigten die Vermutung, dass es sich um die Überreste der Prinzen handelt und dass sie erwürgt worden waren. Im Oktober 2022 genehmigte König Charles III. einer Gruppe Archäologen die Entnahme von DNS-Proben. Elisabeth II. hatte sich noch gegen eine solche Examinierung ausgesprochen. Noch dauern die Untersuchungen an - womöglich werden sie diesen historischen Kriminalfall nach über 540 Jahren auflösen.

Nicht nur diesem legendenumrankten Verbrechen verdankt der Tower of London seinen Hauch Grusel und Schrecken. Die Geschichte des Tower ist gespickt mit Gräueltaten, politisch motivierten Gefangennahmen und Hinrichtungen sowie durchwirkt von politischen Wirren sondergleichen. Die meisten Gruselmärchen entbehren durchaus nicht eines wahren Kerns. Dennoch ist der Tower mehr als nur ein finsteres Verlies, auf das er oftmals reduziert wird. Bevor er zur zahmen musealen Sehenswürdigkeit avancieren konnte, als die wir die Toweranlage heute schätzen, musste er als Trutzburg, königliche Residenz, Münzprägeanstalt, Waffendepot oder auch als zoologischer Garten dienen.

Begonnen hat jedoch alles mit William the Conqueror – den normannischen Eroberer Englands.

Die Historie des Towers

Während die Normannen 1066 England unterwarfen, errichtete Wilhelm der Eroberer in Südengland eine Reihe von Festungen. Auch weil er sich wegen seiner Krönung mit aufständischen Londonern herumschlagen musste, ließ er zum eigenen Schutz am Nordufer der Themse unweit der City eine Burg errichten. In den Bau wurden Stücke der alten römischen Stadtmauern integriert. Zudem schützten den etwa 10.000 m² großen Festungsbau eine Reihe von Gräben und hölzerne Palisaden.

Etwa zwölf Jahre später wurde die erste Festung durch einen Massivbau ersetzt, der heute als White Tower bekannt ist. Unter der Regentschaft von Richard I. erweiterte William de Longchamp, seinerseits Lordkanzler und Bischof von Ely, das Areal um weitere Gebäude, ließ Mauern verstärken und einen Seitenarm der Themse für einen Wassergraben anzapfen. Letzteres scheiterte jedoch zunächst. Während der zahlreichen, ausgedehnten Auslandsaufenthalte von Richard the Lionheart (Richard I.) – unter anderem wegen Kreuzzügen, Feldzügen und einer längeren Gefangenschaft auf der Burg Dürnstein – fungierte Lordkanzler William de Longchamp quasi als Statthalter über den größten Teil des Königreichs, wozu damals auch die Normandie und weite Teile des französischen Westgebietes zählten. Während dieser Zeit als de facto König geriet er selbst das eine oder andere Mal in politische Wirrnisse, vor denen er in den Tower floh. Willkommener Anlass, die Befestigungs- und Ausbauarbeiten vor Ort zu intensivieren.

Im 13. Jahrhundert, innerhalb der 56-jährigen Regentschaft Henrys III. erhielt die wachsende Festungsanlage nicht nur ihren Namen Tower of London, sondern auch den Gutteil ihrer heutigen Gestalt. Henry schuf ein mächtiges Bollwerk, dessen Inneres mit freundlichen, weißgekalkten Wänden und Zierrat aus Marmor aufwartete – Behaglichkeit, freilich nur für die Königsfamilie. Gleichzeitig wurden die Verliese der Anlage bereits zu Residenzzeiten als Gefängnis genutzt.

Allerdings residierten die Könige nur selten im Tower. Das Innere der Festungsringe war für zahlreiche Generationen lediglich dann attraktiv, wenn das eigene Volk oder konkurrierende Adelsgeschlechter ihnen an Leib und Leben wollten. Während der Bauernaufstände 1381 mauerte sich hier zum Beispiel Richard II. ein oder die Familie Lancaster zu Beginn der Rosenkriege 1460.

1235 wurde mit der Schenkung dreier Löwen durch den Schwager Henrys III. eine weitere Tower-Tradition begründet: Die Wildtierhaltung. Fortan unterhielten alle Könige und Königinnen eine beachtliche Menagerie. Löwen, die dem Königreich auch als Wappentier dienen, zählten fast immer zum Inventar. Die Haltungsbedingungen variierten im Laufe der Jahrhunderte stark, waren zumeist katastrophal, lediglich im besten Falle mäßig artgerecht. Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts ließ König George IV. einen professionellen Tierpfleger anstellen. Im Laufe der Säkula fanden sich innerhalb der Mauern des Towers neben zahlreichen Löwen auch Bären, Geparden, Singvögel und Raubvögel, Zebras, Würge- und Giftschlangen, Elefanten und eine Unzahl weiterer in England nicht heimischer Tierarten. Mit der Gründung des London Zoo im Jahre 1828 bekamen die verbliebenen Wildtiere Schritt für Schritt eine neue, artgerechtere Bleibe, womit im Wesentlichen auch die Tierhaltung im Tower zu Ende ging.

Unter den Nachfolgern von Henry III., von Edward I. über Edward II. bis Edward III., wurde der Tower allmählich zur dreifachen Ringburg in den heute bekannten Dimensionen ausgebaut. Die Mauern wurden erweitert und wuchsen in die Höhe; gewaltige Tore wurden eingelassen. Auch zahlreiche Türme, die heute noch innerhalb des äußeren und inneren Festungsringes zu beschauen sind, entstanden im 13. und 14. Jahrhundert: Teils noch durch Henry III., wie der Wakefield Tower, oder aber bereits unter der Ägide von Edward I., wie der St. Thomas Tower. Der nach dem Londoner Stadtheiligen Thomas Beckett benannte Turm bot bis ins 19. Jahrhundert Zugang von der Flussseite. Über einen langen Zeitraum hinweg gelangten die meisten politischen Gefangenen über das sogenannte Traitors‘ Gate (Verrätertor) in ihr düsteres, meist letztes, Tower-Verlies.

Die mittlerweile eminente Befestigung des Towers kam nicht nur den zeitweilig schutzbedürftigen Königen sehr zupass. Die Anlage diente seit frühesten Tagen auch als sicheres Waffendepot – so zum Beispiel im Hundertjährigen Krieg – und als Hinrichtungsstätte teils illustrer Damen und Herren – Revolutionäre, unliebsamen Verwandten, Bauernopfern.2 Nichts jedoch hat in der Nutzungshistorie so tiefe Spuren hinterlassen wie das Münzpräge-Gewerbe innerhalb der Anlage. Edward I. ließ 1278 oder 1279 die bis dato geheim gehaltene Münzprägestätte in London schließen und im westlichen äußeren Festungsring des Towers neu einrichten. Der Tower bot genug Schutz vor Raubüberfällen und schloss automatisch Diebstähle durch Handwerker aus. Die Geburt der Royal Mint, die ständig wuchs und schließlich im 19. Jahrhundert über 30 Prozent des Towergeländes einnahm. Die Aufsichtspersonen – zumeist Offiziere – und Handwerker, welche die königlichen Münzen produzierten, verließen den Tower so gut wie nie. Sowohl die Werkstätten als auch Wohnräume befanden sich dort. Die lokale englische Münzprägung fand 1812 ihr Ende: Es herrschte akuter Platzmangel und der äußere Festungsring musste freigegeben werden. Heute hat die Royal Mint ihren Sitz in der kleinen walisischen Stadt Llantrisant.

Aus Sorge um ihrer Sicherheit wurden die englischen Kronjuwelen zum Beginn des 14. Jahrhunderts von Westminster Abbey in den Tower überführt, wo sie bis heute an wechselnden Orten verwahrt werden.3 Hier ging es zunächst nicht um die öffentliche Zurschaustellung der Machtinsignien, sondern ausschließlich um die bestmögliche und sicherste Verwahrung. Der Keeper of the Jewels verbarg die wertvollen Kleinode an teils geheimen Orten: zunächst im White Tower, später – im Zuge der Stuart-Restauration – im Martin Tower. Befreit von den Verwicklungen des Antimonarchismus wurden die Kronen-Schätze im späten 17. Jahrhundert einer breiten Bevölkerung zugänglich gemacht. Begründung des heutigen "Juwelen-Pilgertums". Fürs Erste blieb die Juwelenausstellung im Martin Tower, nach einem Brand, einigen versuchten Diebstählen einer Reihe Übergangslösungen wurde sie eine Zeit lang im Wakefield Tower untergebracht. Seit 1967 beherbergen die 1845 errichteten Waterloo Barracks das Jewel House.4 Das gesamte Erdgeschoss des monumentalen Baus dient heute als Ausstellungsort der Kronjuwelen.

Über das 15. bis zum 18. Jahrhundert blieb die Architektur des Towers im Wesentlichen unverändert. Lediglich Henry VIII., für den der Ort eine größere Bedeutung einnahm als für viele seiner Vorgänger und Nachfolger, griff noch einmal in größerem Umfang in die Bausubstanz ein. So ließ er die Festungskirche St. Peter ad Vincula neu errichten und mit dem Queens House neuen, großzügigen Wohnraum schaffen. Ein Jahrhundert später, 1691, wurde vom Board of Ordnance – der Waffenbehörde des Empire – der nächste riesige Bau errichtet. Das Grand Storehouse diente der im Tower ansässigen Behörde als Lager und Versuchslabor. 1841 fiel das Gebäude einem Feuer zum Opfer, das im benachbarten Bowyer Tower ausgebrochen war. Vier Jahre später wurden am selben Platz das bereits erwähnte Bauvorhaben Waterloo Baracks aus der Taufe gehoben.

Eine weithin vergessene Episode der Geschichte des Towers speist sich aus jenen Zeiten, da auf dem Dach des White Towers praktische Astronomie betrieben wurde. Die Königliche Marine forderte bereits seit Mitte des 17. Jahrhunderts bessere Seekarten, die nur mittels exakter Bestimmung des Längengrades erstellt werden konnten. Vom französischen Hofastronomen und seiner französischen Mätresse Louise de Kérouaille ließ sich Charles II. schließlich zum Bau eines königlichen Observatoriums überreden – nebst Hofastronomen nach französischem Vorbild, natürlich. Bis zur Fertigstellung des Royal Observatory in Greenwich diente dem ersten königlichen Astronomen John Flamsteed der Nordturm des White Tower als Provisorium (von 1675 bis 76).5 Flamsteed dürfte bereits damals über recht funktionale Teleskope verfügt haben, denn die Erfindungen des niederländischen Optikers Hans Lipperhey, Galileo Galileis und Johannes Keplers hatten bereits in weiterentwickelter Form ihren Weg auf die Insel gefunden. Die spätere Festlegung des Nullmeridians auf Greenwich geht auch auf Himmelsbeobachtungen aus dieser Zeit zurück.

Etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu den letzten größeren baulichen Veränderungen der Festung. Sowohl Royal Mint und Zoo als auch der Drawing Room – die königliche Kartenwerkstatt von Navy und Army – hatten den Tower verlassen. Das Bollwerk war stark, doch die Spuren der Zeit waren es auch.

Erstmals trat der Denkmalschutz auf den Plan. Viele Gebäude des Hochmittelalters wurden gemäß historischen Vorlagen und unter Verwendung typischer mittelalterlichen Baumaterialien restauriert oder neu errichtet. Der Architekt John Taylor entwarf gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur zahlreiche neogotische Gebäude in London, auf ihn gehen ebenso eine Innenmauer und der Lanthorn Tower im Tower of London zurück. Hier verzichtete er weitgehend auf die ihm eigenen neogotischen Ansätze und orientierte sich eher an den mittelalterlichen Ursprüngen der Anlage.

In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begannen umfangreiche Restaurations- und Reinigungsarbeiten, um ihn für wachsende Besucherströme zu verschönern und zu rüsten. Zwar ist der Tower immer noch ein Armeestützpunkt und nominell auch königliche Residenz, hauptsächlich dient er heute vielmehr zeremoniellen Zwecken und letztlich doch der Eroberung – durch Touristen.

Der Tower der Gegenwart

Des Königs Stellvertreter im Tower of London ist der Constable of the Tower, seit 2022 Sir Gordon Kenneth Messenger. Übte der Constable früher noch volle Amtsgewalt aus, beschränken sich seine Aufgaben heuer vielmehr auf zeremonielle Inhalte, womit er quasi als Staatschef der Tower-Anlage dient. Er genießt das seltene Privileg, direkten Zugang zum König zu haben, und ist in der Regel ein General im Ruhestand.

De facto Regierungschef des Towers ist der sogenannte Resident Governor, seit 2019 in Person des Brigadegenerals Andrew Jackson. Er fungiert als militärischer Befehlshaber des Tower of London sowie als ziviles Verwaltungsoberhaupt. Bis 1968 gab es noch einen gesonderten Keeper of the Jewels, mittlerweile ist diese Funktion Teil des Gouverneur-Protokolls. Sowohl der Constable, der Governor als auch die Yeoman Warders und deren Familien leben auf dem Gelände der Festungsanlage.

Die Yeoman Warders sind so etwas wie die "guten Seelen" im Tower. Die Truppe von bis zu 40 ehemaligen Offizieren des britischen Militärs erfüllt gleich mehrere essentielle Aufgaben. Zum einen sind sie neben New Scotland Yard und einer externen Armeeeinheit zuständig für die Durchsetzung der Exekutive im Tower und sie dienen als oberste Wächter royaler Regalien seiner Majestät. Sie bewachen die Tore und sind allein berechtigt, diese zu öffnen oder zu verschließen. Dazu zählt auch die berühmte allabendliche Schlüsselzeremonie kurz vor 22.00 Uhr. Beim Ritual aus Tudor-Zeiten geht der Chief Warder, nebst Gefolge, bis zehn Uhr abends alle Außentore des äußeren Festungsrings ab und verschließt sie – begleitet von allerlei bunten Katechismen. Woher ihr nicht sonderlich schmeichelhafter, jedoch liebevoll gemeinter Spitzname Beefeater kommt, ist leider nicht überliefert – womöglich rührt diese Bezeichnung von den Rindfleischrationen, die früher Teil ihres Solds gewesen sein sollen. Mir erzählte einmal ein Yeoman Warder, der Spitzname sei in Wirklichkeit für die Raben gedacht gewesen, die täglich ihre Dosis Fleisch bekommen.

Yeoman Warders haben ihren Ursprung im 16. Jahrhundert und wurden damals als Gefängniswärter beschäftigt. Der Constable verlieh ihnen im Auftrag des Königs das Recht, die königlichen Farben und Wappen zu tragen. Ihren Broterwerb sicherten sie sich damals mit Gebühren, die sie von Gefangenen und vereinzelten Besuchern eintrieben, die sie bereits damals im Tower herumzuführen pflegten. Die typischen Uniformen von heute sind Repliken mittelalterlicher Monturen, die sich allerdings erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten. Noch heute definiert "Fremdenführer" einen wesentlichen Teil ihrer Aufgaben. Mit freudiger Inbrunst bringen die Yeoman Warders jede noch so blutige Anekdote der 900-jährigen Geschichte des Towers auf fesselnde und amüsante Weise den Besucherströmen näher.

Bis zu ihrer endgültigen Pensionierung mit 65 leben die Beefeaters mit ihren Familien im Tower, in eigens dafür eingerichteten Wohnungen. Der Dienst im Tower gilt als ausgesprochene Ehre und für die meisten Briten bleibt er ein unerfüllter Traum. Mindestens 22 Jahre gehorsamsten, skandalfreien Dienstes als Offizier oder Unteroffizier muss ein Bewerber vorweisen können, um überhaupt in Frage zu kommen. 2007 trat mit Moira Cameron die erste Frau ihre Funktion als Wächter im Tower an – ihr folgten mittlerweile zwei weitere.

Neben den zahlreichen zeremoniellen Pflichten im Tower-Alltag sowie dem Salut im Rahmen von Krönungen und königlichen Geburtstagen gibt es noch eine wichtige Aufgabe, die einem auserwählten Yeoman Warder zukommt. Der Ravenmaster kümmert sich um die mindestens sieben Kolkraben, die im Tower leben. Dem Rabenmeister – zurzeit Christopher Skaife – obliegen die Fütterung, das Flügelstutzen, die Zucht, die Unterbringung sowie tierpflegerische Aufgaben. Auch die Dressur der klugen Vögel ist dem Ravenmaster anvertraut. Im Gegensatz zur allgemeinen Annahme ist die Rabenhaltung im Tower erst seit Ende des 19. Jahrhunderts belegt. Demzufolge scheint auch die Legende, „das Königreich würde untergehen, wenn die Raben den Tower verließen“, erst neueren Ursprungs zu sein. Die Briten nehmen sie dennoch ernst und der Meister unternimmt alles in seiner "rabenväterlichen" Macht stehende, damit sich diese Prophezeiung nie erfüllen möge. Der Rabenmeister ist zudem bemüht, seinen Schützlingen immer wieder ein neues Sprachkunststück beizubringen. Wie Papageien sind Raben in der Lage, einmal Gehörtes verbal wiederzugeben. Das mag nicht sonderlich anmutig klingen, verstehen kann man einige Towerraben dennoch recht gut.

Neben dem Leitungspersonal, den Yeoman Warders und deren Familien leben und arbeiten noch weitere Menschen im Tower. So zum Beispiel der Vikar der Towerkapelle, die Mitglieder einer Garnison und der Betreiber des towereigenen Pubs. Die lediglich 5 Hektar große Anlage – damit lediglich ein gutes Zehntel der Fläche des Vatikans – bildet eine kleine Stadt mit Regierung, Polizei, Gastronomie, Wohnhäusern, einer Kirche sowie einer Arztpraxis. Die etwa 130 Bewohner verstehen sich als Gemeinschaft im Dienste seiner Majestät sowie der Tradition verpflichtet.

Heute ist diese imposante Festungsanlage, gelegen im Londoner Stadtbezirk Borough of Tower Hamlets, mehr Museum als Festung; mehr lebendige Geschichte denn Ort monumentaler Tragödien, wie sie von Shakespeare, Anthony Munday oder Edgar Wallace der Nachwelt hinterlassen wurden. Jedes Jahr begrüßen die stolzen Mitarbeiter des Towers zwischen zwei und drei Millionen Besucher, obwohl die Eintrittspreise mit knapp £30 nicht eben gering ausfallen. Die Faszination, ein wenig Glanz, Ruhm und Grusel der britischen Geschichte inhalieren zu dürfen, treibt die Besucher Londons beinahe mit Sicherheit an diesen Ort, an dem die Geschichte lebendig gehalten wird wie kaum anderswo.

Kartographischer Blick auf den Tower

© Thomas Römer (Grafik)

Das Tower-Areal wird südlich von der Themse begrenzt, östlich, nördlich und westlich ist die große Außenmauer, welche den äußeren Festungsring umgibt, von einem Graben umringt, der früher mit Wasser gefüllt war. Der Gestank des abgestandenen und von Exkrementen verseuchten Wassers bewegte jedoch schon vor Zeiten zur Entleerung des Grabens. Im Jahr 2014 wurde er mit 888.246 Mohnblumen aus Keramik geschmückt; Erinnerung an jeden britischen Soldaten, der während des ersten Weltkrieges gefallen ist. Anschließend wurden die Blumen für £25 pro Stück verkauft – die Erlöse kamen wohltätigen Zwecken zugute.

Im Zentrum des Tower steht das älteste Gebäude der Anlage, der White Tower (1). Im Hochmittelalter war, wenn man vom Tower sprach, nur der White Tower gemeint. Aufgrund der zahlreichen Bauten, die mit der Zeit auf dem Towergelände errichtet wurden, bezeichnet man den größten Turm der Anlage mittlerweile als Keep. Einst beherbergte er die königlichen Gemächer, Gefängniszellen und die Waffenkammer. Mittlerweile dient er vor allem als Museum. Vor einigen Jahrzehnten wurde eine von historischen Vorbildern inspirierte Holztreppe installiert, um den ursprünglichen Hauptzugang wieder nutzbar zu machen.

Im Nordwesten des inneren Festungsrings befindet sich die Kirche der im Tower lebenden Menschen: St. Peter ad Vincula (2). Auch sie stammt aus der Frühzeit des Towers, wurde jedoch von Henry VIII. grundlegend umgebaut. Viele der im Tower hingerichteten Dissidenten haben hier ihre letzte Ruhe gefunden – unter anderen Sir Thomas More (der heilige Thomas Morus) und Anne Boleyn, die beide der Willkür Henrys VIII. zum Opfer fielen.

Der Bloody Tower (25) verbindet im Süden den äußeren mit dem inneren Festungsring. Seinen Namen verdankt er der Tatsache, einst ein Gefängnis gewesen zu sein. Die beiden jungen Prinzen Edward und Richard sollen der Legende nach hier ums Leben gekommen sein.

Das Tower Green (11) diente neben dem Tower Hill die längste Zeit als Hinrichtungsort im Tower. Heute erinnert lediglich ein Gedenkstein (10) an die Schandtaten der Vergangenheit. Die Tower-Raben sollen sich gern hier niederlassen – spüren sie die Gegenwart vieler Seelen, die hier ihr Leben lassen mussten? Oder beobachten sie hier nur das bunte Treiben der Yeoman Warders?

Der im Nordosten des äußeren Festungsringes gelegene Martin Tower (19) beherbergte nach der Stuart-Restauration das Jewel House und damit die Kronjuwelen. Kurz nach der Unterbringung der Juwelen im Martin Tower versuchte der illustre Betrüger Colonel Thomas Blood, sie zu stehlen. Der Legende nach gelang es dem Sohn des Juwelenmeisters, Blood und seine Spießgesellen zu stellen und die Regalien zu sichern. Später diente der Turm wie beinahe jedes Gebäude im Tower als Gefängnis. Im Ersten Weltkrieg wurden hier elf deutsche Spione gefangen gehalten.

Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts beherbergen die Waterloo Baracks (3) das Jewel House und die Regalien des Königs. Die Ausstellung erstreckt sich über das gesamte Erdgeschoss des großen Gebäudes.

Eher weniger bekannt ist der im 13. Jahrhundert erbaute Salt Tower (22). Der an der Südostspitze des äußeren Rings gelegene Turm diente zum Ende des 13. Jahrhunderts dem schottischen König John Balliol als unfreiwillige Herberge. Später wurde im Tower Salz verwahrt – das "Weiße Gold" des Mittelalters.

Die Kasematten (28) befinden sich auf der Innenseite des westlichen äußeren Festungsrings und beherbergen die Wohnungen der Yeoman Warders und ihrer Familien. Innerhalb der letzten Jahre wurden die Wohnräume Stück für Stück saniert.

In den Wohnräumen des im Fachwerk errichteten Queens House (13) ist das Führungspersonal des Towers untergebracht. Im Haupthaus befindet sich die Wohnung des Constable, in No. 1 Tower Green wohnt der Vikar des Towers, in No. 2 Tower Green der Arzt.

Literatur

Ackroyd, Peter: London. Die Biographie. Knaus Verlag, München 2003
Hawkes, Jason: London From The Air. Ebury Press, London 2001
Internetquellen (u.a.: Star Gazing at the Top of the Tower; Historic Royal Places: hrp.org.uk/tower-of-london/)
Klotz, Günther (Hrsg.): William Shakespeare. Sämtliche Werke in vier Bänden. Band III. II. Auflage, Aufbau Verlag, Berlin 2003
Wende, Peter: Das Britische Empire. Geschichte eines Weltreichs. Verlag C.H.Beck, München 2008

Fußnoten

1 König Richard III., dritter Aufzug, erste Szene
2 Henry VIII. ließ seine zahlreichen Ex-Frauen dort nebst Gefolge vom Leben zum Tod befördern. Auch Robert Devereux, der zweite Graf von Essex, fand innerhalb der von der Allgemeinheit abgeschotteten Mauern des Towers den Tod, nachdem er vergeblich versucht hatte, gegen Elisabeth I. zu opponieren.
3 Freilich handelt es sich bei den heutigen Kronjuwelen um andere, als jene des 14. Jahrhunderts. Das Parlament zerstörte die Regalien der Stuarts während des Bürgerkriegs. Für die Krönung Charles II. im Jahre 1660 wurden neue Insignien der Macht hergestellt – jene die wir heute kennen und erst neulich bei der Krönung Charles III. bewundern durften.
4 Der Name versteht sich als eine Würdigung des Constable of the Tower, der den Bau der Barracks (als Kasernen für Offiziere und Soldaten) in Auftrag gegeben hat: Arthur Wellesley, I. Herzog von Wellington. Er und Feldmarschall Blücher besiegten Napoleon bei Waterloo.
5 Vgl. Star Gazing at the Top of the Tower: https://blog.hrp.org.uk/tower-astronomy/1

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