Vom Zufall - und anderen Unwahrscheinlichkeiten

In der 28. Ausgabe der 'Niederrheinischen Blätter für Weisheit und Kunst (Ewald & Ewald)' erschien der nun folgende Text aus meiner Feder. Das Kapitel "Exempel für die Anwendung der Bayes‘schen Statistik in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit der Entstehung des Lebens auf der Erde" fehlt dort und sei hier, nebst eines Nachtrags, ergänzt.

Dieser Text soll einerseits das Zufalls-Phänomen physikalisch analysieren, es andererseits aber auch naturphilosophisch einordnen. 


Vom Zufall

und anderen Unwahrscheinlichkeiten



Wort und Begriff

Daß keiner den anderen versteht, daß keiner bei denselben Worten, dasselbe denkt wie der andere, hatte ich schon allzu deutlich eingeseh’n.“1 – Johann Wolfgang von Goethe

Das gesprochene und das geschriebene Wort sind für gewöhnlich Träger eines Begriffes – einer Bedeutung –, der doch oftmals mehr meint, als das Wort auf den ersten Blick vermittelt. So können sich in einem Wort einer Sprache mehrere Begriffe verschiedener Bedeutung verstecken und erst der Kontext macht den intendierten Inhalt deutlich. Ob mit Ball das Sportgerät oder die Tanzveranstaltung gemeint ist, offenbart sich meist erst durch den Zusammenhang. Die Formulierung „Ich sehne mich nach dem Himmel“ kann gleichsam für den Wunsch nach wolkenlosem Wetter stehen wie für eine bedenkliche Todessehnsucht.

Das Wort Zufall wird dieser Logik folgend ebenso verwendet, wenn man Verschiedenes meint. Oftmals finden dieses Wort und der Begriff, den es vermittelt, jedoch zu Unrecht Anwendung. „Was für ein Zufall, dass wir uns gerade hier treffen“, sagte einmal ein Bekannter, den ich völlig unerwartet am Leipziger Hauptbahnhof traf. Aus unser beider Blickwinkel fühlte es sich nach Zufall an, in Wirklichkeit hatte aber die viel allgemeinere gefasste (Un-)Wahrscheinlichkeit gewirkt. Der Zufall führte weder mich noch meinen Bekannten an diesem Tag in diese Stadt. Vielmehr hatten wir beide gute Gründe, genau zu jener Zeit an diesen Ort zu reisen. Lediglich wussten wir nichts von unseren jeweiligen Vorhaben. Damit lag, um es fachsprachlich auszudrücken, lediglich ein Messwertproblem vor. Dass solch ein Ereignis eintritt, ist recht unwahrscheinlich, hat aber nichts mit „Zufall“ zu tun. Hätten wir beide jedes Glied der Kausalkette unserer Reisepläne gekannt, hätte niemand von uns beiden noch von einem Zufall gesprochen – sondern lediglich von einer Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit unseres Zusammentreffens ließe sich demzufolge umso präziser berechnen, je mehr Glieder der Kausalkette bekannt wären. Wirken jedoch Variablen von außen auf diese Kausalketten ein – ein verspäteter Zug, die Umleitung auf ein anderes Gleis, ein Unwohlsein am Morgen – verliert die Aussagekraft der ursprünglichen Wahrscheinlichkeitsberechnung schnell jeden Mehrwert.

Gewiss, der Zufall folgt stochastischen Gesetzmäßigkeiten. Das lässt sich gerade beim Würfelspiel gut beobachten. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem einzelnen Wurf die 3 zu würfeln, beträgt bekanntermaßen ein Sechstel. Beim nächsten Wurf beträgt die Wahrscheinlichkeit wieder ein Sechstel.2 Nach jedem Wurf wird die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen 3 auf den Ausgangswert zurückgesetzt. Eine 3 zu würfeln ist Zufall, ein Zufall jedoch, welcher wahrscheinlichkeitstheoretischen Regeln folgt.

Wenn man dem Begriff nachforscht, relativiert er sich nicht nur, es verengt sich auch dessen Anwendungsbereich. Prinzipiell kann man Zufall als ein Ereignis definieren, das scheinbar keinen kausalen Grund aufweist. Scheinbar: Denn oftmals unterliegt man einem Irrtum, wenn man zufällige Ereignisse auszumachen meint.

Gerade jetzt, da ich in aller Ruhe und konzentriert auf das Wesentliche diesen Text schreiben möchte, stoße ich mein Weinglas um. Ich muss die Pfütze aufwischen, den Boden nach Scherben absuchen und nach alledem habe ich den gedanklichen Faden wieder verloren. Ein zufälliges Missgeschick – scheinbar. In Wirklichkeit gab es jedoch Faktoren, die diesen ärgerlichen Vorfall wahrscheinlicher gemacht haben. Das Glas habe ich rechts auf den Schreibtisch gestellt, dort wo ich sämtliches Recherchematerial lagere – Bücher, Ausdrucke und Notizhefte. Zudem stellte ich es nah an die Kante. Im Zimmer ist es sehr dunkel und zu allem Übel bin ich oftmals ein Tollpatsch. Es war also eine Sache der Wahrscheinlichkeit, dieses vermaledeite Glas umzuwerfen, keineswegs ein bloßer Zufall.

In Psychologie, Soziologie, Philosophie, Rechtswissenschaft, Meteorologie, Mathematik, Spieltheorie und in der Physik beschäftigt man sich seit langem mit der grundsätzlichen Frage, ob sich einzelne Ereignisse oder auch gleich das gesamte Universum tatsächlich über den Zufall beschreiben lassen – oder aber umgekehrt die Welt einem strengen Determinismus folgt, der jedweden Zufall ausschließt. Wie aber sähe ein Universum aus, in dem alle Dinge vorherbestimmt sind?

Die determinierte Welt

Alles ist vorherbestimmt, Anfang wie Ende, durch Kräfte, über die wir keine Gewalt haben. Es ist vorherbestimmt für Insekt nicht anders wie für Stern. Die menschlichen Wesen, Pflanzen oder der Staub, wir alle tanzen nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in den Fernen des Weltalls anstimmt.“3 – Albert Einstein

In einem vollständig vorherbestimmten Universum geschähe nichts – auch nicht das Würfeln einer 3 – aus purem Zufall. Das konkrete Auftreten eines zufälligen Ereignisses ist hier nichts anderes als die Folge eines im Moment ungeläufigen kausalen Zusammenhangs. Selbst die Zufälle, welche die Mathematik über die Stochastik impliziert, wären lediglich Wirkungen eines unbekannten kausalen Apparats.

Die Auswirkungen einer vollständig determiniert beschriebenen Existenz auf das naturwissenschaftliche Weltbild wären beachtlich. Die Mathematik würde noch über Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik hinaus viel von ihrer Allgemeingültigkeit einbüßen. Und wenn die Naturkräfte vollständig bestimmt sind, wie verhält es sich dann mit den zahlreichen Gegenständen, die Teil des Universums sind? Wenn man diesen Determinismus von der objektiven auf die geistige Welt gemäß Cartesischen Dualismus überträgt4: Wie wäre es zum Exempel um den freien Willen des Menschen bestellt?

In einer vollständig determinierten Welt gäbe es keine Zufälle. Einem jeden Ereignis, das anfangs zufällig erscheint, läge ein kausaler Zusammenhang zugrunde und das Zustandekommen des Ereignisses wäre mit ausreichenden Informationen über jene Kausalzusammenhänge vorhersagbar, gar zwangsläufig. Sollte dieses Prinzip auch auf den menschlichen Geist und dem freien Willen Anwendung finden, hätte dies zur Folge, dass bspw. der Erlösungsgedanke der Christenheit zum Nonsens degradiert würde – denn die Sünde wäre ebenso vorherbestimmt gewesen wie die Erlösung. Auch würde eine jede gute Tat, die ein Mensch einem anderen tut, viel von ihrem Wert verlieren – genauso wäre das Böse nur Teil des zugrundeliegenden determinierten Systems und würde damit quasi aufhören zu existieren.

Somit wirkt sich ein umfassend vorherbestimmtes Universum nicht nur stark auf unser naturwissenschaftliches Weltbild aus, sondern unterminiert auch im wesentlichen Maße die meisten philosophischen Disziplinen und zahllose religiöse Eschatologien. Enger gefasst berührt ein determiniertes Weltbild auch den Gedanken vom Lebenssinn des Einzelnen ebenso, wie es eine vollständig indeterminierte Auffassung tut. Eine Welt, die vollständig auf kausalen Zusammenhängen fußt, lässt nicht nur den freien Willen des Individuums nicht zu, sie macht damit auch dessen Streben nach Fortschritt und persönlicher Erfüllung obsolet.

Im Vorwort der Essai philosophique sur les probabilités beschreibt Pierre-Simon Laplace 1814 den Grundgedanken seines deterministischen Weltbildes wie folgt: „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzten, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen“.5 Dieser These und dem naturphilosophischen Zeitgeist des XIX. Jahrhunderts gemäß existierten im Universum keinerlei Zufälle. Alle Ereignisse seien kausal mit anderen Ereignissen verknüpft. Lediglich die mangelnde Kenntnis der ursachengebenden Faktoren ließen ein Ereignis zufällig erscheinen, das doch in Wirklichkeit nur Ergebnis von Kausalzusammenhängen ist, die dem Betrachter ganz oder teilweise verborgen seien.

Mit dem Ausgang des XIX. und vor allem zu Beginn des XX. Jahrhunderts bekam die Weltsicht Laplaces und seiner Vorgänger6 jedoch erhebliche Dellen. Laplaces Gedankenexperiment begann – einem Dämon gleich – mehr Chaos als Ordnung zu schaffen. Der Laplacesche Dämon erfordert bereits für drei zu beobachtende Objekte den Entwurf aufwendiger Differenzialgleichungssysteme, um deren Ort und Impuls7 in Interaktion miteinander auch nur näherungsweise zu bestimmen. Erwähnte benötigte Differenzialgleichungssysteme sind die ausschlaggebenden Werkzeuge, um verschiedene physikalische Größen in ein kohärentes Verhältnis zu setzen. Diese Systeme suchen die Funktion einer oder beliebig vieler Variablen. Genau hier liegt die größte Schwierigkeit im Bestreben, sämtliche Zustände auch nur eines äußerst begrenzten Bezugssystems gleichzeitig zu erfassen. Laplaces Gedankenexperiment wird hier zum Dämon, weil die Summe an Variablen im gesamten Universum derart riesig ist, dass die Lösungen (Funktionen) von Differenzialgleichungssystemen lediglich Näherungswerte liefern würden, selbst wenn alle gegenwärtigen Lokalisierungen und Maße sämtlicher Teilchen und Kräfte des Kosmos bekannt wären. In Wahrheit versagen sie bereits bei wenigen komplexen Observablen8 beinahe vollständig.

Im Wesentlichen begründet sich die Unmöglichkeit einer genauen Kenntnis über alle gegenwärtigen Vorgänge im Universum – woraus sich laut Laplace sowohl die vergangenen als auch die zukünftigen erschließen ließen – in der 1927 von Werner Heisenberg postulierten Unschärferelation. Diese besagt, dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig genau bestimmbar sind. Je genauer beispielsweise der Impuls eines Teilchens bestimmt wird, wird dessen Lokalisierung immer schwieriger und unschärfer – umgekehrt verhält es sich ebenso. Hierdurch fand Heisenberg auch die Begründung für die scheinbaren Probleme oben genannter Differenzialgleichungssysteme. Dass beispielsweise Ort und Impuls eines Teilchens nicht zur selben Zeit gleichzeitig exakt erfassbar sind, liegt weder an Messungenauigkeiten noch an mathematischen Unzulänglichkeiten: Es liegt an der Natur des Universums selbst!

In der Unschärferelation kommt auch der Wellencharakter der Teilchen zum Ausdruck. Viele Menschen lernten zum Exempel einst in der Schule, dass Elektronen den Atomkern in klar definierten Bahnen umkreisen – vergleichbar mit Planeten im Orbit um ihr Zentralgestirn. Dieses Bild trifft jedoch keineswegs zu. In Wirklichkeit bewegen sich Elektronen als eine Wahrscheinlichkeitswelle innerhalb einer Art Wahrscheinlichkeitswolke9 um den Atomkern. Das 10-19 m kleine Elektron befindet sich bereits im Geltungsbereich der Quantenphysik.10 Hier greifen die Gesetze der klassischen Physik nicht mehr. Gleichzeitige (Vor-)Aussagen, beispielsweise über Ort und Impuls des Elektrons, sind nicht mehr möglich. Diese Eigenschaften scheinen nur noch zufällige Werte anzunehmen, berechenbare Muster sind nicht zu erkennen. Der Unbestimmtheit der komplementären Eigenschaften des Elektrons ist es allerdings zu verdanken, dass es nicht rasch in den Atomkern stürzt. Einerseits bindet die elektromagnetische Kraft das Elektron an den Kern. Gemäß der klassischen Physik müsste es aufgrund seiner geringeren Masse und entgegengesetzten Ladung im Vergleich zum Atomkern jedoch zeitnah11 zur Kollision kommen. Doch aufgrund der speziellen Verteilung der Wahrscheinlichkeitswelle, als die sich das Elektron bewegt, wir es mit zunehmender Nähe zum Atomkern stärker beschleunigt. So erhält es zu jeder Zeit genug Energie, um den positiv geladenen Protonen des Kerns zu entfliehen. Der Zufall – besser gesagt, die Unbestimmtheit – spielt auch beim Kernfusionsprozess in Sternen eine tragende Rolle. Nur durch die Unbestimmtheit ist es möglich, dass zwei positiv geladene Protonen sich so nah kommen können, dass sie aus dem Bereich der elektromagnetischen Kraft in den Geltungsbereich einer anderen Fundamentalkraft geraten, nämlich der starken Kernkraft. Somit kann Kernfusion nur stattfinden, wenn man eine gewisse Unbestimmtheit auf Quantenebene voraussetzt. Die Existenz sämtlicher Elemente oberhalb von einfachem Wasserstoff sowie die prinzipielle Möglichkeit der Bildung von stabilen Atomen ist demzufolge nur möglich aufgrund von Zufallsverteilungen von Elementarteilchen und Quantenzuständen unterhalb von 10-12 m.

Eine vollständig determinierte Welt ist aus physikalischer Sicht demnach nicht möglich und durch empirische Forschung zweifelsfrei widerlegt. Handelt es sich bei besagten Unbestimmtheiten um wirkliche Zufälligkeiten oder fehlt es hier bisher lediglich an ausreichenden Informationen?

Die indeterminierte Welt

Der Zufall spielt bei den Weisen eine unbedeutende Rolle; das Größte und Wichtigste ordnet er seine ganze Lebenszeit hindurch mit seinem Verstande.“12Epikur

Zusätzlich zu den behandelten Hinderungsgründen wie Dreikörperproblem13 und Heisenbergscher Unbestimmtheitsrelation wären gegen Laplaces Dämon und auch vergleichbare Postulate einer vorherbestimmten, zufallsfreien und umfassend vorhersagbaren Welt noch zwei weitere Argumente ins Feld zu führen.

Zum einen ist da eine Konsequenz zu erwähnen, die aus Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie von 1905 hervorgeht: Die Lichtgeschwindigkeit ist die schnellstmögliche Informationsübertragung, die im Kosmos möglich ist. Alle Informationen über das Universum in einem Moment zu erfassen, widerspricht damit der bestens belegten speziellen Relativitätstheorie. Freilich widerlegt dieser Umstand lediglich den Dämon, nicht aber zwingend eine determinierte Welt.

Des Weiteren ergibt sich aus der zunehmenden Entropie des Universums, die aus den Erkenntnissen der Chaostheorie resultiert, ein nicht zu überwindendes Problem für Laplaces Idee. Systeme werden umso komplexer und chaotischer, je mehr Teilchen sie enthalten und je stärker Energien darin wirken. Die Werte werden durch die exponentiell ansteigenden Variationen derart komplex, dass eine Berechnung bald der Realität nachstehen würde.

Das Elektron, welches bereits Gegenstand unseres Interesses war, soll auch ein weiteres Unbestimmtheitsphänomen der Quantenphysik illustrieren. Um ein Teilchen zu untersuchen, das bei quantenphysikalischer Betrachtung ja ebenso eine Welle ist, benötigt man Strahlung, deren Wellenlänge kleiner ist als die des Elektrons. Strahlungen mit kleinen Wellenlängen sind gleichbedeutend mit hohen Frequenzen und damit verbundenen hohen Energien. Die zur näheren Untersuchung eines Elektrons benötigte Energie beeinflusst das Teilchen selbst erheblich und vergrößert damit die schon vorhandene Unbestimmtheit zusätzlich. Man wirft sinnbildlich einen Ziegelstein in den See, um die Welle zu untersuchen, die vorher von einem Kiesel verursacht wurde.

Der Indeterminismus auf Quantenebene ermöglicht das Funktionieren des kausal einwandfrei konzipierten Einstein‘schen Kosmos. Ohne die Unbestimmtheiten gäbe es unser Universum nicht in seiner jetzigen Form. Ohne die Bildung von Atomen und ohne Kernfusion wären weder Gase, Sterne, Planeten oder gar das Leben entstanden.

Wo liegt nun der physikalische Unterschied zwischen Unbestimmtheit (Unschärfe) und blankem Zufall? Streng genommen gibt es keinen Unterschied. Das Würfeln der 3 folgt ebenso wie die möglichst exakte Lokalisierung eines Elektrons14, einer definierbaren Wahrscheinlichkeit. Innerhalb der Einstein’schen Physik existieren Zufälle, die gewissen mathematischen Wahrscheinlichkeiten folgen, welche durch den Rahmen der Naturgesetze festgelegt sind. Je häufiger man würfelt, desto präziser – bestimmter – nähert man sich der Aussage, dass die Wahrscheinlichkeit eine 3 zu würfeln bei 16,667 % liegt. Würfelt man etwa nur sechsmal, könnte die 3 gar nicht oder auch mehrmals vorkommen. Die Behauptung, dass die Wahrscheinlichkeit, bei einem Zug eine 3 zu würfeln, ein Sechstel beträgt, ist also nur eine mathematische Aussage – dem axiomatischen Wahrscheinlichkeitsbegriff entsprechend ist sie für sich genommen jedoch keine Tatsache, die sich unter allen Umständen mit der Erfahrung deckt. Je weniger gewürfelt wird, desto unbestimmter lässt sich die Aussage über die Wahrscheinlichkeit, eine 3 zu würfeln, belegen.

Mit Würfeln lässt sich die Analogie zu einer weiteren Relativierung scheinbarer Zufallsereignisse herstellen. Verdanken wir es dem reinen Zufall, ein bestimmtes Auge zu würfeln? Nun, der Mensch, der zum Wurf ansetzt, nimmt den Würfel auf eine bestimmte Art in die Hand: Der eine schließt sie zur Faust, der andere klemmt seinen Würfel vielleicht locker zwischen drei Finger. Ein Spieler holt weit aus, ein anderer lässt den Würfel quasi fallen. Welches Auge zeigt in der Hand nach oben? Wie viel Drall bekommt der Körper? Ist er perfekt ausbalanciert oder gezinkt? Könnte man all jene Faktoren genau beeinflussen, wäre man ebenso in der Lage, bestimmte Werte gehäuft oder mit zunehmender Präzision zu würfeln oder gar vorherzusagen. Freilich ist ein Mensch zu einer derartigen Exaktheit kaum in der Lage. An hierzu notwendigen komplexen Berechnungen würden sicher auch hochentwickelte Maschinen ewig hantieren. Grundsätzlich denkbar ist es jedoch. Je weiter man also in einen scheinbaren Zufallsprozess hineinschaut, desto mehr wird der Zufallsbegriff relativiert und gewinnt an Schärfe; desto stärker offenbart sich der Zufall als unheimlich komplexe Wahrscheinlichkeitsfunktion, die kausalen Zusammenhängen folgt. Der Begriff zeigt sich somit in mehrerlei Dimension. Wir sprechen demzufolge beim Alltagserleben in Wirklichkeit von Unbestimmtheiten und Wahrscheinlichkeiten, wenn von Zufällen die Rede ist. Aufgrund der komplexen Struktur dynamischer Prozesse vermögen es laut klassischer Auffassung lediglich Wiederholungen – gemäß dem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs – Wahrscheinlichkeiten experimentell näher zu bestimmen.

Wiederholungen helfen jedoch im quantenphysikalischen Kontext keineswegs, die Unbestimmtheiten zu verkleinern. Diese Unbestimmtheiten sind vielmehr wie Naturkonstanten im Allerkleinsten, die es den größeren Einstein‘schen Kräften ermöglichen, einwandfrei zu funktionieren. Folgt man der Definition, Zufälle wären Wirkungen, denen keine kausalen Ursachen zugrundliegen, sollte man sich vom Zufallsbegriff verabschieden, wenn man nicht gerade eine semantische Diskussion vom Zaun brechen möchte. Allerdings: Was ein Mensch subjektiv als Zufall empfindet, hat wenig mit der physikalischen Begriffsbestimmung gemein, wie eingangs illustriert. Der Aussage „Wir leben in einer in weiten Teilen unbestimmten Welt“ ist jedoch nichts Stichhaltiges entgegenzusetzen. Denn, was oft unter Zufall zusammengefasst wird, entspricht in Wahrheit mehr Begriffen wie Wahrscheinlichkeit, Unschärfe oder Unbestimmtheit.

Ob es sich bei den Quantenvorgängen unterhalb von 10-12 m zugrunde liegenden diversen Vorgängen um regelrechte Zufälle, also nichtkausale Ereignisse handelt, ist aufgrund der oben beschriebenen Unschärfen und Messbeeinträchtigungen nicht eindeutig zu klären. Allein aber die Tatsache, dass das Elektron eben nicht in den Atomkern stürzt, sondern an Energie gewinnt und seine Bahn hält, wenn es ihm zu nah kommt, legt die Vermutung nahe, dass die Wahrscheinlichkeitswelle des Elektrons klar definierten Gesetzmäßigkeiten folgt: Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, nicht des Zufalls – ein Universum, das Wahrscheinlichkeiten unterliegt, ist im Umkehrschluss weder indeterminiert noch determiniert; Letzteres lediglich bezüglich der Naturgesetze, die den Prozessen im Kosmos ihren Rahmen geben.

Wahrscheinlichkeitsbegriffe

Es ist eine alte Maxime von mir, daß das, was übrigbleibt, wenn man das Unmögliche ausgeschieden hat, die Wahrheit sein muß, so unwahrscheinlich es auch scheinen mag.15– Arthur Conan Doyle

Es wurde festgestellt, dass es echte Zufälle – im Sinne von Ereignissen ohne kausalen Grund –, nicht gibt und vielmehr von Wahrscheinlichkeiten oder auch Unwahrscheinlichkeiten gesprochen werden sollte. Jetzt werden unterschiedliche bedeutende Wahrscheinlichkeitsbegriffe dargelegt. Die Kategorien, nach denen hier unterteilt wird, sind allerdings nicht einheitlich und weichen in Benennung und Abgrenzung je nach Quelle voneinander ab.

Die älteste Wahrscheinlichkeitsauffassung ist der Laplacesche Wahrscheinlichkeitsbegriff. Er definiert die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses ℙ(A) als Quotient einer Menge A durch die Anzahl der Elemente von Ω:

(A) = #A / #Ω = Anzahl günstiger Fälle / Anzahl möglicher Fälle.

Für die Anwendung dieses klassischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs müssen jedoch zwei Bedingungen erfüllt sein, die seine Nützlichkeit enorm einschränken:

  1. Die Ergebnismenge Ω hat endlich viele Elemente.

  2. Alle Elementarergebnisse der Ergebnismenge Ω sind gleichwahrscheinlich.

Den Methoden dieses Begriffs zufolge ist es nicht möglich, beispielsweise die Wahrscheinlichkeit für abzählbar unendliche Ereignisse zu berechnen, weswegen andere Begriffe und Methoden benötigt werden.

Der heutzutage gebräuchlichste Begriff ist der objektivistische, auch frequentistischer Wahrscheinlichkeitsbegriff. Dieser stochastischen Interpretation folgt man auch, wenn man die Wahrscheinlichkeiten beim Würfeln oder beim Lottospiel berechnet. Der frequentistische Ansatz definiert die Wahrscheinlichkeit für ein spezifisches Ereignis über die relative Häufigkeit, wie dieses auftritt. Hierzu sind in aller Regel Zufallsexperimente – wie andauerndes Würfeln – vonnöten. Innerhalb der Statistik kommt diesem Wahrscheinlichkeitsbegriff eine große Bedeutung zu. Um allerdings über die mathematische Berechnung hinaus belastbare Ergebnisse zu erhalten, müssen die Zufallsexperimente – oder auch Umfragen – häufig und voneinander unabhängig wiederholt oder die Ergebnisse kumuliert werden. Analysen auf Basis dieses Wahrscheinlichkeitsbegriffs sind nur aussagekräftig, insofern sie sich weder exakten Berechnungen noch empirischen Zufallsexperimenten entziehen. Mit Unbekannten kann mittels des frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff kaum gearbeitet werden. Lediglich eine Unterkategorie desselben, die Propensitätstheorie, bemisst und interpretiert mittels Wahrscheinlichkeit die Neigung von Prozessen, zu einem bestimmten Ergebnis zu kommen. Besonders in der Nuklearphysik findet die Propensitätstheorie Anwendung, wenn unabhängig voneinander der Zerfall einzelner Atomkerne gemessen werden soll.

Ein in weiten Teilen dem frequentistischen Ansatz entgegengesetzter Wahrscheinlichkeitsbegriff ist jener nach Thomas Bayes16. Der Bayes‘sche Wahrscheinlichkeitsbegriff – auch subjektivistische Wahrscheinlichkeitsauffassung – denkt die Sache vom Subjekt, aus Sicht eines Erwartenden. Diese Auffassung arbeitet nicht mit empirischen Experimenten. Vielmehr wird der Eintritt eines bestimmten Ereignisses bestmöglich anhand von Erfahrungen, vorliegenden Daten und Expertise „vorhergesagt“: eine a priori-Methode, die sich auch mathematischer Berechnungen bedient. Wahrscheinlichkeitshypothesen, die so zustande kommen, können durch präzisere Informationen über maßgebende Faktoren verbessert werden. Beispielsweise die Berechnung der Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich auf der Ur-Erde vor Milliarden Jahren einzelne Aminocarbonsäuren17 haben bilden können – die Entstehung des Lebens –, berührt diesen Begriff und seine Methoden. Darauf soll später noch genauer eingegangen werden.

Grundlegende Bedeutung für die maximale Präzision von Wahrscheinlichkeitsaussagen dieser Kategorie hat die Minimierung von Unbekannten und Variablen. Je umfänglicher ein System und seine Bestandteile bekannt sind, desto höheren Wert hat die auf diese Weise aufgestellte Wahrscheinlichkeitshypothese.

Ein weiterer Wahrscheinlichkeitsbegriff ist der axiomatische, der in der Mathematik zum Einsatz kommt. Hier wird mittels axiomatischer Kategorien einem jeden Ereignis eine gewisse Wahrscheinlichkeit mittels einer Reihe von Formel-Axiomen zugeordnet. Innerhalb von mathematischen Systemen funktioniert dieser Ansatz recht gut, wenngleich er bei der Untersuchung erfahrungsgebundener Wahrscheinlichkeiten schnell an seine Grenzen stößt. Berechnen zu können, dass die Wahrscheinlichkeit, eine 3 zu würfeln bei 16,667 % liegt, sagt eben noch nichts darüber aus, ob und wann man sich diesem Wert nähert, wenn man es experimentell nachzuweisen sucht.

Es existieren drei vom russischen Mathematiker Andrei Kolmogorov festgelegte Axiome der Wahrscheinlichkeitstheorie:

  1. Die Wahrscheinlichkeit eines jeden Ergebnisses liegt zwischen 0 und 1 (beide Zahlenwerte sind dabei inkludiert). Wahrscheinlichkeiten größer oder kleiner als innerhalb dieses Bereichs sind nicht möglich.

  2. Ein jedes Zufallsexperiment muss ein Ergebnis haben können.

  3. Die Wahrscheinlichkeit ℙ, dass eines von zwei möglichen Ergebnissen E1, E2 eintritt, entspricht der Summe der Wahrscheinlichkeiten beider möglicher Ergebnisse: ℙ(E1 oder E2) = ℙ(E1) + ℙ(E2). Beide Ergebnisse müssen sich dabei gegenseitig ausschließen.

Die letzte hier zu nennende Wahrscheinlichkeitsauffassung ist diejenige, die in der vormals genannten Welt des Allerkleinsten Anwendung findet: der quantenmechanische Wahrscheinlichkeitsbegriff. Zum Exempel: Um den Ort eines nichtrelativistischen Teilchens zu bestimmen, muss die Wellenfunktion des Teilchens als fundamentale Beschreibung desselben aufgefasst werden. Die Wahrscheinlichkeit, ein solches Teilchen an einem bestimmten Ort anzutreffen, wird dabei mithilfe der Integration der Wahrscheinlichkeitsdichte18 über den Bereich ermittelt, indem es sich befinden kann. In der quantenphysikalischen Definition einer Wahrscheinlichkeit erfolgt auch die Zusammenführung von objektivistischer und subjektivistischer Wahrscheinlichkeitsauffassung. Die Annahmen des Subjekts (Beobachter) nehmen Einfluss auf die statistische (objektive) Wahrscheinlichkeitsverteilung der examinierten Teilchen. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung wirkt sich wiederum auf die Annahmen und Schlussfolgerungen des Beobachters aus, der aufgrund der vormals beschriebenen Unschärfe nun andere Observablen weniger scharf bestimmen kann.

Exempel für die Anwendung der Bayes‘schen Statistik in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit der Entstehung des Lebens auf der Erde

Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick!“19 – Johann Wolfgang von Goethe

Wissenschaftsferne Gruppen oder Einzelpersonen – etwa fundamentale Kreationisten – die sich daran versuchen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse derart zu verzerren, um sie ihrer Ideologie anzupassen – bemühen oft paradoxerweise Wahrscheinlichkeitsberechnungen, um auf die vermeintlich extreme Unwahrscheinlichkeit einer Entwicklung spontanen Lebens aus unbelebter Materie hinzuweisen20. Zum Teil geschieht das aus mangelndem Verständnis, oftmals aber auch mit Absicht. Dadurch kommen teils Werte absurder Unwahrscheinlichkeiten zustande.21 Solche Resultate entstehen, wenn man falsche Methoden zur Berechnung heranzieht, denen unpassende Wahrscheinlichkeitsbegriffe folgen. Auch kommt den Kreationisten zupass, dass sie die Evolutionslehre und ihre intrinsischen Prozesse gleich rundheraus mit ablehnen und so die molekularbiologischen Erkenntnisse über die mittlerweile gut erforschten Vorgänge, nicht in ihre tendenziösen Erörterungen inkludieren müssen. Wer so zum Exempel die Fähigkeit zur selektiven Mutation von Zellen und Organismen rundweg nicht anerkennt – auch wenn die Forschung das genaue Gegenteil aufzeigt – wird derartige Vorgänge bei seiner Analyse außen vor lassen. Spätestens seit der gründlichen Erforschung des Erbguts von Mensch, Tier und anderer Organismen – Geburt der Genetik – ist die Evolution als Ganzes nicht mehr ernsthaft anzufechten. Lediglich zahlreiche spezifische Segmente und ganz klar die Frage nach einer möglichen Intentionalität innerhalb evolutionärer Vorgänge gilt es noch zu klären. Für letzteren Gedanken würde man sich mehr Empfänglichkeit innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde wünschen.

Den Apologeten des deterministischen Kreationismus unterlaufen bei ihren Rösselsprüngen zwei grundsätzliche Fehler: Zum einen beanspruchen sie, die Schöpfungsgeschichte – Grundlage ihrer Überzeugung – richtig zu verstehen, um sie dann „wörtlich“ zu nehmen. Den Kontext sowie den historisch-kulturellen Unterbau der biblischen Schöpfungsgeschichte lassen sie dabei oft außer Acht, um den Inhalt nicht zu verwässern. Um die Genesis-Erzählung von der Erschaffung der Welt und des Lebens zu begreifen, lässt der Kreationismus genannte historisch-kulturelle Bezüge und die hebräischen Alttexte weitgehend außen vor. Beinahe jeder liest sie im Spiegel eigener kultureller und gesellschaftlicher Prägung sowie verändert durch die eigene Sprache. Zudem begreifen Kreationisten die betreffenden Passagen aus einer materiellen Weltsicht; nicht im Rahmen einer funktionellen Ontologie, wie sie im Vorderen Orient zur Zeit der Niederschrift vorherrschte.22 Die Welt und ihre Bestandteile wurden damals nicht aus Perspektive ihrer materiellen Beschaffenheit wahrgenommen, sondern bezüglich ihrer Funktion. Weil der Schöpfungsgeschichte zufolge Sonne, Mond und Sterne erst nach der Erde erschaffen worden sind23, sehen sich christlich orientierte Kreationisten oft genötigt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema anzufechten, da diese offenbar in einem Widerspruch zum Bibeltext stehen: Ein Trugschluss aufgrund der eigenen, kulturell bedingten materiellen Weltsicht! Interpretiert man die Genesis-Erzählung in einem zur Zeit ihrer Niederschrift vorherrschenden Weltverständnis, spannte sich der Kosmos aus Sicht des imaginierten irdischen Beobachters tatsächlich erst nach der Entstehung der Erde auf. Vorher bedeckte eine dichte CO2-Atmosphäre den Himmel. Aus Perspektive des irdischen Zeitzeugen hätten Sonne, Mond und Sterne tatsächlich erst lange nach der Entstehung des Planeten ihre Funktion übernommen. So hätten sie im Lichte des antiken Zeitgeists erst zu existieren begonnen, obwohl sie natürlich schon längst existierten. Somit lassen sich die Kreationisten eine wunderbare Gelegenheit entgehen, einen Hinweis für die göttliche Inspiration der Genesis zu erkennen. Denn vor vier Milliarden Jahren gab es bekanntlich keine menschlichen Betrachter auf der Erde. Das Wissen, welches diese und andere Passagen der Schöpfungsgeschichte vermitteln, konnte ein Mensch der Frühgeschichte oder Antike eigentlich nicht haben.

Der zweite offensichtliche Fehler in der Argumentation, Leben hätte sich nicht ohne äußere Einflussnahme aus unbelebter Materie entwickeln können, ist das mangelnde Verständnis über Wahrscheinlichkeitsbegriffe und die Verwechslung von Zufall und Wahrscheinlichkeit, was eingangs bereits erläutert wurde. Despektierlich wird die Möglichkeit der Entstehung des Lebens entweder als purer Zufall dargestellt – was natürlich nicht mit einem plan- und absichtsvollen Schöpfergott zu vereinbaren ist – oder aber es werden stochastische Methoden angewendet, die wenig imstande sind, valide Aussagen über die Wahrscheinlichkeit der Lebensentstehung zu treffen.

Wollen wir die Frage bearbeiten, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Entstehung von belebter aus unbelebter Materie ist, müssen viele verschiedene Faktoren unter einen Hut gebracht werden. Die Wissenschaft kann nicht exakt benennen, welche Umwelt- und allgemeinen Rahmenbedingungen vorherrschten, als sich beispielsweise die ersten Aminocarbonsäuren oder daraus wiederum die ersten Proteine bildeten. Daher ist die Verwendung stochastischer Methoden, die dem frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff folgen, unangebracht. Dieser wird jedoch oft angewendet, obwohl viele für die objektivistische Wahrscheinlichkeitsberechnung notwendige Faktoren nicht ausreichend bestimmbar sind. Wie bereits erörtert, ergeben frequentistische Methoden nur dann Sinn, wenn die Analyse Zufallsexperimenten zugänglich ist. Diese Experimente sind jedoch nur dann seriös, wenn es klar definierte Rahmenbedingungen gibt – so wie beim Würfeln. Mit Variablen und Unbekannten jedoch kann eine frequentistische Methode nicht umgehen. Hier impliziert man einen ganz bestimmten Ort und Zeitpunkt für die Entstehung ersten Lebens und weist allen möglichen nicht genau bestimmbaren Faktoren willkürliche Werte zu – so zum Beispiel Wassertemperatur, atmosphärischer Druck, Einwirkung von Elektrizität, Anzahl und Verteilung von Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Stickstoffatomen, Reaktionsvermögen uvm. Auch wird bei dieser Methode lediglich die Höhe jener Wahrscheinlichkeit bemessen, mit der dieses einzelne in seinen Voraussetzungen eher willkürlich unterfütterte Ereignis einmalig eintritt. Außer Acht gelassen werden dabei zum Beispiel dynamische Veränderungen der Richtgrößen, Variablen und Unbekannte, Teilerfolge bei der Molekülbildung sowie die Möglichkeit, dass maßgebende Ereignisse an zahlreichen Orten und innerhalb eines langen Zeitraums stattfinden könnten.

Mittel der Wahl zur Wahrscheinlichkeitsberechnung eines Ereignisses, das innerhalb nur näherungsweise bekannter Umstände vor langer Zeit stattgefunden hat, ist eine a priori-Methode nach dem Wahrscheinlichkeitsbegriff von Bayes. Diese Methoden beziehen Variablen und Unsicherheiten ein und ermöglichen die brauchbare Berechnung der Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Ereignis unter bestimmten, teils variablen Umständen, in einer definierten Zeit eintritt.

Der Astronom David Kipping, der an der New Yorker Columbia University lehrt und forscht, ging 2020 in einer Arbeit der Frage nach, wie wahrscheinlich die Entwicklung von Leben und insbesondere intelligenten Lebens auf der Erde war. Mittels Methoden der Bayes‘schen Statistik ging es um die Ausgangsfrage, wie wahrscheinlich sich die irdische Evolutionsgeschichte unter denselben Konditionen wiederholen würde. Im Gegensatz zu Verfahrensweisen, die innerhalb frequentistischer oder axiomatischer Wahrscheinlichkeitsbegriffe Anwendung finden, vermag eine Bayes‘sche Analyse sehr wohl, mit oben genannten Veränderlichen umzugehen. Innerhalb dieser Methode werden anhand von vorhandenen geologischen, geophysikalischen sowie chemischen Erkenntnissen einzelnen Observablen sinnvolle Werte zugeordnet. Mithilfe dieser Werte lässt sich die Wahrscheinlichkeitsfunktion speisen und ermitteln, wann wenigstens ein Abiogenese-Ereignis24 XL = > 0, innerhalb welchen Zeitintervalls tL eintreten wird. Daraus ergibt sich schließlich eine kumulative Wahrscheinlichkeitsverteilung, die sowohl den Zeitraum als auch die Wahrscheinlichkeit einer einzelnen Abiogenese zu jedem möglichen Zeitpunkt innerhalb des eingestellten Korridors abbilden kann. Weiterhin macht sich die von Kipping angewandte Methodik auch Algorithmen zunutze, die bei der Berechnung von Wettwahrscheinlichkeiten Verwendung finden – ebenfalls im Bayes‘schen Spektrum: „Sie erlaubt ein wiederholtes Testen ausgehend von bestehenden Daten. Im Prinzip ist es wie eine positive Rückkopplungsschleife, die die Schätzung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses immer weiter verfeinert“25, so Kipping.

Der Autor der vorliegenden Arbeit gesteht dabei ein, dass es mittels der vorgenommenen Bayes‘schen Analyse schwierig ist, die Wahrscheinlichkeit der Abiogenese abzuschätzen. Es wurde jedoch versucht, dieses Problem zu umgehen – mittels Proben, die sich eine mehrmalige Rekalibrierung der evolutionären Zeitskalen zunutze machen. Neuere Forschungsergebnisse legen zugleich nahe, dass die ersten Aminocarbonsäuren sehr viel leichter hatten entstehen können als bisher angenommen. Ramanarayanan Krishnamurthy, Sunil Pulletikurti und ihre Arbeitsgruppe vom kalifornischen Scripps Research Institute legten im Juli 2022 in ihrer Arbeit26 nahe, dass die für die ersten Aminocarbonsäuren nötigen Rohstoffe Cyanide, Kohlenstoffdioxid und Ammoniak als Ketocarbonsäuren vorlagen. Ketocarbonsäuren spielen im Zellstoffwechsel eine große Rolle, weswegen die Vermutung naheliegt, dass sie auch an der Entstehung des Lebens beteiligt waren. Ketocarbonsäuren enthalten eine zusätzliche Gruppe Sauerstoff und sind damit reaktiver als Moleküle, denen diese Ketogruppe fehlt. Dass diese auf der Erde des späten Hadaikum27 vorkamen, ist anzunehmen. Die Forschergruppe legte zudem den Grundstein für einen Chemiezweig, der einen Übergang von der präbiotischen zur organischen Chemie bilden kann.

Dank der Bayes‘schen Analyse aus der Arbeit Kippings konnten die Verzerrungen und Unsicherheiten als dynamische Größen in jenen Referenzrahmen inkludiert werden, der als Gerüst der Abhandlung dient. Somit war es möglich, zahlreiche Faktoren in die Analyse einzubeziehen und die einzelnen Werte aufeinander abzustimmen. Resultat der Analyse Kippings war eine Wahrscheinlichkeit >3:1 für die Abiogenese – die Entstehung von belebter aus unbelebter Materie – und 3:2 für die Entstehung intelligenten Lebens am Beispiel unseres Planeten. Dieser Analyse folgend bestand also eine Wahrscheinlichkeit größer als 75%, dass sich auf der Erde Leben entwickelt sowie eine 66,667%ige Möglichkeit für die Entstehung von intelligentem Leben.

Nachtrag zum vorangegangenen Kapitel: Einige Bemerkungen zur Abiogenese

Warum gehen die grade angeführten Studienautoren davon aus, dass es einst eine Abiogenese ohne äußere Eingriffe gegeben hat? Mir ist bewusst, dass es bisher nicht vollumfänglich gelungen ist, eine in allen Aspekten gelungene Abiogenese experimentell nachzuweisen – dass heißt unter den heute angenommenen Umweltbedingungen im entscheidenden Erdzeitalter. Moleküle mit hydrophilen und hydrophoben Bereichen auf einer grenzflächenaktiven Substanz (Membran) besitzen gemeinhin die Fähigkeit, sich spontan zu Aggregaten zusammenzulegen. Wie dies allerdings unter präbiotischen Bedingungen möglich gewesen sein soll, ist bisher unbekannt. Vor allem liegt das an der Ermangelung eines exakten Verständnisses über die genauen präbiotischen Bedingungen der frühen Erde und an der Vielzahl der Möglichkeiten die für die erste Entstehung des Lebens in Frage kommen. Das oftmals kritisierte Experiment von Stanley Miller und Harold Urey aus 1953 – Miller-Urey-Experiment – und viele darauf folgende „Ursuppen-Versuche“ zeigen jedoch ganz klar auf, dass es prinzipiell möglich ist, dass sich aus anorganischen Verbindungen wie H2O, NH3 und H2 unter Mitwirkung von CH4 organische Verbindungen wie Aminosäuren, Lipid- und niedere Carbonsäuren bilden können. Dabei kommt es auf die jeweiligen Umweltbedingungen an. Bei der Verfeinerung jenes Experiments gelang es auch, alle restlichen für Lebewesen essentiellen Bausteine, nebst komplexer organischer Verbindungen zu erzeugen. Dies alles gelang im Wesentlichen nur durch eine Nachahmung der erwartbaren Uratmosphäre, Wärmefluktuationen und Elektrizität.

Seit jene Versuchsreihe stattgefunden hat, gab es nach anfänglich aufkommender Euphorie innerhalb der Biologie auch einige Kritik daran. Lag tatsächlich eine chemisch reduzierte Atmosphäre im Hadaikum vor oder aber eine neutrale? Warum setzten sich später die L-Aminosäuren gegenüber den D-Aminosäuren durch, wo beim Experiment doch beide entstanden? Wie genau entwickelten sich daraus Zellen mit Membranen? Was hierbei gern vernachlässigt wird, ist, dass sich aus dem Miller-Urey-Experiment das Faktum ergibt, dass innerhalb unserer Naturgesetze die Entstehung von Belebten aus Unbelebten prinzipiell möglich ist. Wenn die Rahmenbedingungen nur einmal passend waren, wäre dem Leben damit Tür und Tor geöffnet gewesen. Wenngleich die Wissenschaften noch nicht bis ins letzte Detail alle Entwicklungsschritte des Lebens bis zu seinen jetzigen Formen erklären konnten, besteht doch ausreichend Gewissheit, um die Evolution prinzipiell und die Entstehung von belebter aus unbelebter Materie als bewiesen zu verstehen – und das aus den bestehenden Naturgesetzmäßigkeiten heraus. Ob dies nun in einer schlammigen Suppe; allmählich in schwarzen Rauchern (hydrothermale Tiefseequellen); im Rahmen der Eisen-Schwefel-Welt-Theorie; durch Elektrolyse und unabhängig von Licht mit Manganknollen als Batterie; oder durch den Eintrag von fertigen Lebensbausteinen durch Meteoriten geschah, ist dabei eigentlich unerheblich, dass es geschah, ist retrospektiv naheliegend und ausdrücklich wissenschaftlich möglich.

Mich treibt die feste Überzeugung an, dass unser Universum so konzipiert wurde, dass es, nachdem es ins Dasein gebracht war, in Bezug auf seine Entwicklung keiner äußeren Einflussnahme mehr bedurfte. Auch theologisch betrachtet ergibt es für mich a priori wenig Sinn, dass der allmächtige Schöpfer etwas wie das Universum plant und schließlich erschafft, dass nachträglicher Eingriffe bedarf und nicht von vornherein mit all jenen Funktionen und Bestandteilen ausgestattet ist, um zum gewünschten Ziel zu führen. Wäre es nicht der Traum eines jeden Ingenieurs eine Maschine – hier analog zum Universum – zu entwickeln, die sich völlig selbst erhält und alle gewünschten Aufgaben ohne Wartung und ohne Zugabe weiterer Substanzen erfüllt? Der Kosmos zeigt uns überall das Bild der perfekt funktionierenden und sich selbst erhaltenden Maschine. Teile von Gaswolken formen sich aufgrund der Gravitation zu Sternen, andernorts explodiert ein Stern am Ende seines Daseins in einer Supernova, die wiederum die höheren Elemente in das interstellare Medium schleudert: Die Basis neuer Planeten und einst auch die Basis unsere Welt und der Bausteine des Lebens. Wir bestehen aus Sternenstaub!

Alle physikalischen Naturkräfte ob die Kernkräfte, die elektromagnetische Kraft, die Gravitation oder die Quantenphänomene sind bestens aufeinander abgestimmt, so dass die Sonne ihre Fusionsprozesse ablaufen lassen kann und stabile Atome ebenso stabile Verbindungen bilden können. Die Entstehung von Galaxien oder supermassive Schwarze Löcher, die die Rotation der Galaxien entfachen, entsprechen ebenso gegebenen Kausalitäten wie das Vorhandensein der richtigen Elemente und Naturphänomene die zur Entstehung organischer Verbindungen führen können. Möglich, dass es innerhalb der Evolution eine Intentionalität gibt, die bisher nicht entdeckt wurde aber sowohl bei der ersten Zellbildung als auch bei der Ausrichtung von Geschöpfen hin zum intelligenten Leben eine Rolle spielte. Wenn es eine solche Intentionalität gibt, dann sehe ich in ihr eine vorab angelegte oder aus anderen kausal hervorgegangene Naturkraft, so wie auch alle anderen Kräfte bereits Teile des universellen Gesamtgefüges waren, als der Kosmos vor etwa 13,8 Mrd. Jahren seinen Anfang nahm. Der Zufall spielte hier gewiss keine maßgebliche Rolle. Wie bereits gesagt: Nichts ist innerhalb unseres Universums dem blanken Zufall überlassen, höchstens klar regulierte Unbestimmtheiten und Approximationen kommen vor. Für mich ist das Universum ein perfektes Ganzes. Die Notwendigkeit, nachträglich in die Abläufe der Naturgegebenheiten eingreifen zu müssen, würde dieses Bild zerstören. Von dieser Prämisse gehen selbstverständlich auch David Kipping, Ramanarayanan Krishnamurthy und Sunil Pulletikurti aus.

Determinierte Wahrscheinlichkeiten und der freie Wille

Den Zufall gibt die Vorsehung – zum Zwecke muß ihn der Mensch gestalten.“28 – Friedrich Schiller

Wie auch immer man Zufälle interpretieren oder definieren mag – wenn man sie als nichtkausale Ereignisse begreift, existieren Zufälle streng genommen nicht. Zumindest ein geordnetes System, das bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt – wie jenen der Wahrscheinlichkeit – liegt jedem scheinbaren Zufallsprozess zugrunde. Die Unmöglichkeit, alle (oder auch nur zwei) Parameter schon eines nur mäßig komplexen Systems gleichzeitig exakt bestimmen zu können, legt jedoch die Schlussfolgerung nahe, dass wir in einem weitestgehend unbestimmten Universum leben. Dies bezieht sich freilich nicht nur auf die Vorgänge im Wirkungsbereich der Quantenmechanik, sondern gewiss auch auf die subjektive Welt der menschlichen Wahrnehmung und Gefühle.

Nehmen wir als Analogie eine Zwiebel. Objektiv lässt sie sich gut beschreiben. Man kann sie vermessen, auf ihre chemische Zusammensetzung hin untersuchen, Nährwerte berechnen und vieles mehr. Die Wahrnehmung, die ein Mensch hat, wenn er in sie hineinbeißt, lässt sich jedoch nicht mehr exakt beschreiben und auch nicht objektiv bewerten. Ist er beispielsweise ausgehungert, wird er den Biss in das scharfe Gemüse bestimmt als weniger unangenehm empfinden, als wäre er gesättigt. Dass er so empfindet und nicht anders ist keine zufällige Erscheinung, sondern eine Frage von Umständen und Wahrscheinlichkeiten, die objektiv nicht wirklich messbar oder verlässlich vorhersagbar sind. Diese Unbestimmtheiten und Unschärfen ermöglichen sehr wohl auch einen freien Willen. Ebenso wie scheinbar chaotische Prozesse im quantenmechanischen Wirkungsbereich die Funktionsfähigkeit der atomaren, molekularen, makroskopischen und relativistischen Vorgänge ermöglichen. Das Unbestimmte ermöglicht das Bestimmte innerhalb des Objektiven; Unbestimmtheiten des menschlichen Geistes scharfzustellen, führt zur Bestimmung. Warum sollte man dies nicht als Vorsehung bezeichnen? Ob diese Bestimmung von jemandem vorgegeben wird, einer göttlichen Entität beispielsweise, drängt sich hier als Frage auf. Diese Frage zu beantworten ist jedoch nicht Gegenstand dieser Erörterung. Die Grundaussage, dass der Mensch aufgrund der natureigenen Unbestimmtheiten ganz gewiss auch über einen freien Willen verfügt, berührt jedoch unbedingt die hier erörterten Themen. Der Mensch ist frei, in Übereinstimmung mit seinen Werten und Überzeugungen oder kontrovers zu handeln. Er ist frei, zu handeln oder zu verweilen, zu lieben oder zu hassen, zu vermuten oder zu wissen, zu glauben oder nicht zu glauben. Einzig die Wahrscheinlichkeiten für diese oder jene Entscheidung variiert innerhalb eines klar definierten Rahmens.

Eine noch recht neue Interpretation quantenmechanischer Wellenfunktionen wird Quantenbayesianismus genannt. Innerhalb dieser eher physikphilosophischen Erklärung nimmt die Wellenfunktion eines Teilchens unterhalb von 10-12 m keine reelle Funktion mehr ein. Die Wellenfunktion, die letztendlich die Wahrscheinlichkeit dafür ausdrückt, dass ein Quantensystem – wie das vielbeschriebene Elektron – einen bestimmten Zustand annimmt, wird im Quantenbayesianismus lediglich als mathematisches Werkzeug betrachtet. Es bringt die persönliche Überzeugung des Betrachters zum Ausdruck, wie sich das System im Moment der Examination verhalten wird. Das Quantenobjekt ist demnach zwar objektiv real, jedoch nimmt es erst mit der subjektiven Erwartung des Betrachters bestimmte Eigenschaften an – somit wäre das beispielhafte Elektron doch nur ein Teilchen und keine Welle, egal, welche Observable man misst.29 Dieser Erklärversuch impliziert eine Verbindung zwischen dem Geist des Menschen und der Bestimmtheit der quantenmechanischen Welt.30

Der Quantenbayesianismus verknüpft das Subjekt mit dem Objekt. Sollten seine Beschreibungen der Realität zutreffen, schlösse sich damit die Kausalitätslücke zwischen der relativistischen Sphäre des objektiv Messbaren und der subjektivistisch affinen Quantenebene. Die Anwendung Bayes‘scher Analysen, die zur Objektivierung von Sachverhalten von der Erwartungshaltung des Beobachters ausgehen passt somit hervorragend in diese Ontologie.

Wenn Erwartungen Realitäten zu schaffen vermögen, ohne Eintritt konkreter Handlungen, liegt die Vermutung auf der Hand, Geist und Materie seien auf Quantenebene verbunden. Somit wäre der freie Wille des Menschen erneut im Spiel und verlieh sich über die Naturgegebenheiten von Unbestimmtheiten und Unschärfen in der Quantenwelt Ausdruck.

Gewiss: Ob die Wellenfunktion der Teilchen sich nun real in der Quantenwelt manifestiert oder nur Ausdruck der Erwartungshaltung des Subjekts ist, kann nicht festgestellt werden. Dieser Umstand wird mutmaßlich auch weiterhin Bestand haben – aufgrund der oben skizzierten Probleme, die sich ergeben, wenn man bei der Examination von Quantenzuständen Energien aufwenden muss, die höher sind als diejenigen des Teilchens selbst. So wird man als Beobachter automatisch in das System eingreifen und es beeinflussen. Die bloße Möglichkeit einer Komplementarität von Objektiven und Subjektiven, von Materie und Verstand, verdient in Zukunft jedoch näher erforscht zu werden. Vielleicht berühren die dargelegten Sachverhalte auch eine empirische Geisteswissenschaft wie die Psychologie und könnten dort zukünftig Gegenstand der Forschung werden

Die Welt, in der wir alle leben, ist so konzipiert, dass sie Indeterminanten nutzt – wie jene Unbestimmtheiten und Unschärfen im Bereich quantenmechanischer Größen –, um im Rahmen von klar determinierten Gesetzmäßigkeiten ein funktionierendes Ganzes zu bilden, womit letztlich der Bereich relativistischer Alltagserfahrung sein Fundament erhält. Die indeterminierte und die determinierte Welt sind demzufolge komplementäre Erscheinungsform ein und derselben Wirklichkeit, auch wenn sich beide Sphären auf dem ersten Blick zu widersprechen scheinen. Der Zufall – im Sinne nichtkausaler Vorgänge – existiert höchstwahrscheinlich nirgends. Den Zufall im Sinne von Ereignissen, die einem System einfach zufallen, dabei aber determinierten Regeln folgen, gibt es allemal. Ob hierbei aber wirklich von Zufällen gesprochen werden sollte, ist dabei immer noch lediglich eine semantische, nicht aber eine physikalische Fragestellung. Auch, ob sich das Subjekt – der Geist des Menschen – als Teil der Gleichung des Kosmos erweisen wird, bleibt abzuwarten. Ein interessantes Gedankenexperiment ist es allemal – vor allem, da es hierfür empirische Indizien gibt. Wie wahrscheinlich das ist? Diese Berechnungen müssen noch angestellt werden.


Literatur

Calaprice, Alice (Hrsg.): Einstein sagt. II. Auflage, Piper Verlag, München 2005

Comploj, Petra: Entscheidungen in der Bayes-Statistik und Sequentialanalyse bei unscharfer Information. Grin Verlag, München 2006

Conan Doyle, Arthur: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Kein & Aber, Zürich [1892] 2005

Deissler, Alfons, Vögtle, Anton (Hrsg.): Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. III. Auflage der Sonderausgabe. Herder Verlag, Stuttgart, 2007

Friedemann, Manuel Albert: Kosmologische Axiome im Wandel der Zeit. Ewald & Ewald Nr. 26, 2021

Goethe, J. W.: Dichtung und Wahrheit. Insel Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1998

Goethe, J. W.: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Hamburger Lesehefte Verlag, Husum 2010

Höfling, Oskar: Physik. Bd. II, Teil I: Mechanik & Wärme. XV. Auflage, Dümmler Verlag, Bonn 1994

Krengel, Ulrich: Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Vieweg & Teubner, Braunschweig 1988

Leibniz, G. W.: Die Theodizee. Hofenberg Verlag, Berlin 2017

Nestle, Wilhelm: Die Nachsokratiker in zwei Bänden. Bd. II, Diederichs Verlag, Jena 1923

Schiller, Friedrich: Don Carlos. Infant von Spanien. Hamburger Lesehefte Verlag, Husum 2010

Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft in zwei Bänden. Bd. I, Parkland Verlag, Köln 2004


Internetquellen:

Kipping, David: An objective Bayesian analysis of liefe’s early start and our late arrival: https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.1921655117

Konnte das Leben durch Zufall entstehen?: https://www.jw.org/de/bibliothek/buecher/Das-Leben-Wie-ist-es-entstanden-Durch-Evolution-oder-durch-Sch%C3%B6pfung/Konnte-das-Leben-durch-Zufall-entstehen/

Krishnamurthy, R., Pulletikurti, S. et al.: Prebiotic synthesis of α-amino acids and orotate from α-ketoacids potentiates transition to extant metabolic pathways: https://www.nature.com/articles/s41557-022-00999-w

Sind wir ein Einzelfall im All?: https://www.scinexx.de/news/kosmos/sind-wir-ein-einzelfall-im-all/


Fußnoten

1 Goethe, J. W.: Dichtung und Wahrheit. Insel Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1998, IV. Teil, XVI. Buch

2 Gemäß diesem stochastischen Gesetz erscheint auch die Annahme, dass regelmäßiges Lottospielen die Gewinnchancen maximiert unsinnig. Bei jeder Teilnahme bietet sich dem Spieler die gleiche astronomisch geringe Chance auf den Hauptgewinn – diese entspricht in etwa der Wahrscheinlichkeit im Schwarzwald von einem Hai gebissen zu werden. Häufiges Spielen verspricht dem folgend lediglich die Gelegenheit häufiger sein Geld zu verlieren.

3 Calaprice, Alice (Hrsg.): Einstein sagt. II. Auflage, Piper Verlag, München 2005, S. 174

4 Nach dem Cartesischen Dualismus (Descartesscher Dualismus) gibt es zwei voneinander unabhängige Substanzen im Universum: das körperliche (physikalisch bestimmbar/ messbar) und das geistige (individuelles Erleben, subjektive Wahrnehmung und Gedanken). Bereits René Descartes meinte, die beiden Substanzen könnten miteinander interagieren.

5 Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft in zwei Bänden. Bd. 1, Parkland Verlag, Köln 2004, S. 377

6 Wie bspw. Robert Boyle, der im Lichte seiner bahnbrechenden Methodisierung von Chemie und Physik schon im XVII. Jahrhundert die Auffassung vertrat, die Welt wäre vergleichbar mit einem exakten Uhrwerk, bar jedes Zufalls. Gottfried Wilhelm Leibnitz war zwar auch ein Apologet des Determinismus, jedoch gestand er dem Menschen darin immerhin eine Willensfreiheit ein, welche er jedoch äußerst umständlich post hoc ergo propter hoc in seine „Beste aller Welten-Hypothese“ einzuarbeiten suchte.

7 Der vektorielle Impuls bestimmt sich aus Masse mal vektorieller Geschwindigkeit eines Objektes und charakterisiert damit den mechanischen Bewegungszustand desselben (p → = m ⋅ v →).

8 Observablen sind messbare Größen wie Spin, Ladung, Impuls, Energie und deren Funktion, welche einer Wellenfunktion entspricht.

9 Ein Kunstwort, dass den definierten Wirkungsbereich der elektromagnetischen Kraft um den Atomkern beschreibt, indem sich das Elektron bewegt.

10 Quanteneffekte werden bereits bei Größenordnungen von 10-12 m beobachtet. Selbige Effekte nehmen mit abnehmender Größe zu. Im Bereich von 10-19 m ist es bereits nicht mehr möglich, ein Teilchen nur als Objekt zu betrachten und zu berechnen. Das Elektron gleicht somit einer punktförmigen Wahrscheinlichkeitswelle, deren Bewegung keinem erkennbaren Muster folgt.

11 Innerhalb einer Nanosekunde (1 ns = 10-9 s).

12 Nestle, Wilhelm: Die Nachsokratiker in zwei Bänden. Bd. II, Diederichs Verlag, Jena 1923, S. 16

13 Oben erläutertes Problem, dass Differenzialgleichungssysteme nur noch Näherungswerte liefern, wenn drei oder mehr Körper in die Berechnung einbezogen werden.

14 Beim Elektron kommt noch die Unschärfe der anderen Observablen hinzu, wenn man eine bestimmte Observable „scharfstellt“.

15 Conan Doyle, Arthur: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Kein & Aber, Zürich [1892] 2005, S. 438

16 Thomas Bayes war ein englischer Presbyterianer-Pfarrer und Logiker.

17 Chemische Verbindungen von N (Stickstoff), C (Kohlenstoff) und O (Sauerstoff) – auch Aminosäure genannt. Diese Verbindungen ermöglichen den Bau von Proteinen. Lediglich 20 verschiedene Aminocarbonsäuren bilden die Grundlage alles Lebendigen.

18 Dichte hat hier nichts mit bspw. einer Materialdichte zu tun, sondern bezeichnet eine Funktion, die Aussagen darüber erlaubt, wie sich die Wahrscheinlichkeiten innerhalb eines definierten Bereichs verteilen. So ist die Wahrscheinlichkeit höher, ein Elektron auf halber Strecke zwischen Atomkern und dem äußeren Rand der Wahrscheinlichkeitswolke aufzufinden als am äußeren Rand oder direkt am Atomkern.

19 Goethe, J. W.: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Hamburger Lesehefte Verlag, Husum 2010, III. Akt, Innerer Burghof

20 Einige Freikirchen sowie viele evangelikale Christen und manche religiöse Sondergemeinschaften wie die Zeugen J’s leugnen so zum Beispiel eine autonome Lebensentstehung auf der jungen Erde und evolutionäre Abläufe im Allgemeinen.

21 Konnte das Leben durch Zufall entstehen?: https://www.jw.org/de/bibliothek/buecher/Das-Leben-Wie-ist-es-entstanden-Durch-Evolution-oder-durch-Sch%C3%B6pfung/Konnte-das-Leben-durch-Zufall-entstehen/

22 Vgl. M.A.F.: Kosmologische Axiome im Wandel der Zeit. Ewald & Ewald Nr. 26, 2021, S. 14 f.

23 Gen. 1,14 ff.

24 Mit Abiogenese ist – wie das Wort bereits vermuten lässt – die Entstehung von belebter aus unbelebter Materie gemeint.

25 Sind wir ein Einzelfall im All?: https://www.scinexx.de/news/kosmos/sind-wir-ein-einzelfall-im-all/

26 Prebiotic synthesis of α-amino acids and orotate from α-ketoacids potentiates transition to extant metabolic pathways: https://www.nature.com/articles/s41557-022-00999-w

27 Teil des Erdzeitalters Präkambrium. Hadaikum: Bis vor 3,8 Mrd. Jahren.

28 Friedrich Schiller: Don Carlos, dritter Aufzug, fünfte Szene

29 Nach Werner Heisenbergs Unschärferelation kann man zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht beliebig genau gleichzeitig bestimmen (z.B.: Ort x und Impuls p).

30 Vgl. Gedankenexperiment von Schrödingers Katze.


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