HOLMES sagt: Dichtung und Wahrheit (IX)

Aus meiner Reihe 'Holmes sagt' möchte ich nun den neunten Teil 'Dichtung und Wahrheit' in der Chronik veröffentlichen. Erschienen ist der neuste Teil meiner viktorianischen Kolumne - wie gewohnt - im 'Baker Street Chronicle'. Die ganze illustrierte Zeitschrift kann hier bestellt werden: BSC Nr.55.

Der Essay befasst sich vornehmlich mit der Frage nach der Aufrichtigkeit des menschlichen Seins, auch mit mutmaßlich falsch gesetzten Prioritäten in Gesellschaft und Politik. Geraten aufgrund der verbreiteten Sucht nach Selbstinszenierung die dringlichsten Probleme der jeweiligen Zeit in den Hintergrund? Mal sehen, was Holmes und Watson dazu zu sagen haben...


Holmes sagt (IX): Dichtung und Wahrheit




„Ziehen Sie Ihren Sessel näher und geben Sie mir meine Geige; wir haben nämlich noch immer ein Problem zu lösen, und zwar, wie wir uns diese trüben Herbstabende vertreiben können.“ (NOBL)

Ich tat, wie mir geheißen. Der Sessel ächzte leise, als ich mich hineinfallen ließ. „Nun Holmes, an der Lösung dieses Problems beteilige ich mich gern. Wenn Sie aber bitte Ihr Kammerkonzert noch ein wenig aufschieben möchten – mir schwebt eher vor, dass wir uns in jene Angelegenheit vertiefen, die wir vorhin besprochen haben.“

„Ich meine doch“, entgegnete Holmes irritiert, „dass wir die Sache um Lord St. Simon bereits hinreichend erörtert haben.“

„Ganz recht, Holmes. Der Fall scheint mir geklärt. Jedoch lässt mir das schroffe Auftreten des Lords keine Ruhe. Sicher, in seiner Lage erginge es mir nicht viel besser. Da ich in Kürze selbst vor den Altar trete, meine ich seine Verdrießlichkeit gut nachvollziehen zu können. Nicht auszudenken, mich ereilte ein vergleichbares Schicksal.“ Eine von Holmes‘ Augenbrauen hob sich.

„Da Ihre werte Verlobte trotz Ihrer schätzenswerten Charakterstärken und ihrer Anmut kein eminentes Vermögen mit in die Ehe bringen wird, hinkt ein Vergleich doch erheblich, meinen Sie nicht?“

„Ich bin auch kein Adliger, werter Freund,“ antwortete ich und starrte ins Kaminfeuer. „Gerade hier stößt mir am guten Lord so einiges am ganzen Gebaren auf. Mir schienen seine vornehmen Gepflogenheiten lediglich Maskerade zu sein, derweil sich unter der steifen Oberfläche lediglich ein ganz gewöhnlicher Bursche versteckt; voller falschen Stolzes, aufbrausend und ganz gefangen in den ordinären Gefühlsregungen eines ganz normalen Mannes.“

„Ja, was soll er denn sonst sein, Watson? Der Gondoliere eines Kahns, unterwegs auf Schiaparellis ominösen Marskanälen?“ spöttelte Holmes.

„Gewiss nicht, mein Bester. Jedoch sind Adlige seines Ranges von Kindesbeinen an distinguierter erzogen und geprägt worden als irgendein beliebiger Bürger. Ich hänge zwar nicht der Legende an, ein vornehmes Wesen sei erblich, jedoch ist er ganz sicher in einem kultivierten Umfeld aufgewachsen.“ Mein Freund schüttelte den Kopf.

„Erziehung ist ein zweischneidiges Schwert, vor allem in der oberen Klasse. Wenn Sie mich fragen, Watson, bedeutet ‚Kultivierung‘ unter Adligen nichts anderes als das: zu erlernen, wie man einen idealen Menschentypus vortäuscht. Profunde Geisteserziehung bleibt dabei nur allzu oft auf der Strecke. Sehen Sie sich doch unsere Gesellschaft an.“ Er hieb mit den Händen auf seine Armlehnen ein. „Es ist eine Kultur der extremen Gegensätze. Die größte Gruppe bilden jene, die täglich die grundlegenden Voraussetzungen für ihre Existenz aufs Neue erkämpfen müssen. Es mag sein, dass Stallknechte und Hafenarbeiter Ausdrucksformen jener Kultiviertheit vermissen lassen, die uns zutiefst vertraut sind. Trotzdem erfährt man von diesen Lumpen oft mehr Wahres als von den Aristokraten, denen man jede noch so offensichtliche Tatsache mühsam aus der Nase ziehen muss.“

Holmes beugte sich zu mir, seine Augen bohrten Löcher in meine Seele. Ich sank ein wenig tiefer in meinem Sessel.

„Mir sind die armen Klienten oftmals die Liebsten, denn ihre Probleme reichen tiefer ins Dasein als jene der Oberschicht. Zudem weiß ich meist, woran ich bei ihnen bin. Beim Blaublütigen muss ich zuerst Schicht um Schicht Fassade abtragen, wie der Steinmetz dem Marmor. Wenn die Skulptur der Wahrheit hinter all der täuschenden Dichtung zum Vorschein kommt, ist es oftmals zu spät.“ Holmes stand auf, öffnete die bauchige Anrichte, ließ leise Gläser klirren und schenkte uns beiden Whisky ein. Als er sich wieder zu mir an den Kamin gesellte, gönnte er sich genüsslich einen Schluck, schloss die Augen und lehnte sich zurück.

„Watson, ich meine, in der exemplarischen Oberflächlichkeit und gefühlsmäßigen Unaufrichtigkeit unseres Klienten auch die Zeichen eines grundlegenden Problems der modernen Gesellschaften erkannt zu haben.“

„Da bin ich aber gespannt“, schmatzte ich. Dieser Whiskey war ausgezeichnet. Holmes richtete sich etwas auf, wie er es tat, wenn er seine Argumente wie Perlen auf die Schnur zu fädeln gedachte.

„Sehen Sie, mir haftet doch durchaus der Ruf an, meinen Mitmenschen auf nicht allzu einfühlsame Weise zu begegnen, nicht wahr?“ Holmes blickte mich fragend an und nötigte mir trotz meines Unwillens eine Antwort ab:

„Nun Holmes, Sie haben in dieser Sache gute und weniger gute Tage. Oftmals können Sie Ihre Ungeduld kaum verbergen, manchmal behandeln Sie andere Gentlemen regelrecht herablassend. In anderen Situationen sind wiederum Sie der perfekte Gentleman, mitfühlend und dem Gegenüber zugewandt.“ Ich prüfte Holmes‘ Miene, um einen Hinweis darauf zu erhaschen, wie er meine ungewohnte Offenheit verkraftete. Zu meiner freudigen Überraschung lächelte er, beugte sich zu mir und tätschelte meinen Arm.

„Bravo, mein Junge. Spüren Sie, wie befreiend es sein kann, aufrichtig von den eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen zu sprechen?“ Ich war nervös, diese Art seelischer Nabelschau war mir in der Tat recht neu.

„Dies mag richtig sein. Jedoch hängt doch vieles von den Reaktionen des Gesprächspartners ab.“

Holmes bohrte mit dem Zeigefinger ein Loch in die Luft.

„Womit wir dann wieder beim Ausgangsproblem wären. Wir leben in einer Normalität der Dichtung und des Andichtens. Es ist allerdings keine erhabene Lyrik, sondern Prosa, die mehr zu sein vorgibt, als sie in Wirklichkeit ist. Nur darauf erpicht, dass ‚es sich reimt‘, dabei aber Ästhetik und Versmaß völlig außer Acht lässt. Sie meinten ja, der Grad meines Einfühlungsvermögens für mein Gegenüber wäre rein eine Frage des Zeitpunkts. Das ist so nicht ganz richtig. Gewiss, meine wechselnden Gemütslagen sind Ihnen über die Jahre nicht verborgen geblieben“ meinte er, mit einer Spur Verlegenheit in der Stimme.

„Das können Sie laut sagen, mein Bester“, meinte ich bitter, „Ich habe mich diesbezüglich stets bemüht, sämtliche Ihrer Capricen aus der Warte des Mediziners zu betrachten und somit ungünstigen Schlüssen über Ihre ganze Person vorzubeugen.“

„Was Sie sehr ehrt mein Freund“, erwiderte Holmes dankbar. „In der Interaktion mit Klienten, Inspektoren oder ähnlichen Protagonisten des offiziellen Kontexts spielen diese meine Zustände jedoch keine herausgehobene Rolle. Vielmehr bin ich einfach bemüht, alles Aufgesetzte aufzubrechen und den Kern der Wahrheit auszugraben. Mit unseren Klienten aus einfacheren sozialen Gruppen hat man hier weitaus weniger Scherereien. Sie sind wie Kurzprosa, quintessentiell – ohne Obsession, etwas halbgöttlich Erhabenes vorspielen zu müssen, das meilenweit von jeder Wahrheit entfernt ist. Die feinen Herrschaften und – noch viel eklatanter – die edlen Damen der Gesellschaft erschöpfen sich von früh bis spät in der Rolle der reichen Partie, die nicht einmal sonderlich interessant ist, weil sie sonst nichts hat oder ist. Ihr Geist gleicht keinem wilden Garten voller blühender Rosen, sondern eher dem vergessenen Aschekübel unten am Hafen. Wie viel Nutzbringendes könnten sie nur mit all der Energie leisten, die sie verschwenden?“

Durch Holmes‘ drahtigen Körper fuhr ein Ruck. „Watson, Sie werden doch bald wieder regelmäßig als Arzt praktizieren. Ich denke, jene Einsicht, auf die meine Ausführungen zusteuern, wird Ihrer Praxis ebenso nützen wie meiner. Im Wesentlichen haben alle Menschen ähnliche Bedürfnisse und Gefühle, die sich in sichtbaren Regungen Ausdruck verschaffen wollen. Diese Regungen dauerhaft zu unterdrücken, um einer gestrigen Etikette zu genügen, kann weder dem seelischen Wohlbefinden zuträglich noch der Allgemeinheit nützlich sein.“ Unwirsch zupfte er sich einen losen Faden vom Jackett. „Zudem erschweren mir diese Allüren in ganz erheblichen Maße die Arbeit.“

Ich blieb stumm. Holmes hatte meine vorgefassten Ansichten mal wieder gefährlich ins Wanken gebracht. Ich schlürfte den letzten Tropfen Whiskey aus meinem Glas und versuchte, Holmes‘ Ausführungen auf meine eigenen Erfahrungen zu übertragen.

„Da sprechen Sie tatsächlich etwas Wahrhaftiges an, Holmes. In der Tat ist mir dieser Umstand bei vielen unserer Klienten gewahr. Und Sie haben recht, gerade bei der Erstkonsultation verschwende ich oft Zeit und Kraft, bevor überhaupt eine Diagnose möglich wird – nur, weil Lebensgewohnheiten oder Symptome anders dargestellt werden, als es der Wahrheit entspricht. Ich entsinne mich eines fürchterlich höflichen Jünglings, welcher von mir zwar Hilfe wegen starker abdomineller Schmerzen erbat, jedoch zunächst eine halbe Stunde lang nur seine weißen Lederhandschuhe knetete und partout nicht herausrücken wollte, was genau ihn quälte. Erst, als ich sein Abdomen abtastete, offenbarte sich das wahre Ausmaß des Problems – er litt unter explosiven Flatulenzen. Er wollte sofort verschwinden. Nur mit äußerster Behutsamkeit konnte ich ihn überreden, zu bleiben, bis ich eine wirksame Tinktur angemischt hatte.“

Holmes kicherte. „Ihre olfaktorischen Reminiszenzen illustrieren sogar exactement den Punkt meiner Überlegungen, Watson. Viele sind eher bereit, sich selbst zu schaden, als die an sich verrotteten Fesseln gesellschaftlicher Konventionen abzustreifen, und sei es nur zeitweilig. Und diese Leute schaden sich auch selbst! Sie suchen mich auf, damit ich mich mit einem jener ernsten Probleme befasse, die mir zum Lebensmittelpunkt geworden sind – allerdings ohne, dass sie ihre alten, abgewohnten Kokons abstreifen müssen.“ Ich erhob einen Finger, um einen Punkt auszuführen, der mir trotz Holmes‘ Überzeugungskraft noch ungeklärt schien, da fuhr auch schon seine eigene Hand in die Luft.

„Mir ist bewusst, das gesellschaftliche Konventionen und Normen durchaus ihren Wert besitzen, Sie müssen mich nicht darauf hinweisen.“ Ich zog meinen Finger wieder ein. „Auch ich kleide mich wie ein Gentleman, nicht wie ein Bettler. Ich lege mir meine Worte zurecht, anstatt einfach loszuplappern und ich esse mit Messer und Gabel, nicht mit bloßen Händen, guter Freund.

Worauf ich abziele, ist die Pervertierung dieser Konventionen um ihrer selbst willen. Induktiv betrachtet führt dies nämlich zu einem generellen Verfall der Bedeutung von Wahrheiten. Denn jene, welche in den von mir angeprangerten Etiketten gefangen sind, sind meist auch jene, die sie zementieren und unsere Gesellschaft anführen. Die unsägliche Ignoranz versteinerter Sitten und Schichtzugehörigkeiten gegenüber Wahrheiten und Umbrüchen – seien sie auf die eigene Lebenswirklichkeit bezogen oder auch auf größere Zusammenhänge – wird sich nach und nach zu einer Seuche auswachsen.“

Holmes bebte. Ich machte große Augen. „Watson, ich bin überzeugt davon, dass es den wenigen Gegenständen unserer Welt, denen vollumfänglich durch sinnfällige Methoden ein moralisch eindeutiges Richtig oder Falsch zuzuordnen ist, an den Kragen gehen wird, wenn es uns nicht gelingt, die gehobenen Schichten unseres schönen Königreichs mit wissenschaftlicher Methodik vertraut zu machen. Womit ist die Haute Volée aber beschäftigt? Mit der Verkrüppelung ihrer natürlichen Gefühlswelt und der Negierung des Umstands, auch nur Menschen zu sein. Bildung bleibt auf der Strecke, Empirie ebenso. Es ist grässlich.“ Holmes schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Er war sichtlich angefasst. Ich fühlte mich, als hätte ich Big Ben's Glockenturm erklommen – auf Händen. Ich keuchte.

„Gehen Sie mit Ihrer Folgerung nicht ein wenig weit, Holmes? Wer seine eigene profane Menschlichkeit verbirgt, vielleicht gar leugnet, muss doch nicht die Wirklichkeiten der übrigen Welt ignorieren.“

„Wahrheit bleibt Wahrheit, Watson. Wer seine Illusionen im Kleinen routiniert für die Wahrheit ausgibt, wird bald auch andere Wahrheiten so umdichten, dass sie in seinen kleingeistigen Rahmen passen. Der Logiker ist dagegen verpflichtet, jedes Ding so zu betrachten, zu analysieren und zu verstehen, wie es ist.“ Holmes stand auf, kniete sich neben seinen Chemikalientisch und durchforstete hastig den darunterliegenden Zeitungsstapel. Offenbar fündig geworden, sprang er auf, hastete zu mir herüber und hielt mir eine Seite einer drei Tage alten Times unter die Nase.

„Sehen Sie selbst, welches Prinzips Exempel Sie hier beobachten können!“

Es war ein Artikel über die Zustände in Londons East End; darüber, wie Kriminalität und Armut in Limehouse, Whitechapel und Stepney zunehmend um sich griffen. Um der Lage Herr zu werden, wollten die Stadtoberen um den Bürgermeister entweder Umsiedlungen durchführen oder aber das Arbeitsvolk stärker in seinen Freiheiten beschränken, was unter anderem mit der Einführung von Sperrstunden ermöglicht werden sollte. Ich faltete die Zeitung zusammen und blickte zu Holmes.

„Nun, gewiss keine erfreuliche Nachricht, jedoch kann ich hierin nicht sonderlich viel Neues entdecken.“ In Holmes brodelte es unleugbar.

„Es geht doch nicht darum, ob hier etwas Neues zu lesen ist!“ platzte es aus ihm heraus und ich zog den Kopf ein. „Das East End wird aufgezehrt von Armut, Bildungsmangel und katastrophalen Arbeitsbedingungen! Und welche vermeintliche Lösung haben diese so genannten Politiker? Sie fabulieren über Umsiedlungen und Sperrstunden! Was folgt im nächsten Akt dieser unsäglichen Posse? Werden sie uns empfehlen, in aller Ruhe eine neue Bleibe zu suchen, wenn im Nachbarhaus ein Brand tobt, anstatt ihn zu löschen und der Brandursache nachzugehen?“ Ich schwieg betreten. „Dieser Wahnsinn macht Schule, Watson. Auch blanke Lügen vernimmt man immer öfter von den sogenannten ‚oberen Kreisen‘! Jene Kreise, die auch unser Land regieren. Vor einigen Wochen las ich, dass ein Abgeordneter, der durchaus eines Tages als unser neuer Premierminister an die Macht kommen könnte, behauptete, die Dockarbeiter aus unseren entlegenen Kolonien wären für die grassierende Syphilisepidemie in Limehouse verantwortlich.“ Holmes‘ übergoss den schwarzen Ton demagogischer Rede mit beißender Ironie. „Sie hätten die Krankheit überhaupt erst nach England gebracht und würden sie über die jungen Britinnen bringen, welche sie sich mit Gewalt gefügig machten“, zitierte er ungehalten.

„Wahlkampfparolen, würde ich meinen“, murmelte ich kleinlaut.

„Also bitte, Watson!“ rief er, „mag sein, dass die Wählerschaft dieses Abgeordneten oder überhaupt das Wahlvolk für Parolen anfällig ist. Aber auch das ist ein Symptom des allzu laxen modernen Umgangs mit dem komplexen Charakter der Wahrheit. Wenn dieser noble Herr jedoch über 350 Jahre fächerübergreifender Forschung außer Acht lassen kann und dem allgemein nicht widersprochen wird, dann ist etwas faul ‚im Staate Dänemark.‘“ Diese letzten Worte hatte er ganz leise gesprochen. Sie krochen mir unter die Haut.

„Blanke Lügen werden salonfähig, mein Freund. Unterschiedliche Standpunkte zu umstrittenen Themen vertreten zu dürfen ist überlebensnotwendiger Katalysator des Fortschritts! Ob wissenschaftlich oder gesellschaftlich sei dahingestellt. Mit den genannten Halbwahrheiten und offenen Lügen verhält es sich dagegen konträr. Und es ist ja auch eine passable Strategie. Ein Teil der Wählerschaft wird mit Parolen eingefangen, die die Schuld für alle möglichen Probleme bei allen anderen suchen – auch für die eigenen Versäumnisse. Wähler wie Sie, mein guter Freund – Menschen mit Verstand und einer moralischen Grundausstattung – verbuchen solch böswilligen Stumpfsinn dagegen lapidar als Wahlkampfparolen! Somit gewinnen derartige Agitatoren zusätzlich die Stimmen der moralbefreiten Denkverweigerer, ohne dabei der Stimmen der gebildeten Schichten verlustig zu gehen. Ich sage es Ihnen, irgendwann wird eine dieser niederträchtigen Kreaturen vor großem Publikum behaupten, diese zugewanderten Leute würden die Haustiere der Briten verspeisen. Und so erwacht der Wahnsinn der Geistesauflösung aus seinem Schlummer. Keiner, dessen Hund oder Katze davongelaufen ist, gerät in Erklärungsnot: Hat der Halter das Tier schlecht behandelt und es ist geflohen? Und wissen Sie, was beinahe noch schlimmer ist als derartige intellektuelle und moralische Entgleisungen?“ Ich sah zu ihm auf.

„Das wir dabei die wahren, fundamentalen Probleme unseres Landes völlig vergessen, nicht wahr, Holmes?“

„Ganz genau, mein guter Freund. Wenn wir uns schon nicht mit den signifikanten Komplikationen unserer Zeit konfrontieren, wie sollten wir dann Lösungen finden, geschweige denn, sie umsetzen? Das Schiff hat ein gewaltiges Leck und wir versuchen mit aller Kraft, von uns selbst als Verursachern abzulenken und mit viel Fleiß wider besseren Wissens die Schwächsten dafür haftbar zu machen. Im Moment, da die Wogen über ihm zusammenschlagen, wird vielleicht auch dem größten Realitätsverweigerer klar, dass er mit allen anderen im selben Boot gesessen hat und sie jetzt gemeinsam und gleichberechtigt ertrinken dürfen.“ Ich sehnte mich nach einem weiteren Glas Whiskey.

„Und noch eins, mein lieber Watson. Wir, also Politik und Gesellschaft, rufen die Menschen aus fernen Ländern und Kolonien zu uns, damit sie unseren unstillbaren Bedarf an billigen Arbeitskräften stillen. Wenn sie Fuß zu fassen und ihre Existenz zu sichern versuchen, spüren gewisse Subjekte den Druck ihrer eigenen Unzulänglichkeiten sehr viel stärker – und schieben die Verantwortung hierfür den Neuankömmlingen zu. Diese Menschen werden dann für beinahe alles Übel verantwortlich gemacht. Ein Übel, das es vorher schon gab.“ Ich nickte langsam. Holmes stand auf, holte die Whiskeyflasche herüber und schenkte uns ein. Dann griff er nach einem Schürhaken und stocherte eine Weile im Kamin herum. Ein paar Funken flogen auf und beleuchteten das scharfe Profil des Denkers, dessen Miene gerade so unergründlich war wie sein Geist.

„Ich habe jetzt verstanden, worauf Sie hinauswollen, Holmes. Wo liegen aus Ihrer Sicht die gewaltigsten Herausforderungen unserer Zeit?“ Ich nahm begierig einen Schluck Whiskey, aber noch begieriger war ich auf Holmes‘ Gedanken über die großen politischen und gesellschaftlichen Debatten. Nur ganz selten hatte er sich im Laufe unserer langjährigen Freundschaft offen über derlei Themen geäußert.

„Bildung sollte höchste Tugend sein, Watson. Fundiert, breitgefächert und zugänglich für sämtliche Bürgerinnen und Bürger des Königreichs! Von Kindesbeinen an! Dies hehre Ziel erreicht man nicht über Nacht, es erfordert Durchhaltevermögen. Als essentiellen Teil dieser Bildung begreife ich auch die Philosophie, die uns mit ihrer Kartierung der Erkenntnisprozesse hilft, folgerichtig und im Menschheitssinne zu denken. Die herrschende Schulbildung sollte umstrukturiert werden, sowohl für die Armen – die Arbeiterfamilien aus den Kolonien sollten einbezogen werden, auf dass sie Ausgang finden aus ihrem Los – als auch für die Aristokraten! Weg von Benimmstunden hin zu Aristoteles und Hume.

Allesamt sollten lernen, selbstständig zu denken! Ob einfacher Arbeiter in den Docks oder Lord im Oberhaus. Wählerschaft wie Wählbare müssen im Geiste näher zusammenrücken. Auch moralische Fragen sollten Gegenstand eines lebenslangen Bildungsweges sein. Welche Umgangskultur pflegen wir? Welche Auswirkungen hat unser Handeln auf unsere Mitmenschen und die Natur? Nur, wenn die nötigen Reformen geschehen, können eingefahrene Wege verlassen und wilde, neue Pfade erschlossen werden. Nur so kann alles Elend beseitigt werden, welches unser modernes Leben über uns selbst und über die Natur bringt! Malum est consilium, quod mutari non potest – schlecht ist ein Plan, der sich nicht ändern lässt. Wir müssen uns lösen, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, um es mit Kant zu sagen.“ Mein Herz klopfte. Doch Zweifel ließen es hinken.

„Bravo, Holmes“, rief ich, „Das ist eine wunderbare Utopie. Doch wie in aller Welt soll sie Wirklichkeit werden?“

„Es braucht echten Mut, die breiten, bequemen Straßen zu verlassen, Watson. Der Fokus sollte neu ausgerichtet werden und sein Licht breiter gestreut. Ein ‚Weiter so‘ kann sich weder das britische noch irgendein anderes Volk leisten. Wie vieles ist möglich, wenn man nur mit Mut und Verstand anzupacken bereit ist? Sehen Sie, der weltweite Wissensschatz wächst inzwischen so schnell wie seit den Zeiten der alten Griechen nicht mehr. Zudem gibt es nun auch Mittel und Wege, diese immensen Erkenntnisse der Menschheit allgemein zugänglich zu machen: Zeitungen, Magazine, Bücher in nie dagewesenen Auflagen. Wer weiß, welch Innovation die Zukunft noch bereithält, um jedem Einzelnen einen Pfad zu diesem Schatz zu schlagen? Aber was geschieht? Selbst gehobene Kreise befassen sich gewohnheitsmäßig vorrangig mit Banalitäten und erdachten Verschwörungen. Die Menschen sind zu großen Teilen unmündig und das muss sich schleunigst ändern.“ Ich ließ meinen müden Blick ins Whiskeyglas fallen.

„Sei es drum, Watson. Auf mich wird man nicht hören. Derweil werden die sogenannten zivilisierten Nationen ihrer Barbarei frönen. Wenn es eine politische Konstante in den letzten Jahrhunderten gegeben hat, dann die, dass immer erst reagiert wurde, als es fast schon zu spät war.“

„Mögen Sie sich wenigstens diesbezüglich irren, lieber Freund“, setzte ich den Schlusspunkt unter diese erinnerungswürdige Unterhaltung. Nun war es an mir, unsere leeren Gläser noch einmal aufzufüllen.

Mr. Sherlock Holmes äußerste sich, wie bereits angedeutet, selten zu konkreten Sachverhalten von politischem Interesse. Wenn er dies dennoch einmal tat, wie im vorliegenden Fall, dann waren seine Einsichten so konkret und zwingend logisch, dass man sich gewünscht hätte, er selbst hätte ein politisches Amt anzustreben gewagt. Widmet man sich diesem Gedanken allerdings näher, leuchtet rasch ein, dass ganz gewiss keine politische Partei Sherlock Holmes zur Heimat hätte werden können. Zwar war er prinzipiell fähig, Kompromisse einzugehen, jedoch hätte ihm die biblische Menge der zu schluckenden Kröten den Magen verdorben. Seine Ansichten zu verschiedenen Streitpunkten wichen zudem so erheblich von den klassischen Haltungen der etablierten Parteien ab, dass er für jedes Thema eine eigene Partei hätte gründen müssen.

Mein Freund war mutmaßlich der ehrlichste Mensch, den zu kennen ich je das Privileg besaß. Seine Aufrichtigkeit führte ihn aber auch zuverlässig in Konflikt mit anderen Menschen. Dabei verwechselte er aber nie Authentizität mit offener Demütigung – anders als jene, die sich ihrer Ehrlichkeit rühmen, um andere im Zweikampf herabzusetzen. Holmes hielt nicht viel von der Menschheit – weder von der gehobenen Aristokratie, noch vom bildungsfernen Arbeiter. Insofern konnte man bei ihm durchaus von einem Misanthrop sprechen. Gleichzeitig war er aber immerzu bereit, alle Mittel und Kräfte in Bewegung zu setzen, um einen jener ‚kleinen Leute‘ beizustehen, die oben angeführten Mechanismen zum Opfer gefallen waren. Sicher übten die oft fundamentalen Probleme dieser Menschen einen Reiz auf ihn aus. Nicht selten konnte ich bei ihm aber klar und deutlich spüren, wie diese Schicksale ihn berührten. Auf seine ganz eigene Weise war Sherlock Holmes somit ein Philanthrop von Weltrang, auch wenn er sich niemals darüber definiert hätte.

Wir ließen den Abend ruhig ausklingen. Wir waren gesättigt vom reichen, köstlichen Mahl, das wir am frühen Abend mit Mr. und Mrs. Francis Hay Moulton hatten einnehmen dürfen. Ich lehnte mich zurück, Holmes griff endlich nach seiner Geige und ich kam in den Genuss eines privaten Konzerts, bei dem er von Beethoven über Bach schließlich zu eigenen Kompositionen wechselte.

Die weltumspannenden Dinge, welche mir Holmes an jenem Abend auseinandergesetzt hatte, blieben mir fest im Geist verankert. Wenngleich ich schon von Kindesbeinen an von sozialen Belangen geprägte Überzeugungen in mir trug, hatte ich doch seine Argumente aufgesogen wie uralte Wurzeln einen satten Regenschauer. Dies verfehlte auch nicht seine Wirkung auf meinem weiteren Lebensweg. Als ich wenig später meine eigene Praxis eröffnete, pflegte ich nicht nur auch zahlungsunfähige Klienten zu behandeln. Ich ließ auch mehr als einmal einige meiner Kontakte spielen – nebst die meiner Frau – damit Kinder aus prekären Verhältnissen einen Platz in der Schule bekamen. Sonderlich ertragreich war meine Praxis so nie geworden. Jedoch wurde ich unendlich reich an Schätzen des Herzens.

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