Wohnhaft im Tower

Alle Jahre wieder erscheint kurz vor dem Weihnachtsfest eine Anthologie der „Sherlock Holmes Gesellschaft“. Dort werden Geschichten deutscher Autoren über den großen Meister und das viktorianische Zeitalter veröffentlicht.

Im aktuellen Buch finden sich u.a. formidable Kurzgeschichten von Kerstin Binggeli und dem bekannten Hörspielmacher Peter Wayand. Neben diesen und anderen Beiträgen wurde auch meine nun folgende Geschichte „Wohnhaft im Tower“ in die Anthologie aufgenommen.

Leider ist das Werk zurzeit vergriffen. Sollte sich das ändern, ist das Buch hier zu bestellen.

Viel Freude bei der Lektüre!

Wohnhaft im Tower


Sie saß mit Vorliebe an diesem Platz. Hier behielt sie nicht nur einen guten Überblick, sondern war auch mitten im Geschehen. Ein Geschehen, an dem sie zwar keinen Anteil hatte, das sie jedoch jedes Mal aufs Neue faszinierte. Genau genommen gelüstete es sie auch nicht, involviert zu sein. Die Rolle des Beobachters gefiel ihr, sie konnte sich damit identifizieren. Denn trotz aller Faszination für das bunte Treiben der Leute hier erschien es ihr doch zu primitiv, sich in das Geschrei und die bunten Katechismen einzureihen. Sie sah sich viel lieber in der Funktion einer Anthropologin, die hier ihre Gesellschaftsstudien betrieb. Sonderlich viel Beachtung schenkten ihr die farbenreich gewandeten Herrschaften ohnehin nicht. Bis auf einen, besonders rundlichen Gesellen, der offenbar eine Schwäche für sie hatte. Es war ein Leichtes für sie, ihm jene Dinge zu suggerieren, um zu bekommen, wonach ihr der Sinn stand. Es erging ihr gut an diesem Ort. Für ihre leiblichen Bedürfnisse war gesorgt, sie hatte Obdach und zudem auch unterhaltsame Einblicke in das eigenwillige Treiben der Beefeater, wie die Wachen im Tower von Besuchern oft genannt wurden. George – ihr besonderer Freund – wurde dieser Benamsung mehr als gerecht. Es schien ihr, als ernährte er sich fast ausschließlich von Rindfleisch und diesen kleinen klebrigen Toffees, für die sie nichts übrig hatte. Jedoch teilte sie seine Begeisterung für Rindfleisch – George verwöhnte sie des Öfteren mit einem saftigen, schön blutigen Filet. Ihr Freund war einfach gestrickt, sowohl behufs Gewohnheiten wie auch des Intellekts. Dennoch mochte sie ihn ob seiner Fürsorglichkeit und Treue. Mehr als einmal jedoch musste sie sich selbst aufsagen, dass er nicht ihr Haustier, sondern ein Mensch sei, der von ihr mit Respekt behandelt zu werden verdiente.

Jetzt allerdings gab sie sich erst einmal der Beobachtung des alltäglichen – fürchterlich umständlichen – Rituals hin, das trotz aller Fanfaren, Parolen und bunten Fähnchen lediglich darin gipfelte, dass die Türen verschlossen und der Schlüssel daraufhin einem anderen Wächter überreicht wurde. Den ersten Teil, das Abschließen sämtlicher Außentore der Anlage, ersparte sie sich heute. Sie verharrte bei einem großen Block nahe des Tower Greens – hier wurden früher die Dissidenten vom Leben in den Tod befördert – und hörte bereits die parolenschwingende Truppe heran marschieren. Auf dem Green wurde dann noch lauter gebrüllt und pünktlich zum Glockenschlag war der Spuk auch wieder vorbei. Aber halt! Diesmal schlug die Glocke nicht. Sie sah hinauf zur Turmuhr und war irritiert – dem großen Zeiger fehlten noch beinahe 30 Striche. Wie kam es nur zu dieser einzigartigen Abweichung von der ansonsten exakten Norm?

Auch trieb es die Wachen nicht wild in alle Richtungen auseinander, wie es sonst üblich war. Es formierten sich drei Gruppen, offenbar jede mit einem anderen Ziel. Die eine steuerte augenscheinlich das Jewel House an, jenen Ort, an dem die Schätze der Festung verborgen waren. Eine andere Gruppe stieg zur Waffenkammer im White Tower empor. Die letzte, deutlich kleinere Gruppe – sie bestand aus George und zweien seiner Kollegen –, hielt scheinbar auf den Haupteingang zu. Dieser Gruppe folgte sie unauffällig.

Dort schloss William – ein Beefeater und exaktes Gegenteil von George; groß, schlaksig und voller Energie – das eben versperrte Tor wieder auf. Die drei Soldaten schienen jemandes Ankunft zu erwarten. Nur wessen? So vergingen die Minuten. Die Yeoman Warders flüsterten angespannt, trabten im Kreis und rieben sich frierend die Hände. Endlich wurde ihre Geduld belohnt. Drei Herren traten durch das Haupttor. Von den Laternen des Durchgangs tröpfelte nur wenig Licht auf sie herab, dennoch erkannte die Beobachterin einen kleinen, schlanken Mann mit frettchenhaftem Antlitz, der sich sogar bewegte wie ein Iltis oder Marder. Zudem erspähte sie einen großen, hageren Gentleman mit Habichtsnase. Er trug einen hohen Zylinder und einen langen grauen Mantel. Der dritte Geselle war etwa von Größe des Frettchengesichts, jedoch rundlicher und erinnerte sie an einen trägen, schnauzbärtigen Biber. Als sie gerade über die Erscheinung dieser Herrschaften nachdachte, kam ihr ein Gedanke. Vor kurzem hatte sie zwei Wachen über die Theorien eines Menschen sprechen hören, die wohl behauptete, alle Tiere hätten gemeinsame Vorfahren. Sie konnte es kaum fassen. Wie konnte eine vorgeblich fortschrittliche Gesellschaft bisher nur ernsthaft übersehen haben, dass sich die Lebewesen allmählich entwickeln? Woher nahmen die Menschen nur diese arrogante Nonchalance? Und jetzt, da dieses Wissen in der Welt war, zweifelten sie offenbar noch immer an der offensichtlichen Wahrheit dieser Lehre, da sie sich für die unverrückbare Krone der Schöpfung hielten. Aber warum wunderte sie sich überhaupt, wenn sie bedachte, dass sie noch nicht einmal imstande waren, ihre Sprache zu verstehen.

Doch nun musste sie sich aus ihrem Weltschmerz lösen, denn die Gruppe eilte fort vom Haupttor und dem äußeren Festungsring. Sie steuerten, das wurde ihr schnell klar, entweder Bloody Tower, St. Thomas’s Tower oder den Wakefield Tower an. Ziel war der Wakefield Tower, eigentlich logisch, denn in den dicken Mauern war das Jewel House untergebracht und um seinen kostbaren Inhalt drehte sich alles. Die Juwelen der Königin zu beschützen schwor jeder Wärter hier im Tower zu Beginn seiner Dienstzeit. Ganz offensichtlich mussten jene Regalien entweder in Gefahr sein oder waren bereits ein paar der bunten Steine entwendet worden. Wärter Ron schloss das Tor des Wakefield Towers auf und die sechs Herrschaften gesellten sich zu einer zweiten Gruppe Wächter, die gewiss bereits direkt nach der Schlüsselzeremonie hier Posten bezogen hatten. Bei jenen drei Fremden musste es sich mutmaßlich um Polizisten handeln, warum sonst sollten sie mitten in der Nacht von den Beefeaters in das Jewel House geführt werden?

Die verhältnismäßig kleine Tür in der Nische des Torbogens im Bloody Tower fiel hinter ihnen zu. Was sollte sie jetzt tun, um dem interessanten Treiben weiter folgen zu können? Ob sie durch eines der zwei Fenster auf dieser Seite einen lohnenden Einblick erhaschen würde? Sie beäugte zwei weitere Herren, die sich dem Ort des Geschehens näherten. Das war ihre Möglichkeit, die verlorene Chance nachzuholen und mit ihnen unbemerkt hineinzuschlüpfen. Verdächtig machte sie sich im Falle ihrer Entdeckung sowieso nicht. Sie folgte den beiden Herren lautlos in sicherem Abstand. Wenn sie nicht sehr irrte, setzte sie gerade zwei der höchstrangigen Personen des Towers nach. Beide steckten wie die Wächter in Uniformen, jedoch weit weniger farbenfrohen solchen. Zudem trug einer der beiden ein langes Schwert. Es musste sich um den Gouverneur sowie den Juwelenmeister handeln. Menschliche Gesichter zu unterscheiden fiel ihr oft schwer – wenn sie nicht gerade bestimmten Tieren ähnelten, die ihr vertraut waren.

Sie schlüpfte hinter den beiden hohen Herren durch die Tür, als diese gerade hinter Ron, zufiel. Sie folgte den dreien die Stufen hinauf in den Raum der Juwelenausstellung. Nur, wo sollte sie sich verstecken? Das Gespräch war bereits im vollen Gange, jedoch benötigte sie einen sicheren Schlupfwinkel. Schnell verbarg sie sich neben einer Kommode und lauschte dem, was gesagt wurde.

„Es ist eine Katastrophe. Wir müssen den Amethyst wiederfinden“, rief der Juwelenmeister.

„Es handelt sich doch nicht gerade um den wertvollsten Edelstein in ihrer Sammlung, Sir Frederick“, erwiderte das Frettchengesicht.

„Sie belieben wohl zu scherzen, Inspektor! Jedes Objekt der Regalien Ihrer Majestät ist unersetzlich und wertvoller als alles, was Sie im Leben je besitzen könnten!“ brüllte der Juwelenmeister das Frettchen an. „Sie und Ihr Meisterdetektiv werden jetzt ihre Ermittlungen aufnehmen, um Täter und Stein habhaft zu werden!“

„Ruhig Blut, meine Herren“, das war die sonore Stimme der Habichtsnase. „Ich kann Ihnen versichern, Sir Frederick, dass wir den Raub sehr ernst nehmen. Wie mir berichtet wurde, ist die Fassung im Kreuz des Reichsapfels beschädigt. Wann und wie kam es zu dieser Beschädigung?“ Der Juwelenhüter seufzte.

„Vor einer Woche. Der Hofjuwelier schaut im Schutze der Nacht alle paar Jahre über die Regalien. Leider ist er nicht mehr der Jüngste, seine Hände zittern. So ist ihm doch tatsächlich der Reichsapfel heruntergefallen. Ich war außer mir vor Wut, warf ihn sogleich hinaus und versicherte ihm, dass ich in Zukunft lediglich mit seinem Sohn und Nachfolger zusammenarbeiten würde. Jener ist im Übrigen auch schon über sechzig. Der alte Mann ist Mitte achtzig und weiß wohl nicht, wann es Zeit ist, aufzuhören.“

Der Biber rührte sich. „Und da bemerkten Sie bereits, dass der Amethyst locker saß?“

„Ganz richtig. Der Stein hatte sich infolge des Sturzes in seiner Fassung gelockert. Ich befahl den Wachen sogleich, den Apfel wieder in die Vitrine zu stellen und sie zu verschließen. Das alles geschah unter meiner Aufsicht.“ Der Mann klopfte sich an die Brust. Ein Ritual, das sie noch nie verstanden hatte.

„Die Vitrine war heute jedoch unverschlossen? Haben Sie innerhalb der letzten Tage kontrolliert, ob sie weiterhin verschlossen war?“

„Nein, Mister. Weshalb sollte ich das tun? Lediglich ich besitze die Schlüssel zu den Vitrinen und Schränken hier. Dass sie heute unverschlossen war, ist eigentlich gar nicht möglich!“, entgegnete der Juwelenmeister in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung.

„Und es fehlt lediglich der Amethyst, sonst ist alles an seinem Platz?“, wollte jetzt der bärtige Biber wissen.

„So ist es“, entgegnete ihm der Juwelenmeister.

„Nun gut, meine Herren. Gehen wir an die Arbeit“, tönte in freudiger Erregung die Habichtsnase. „Eine Frage hätte ich allerdings noch, Sir Frederick. Wann und wie gedachten Sie denn eigentlich, diese Fassung reparieren zu lassen?“

„Nun, ich telegrafierte bereits am nächsten Tag dem Hofjuwelier, dass wir seinen Sohn am vierzehnten um zehn Uhr abends erwarteten, um den angerichteten Schaden zu tilgen.“

„Das wäre dann morgen Abend. Gut, Sir Frederick, jetzt möchte ich mich hier umschauen. Sie zu bitten, die Vitrine mit den Krönungsregalien aufzuschließen, ist wohl nicht nötig.“

„Wie meinen Sie das?“, erwiderte der Juwelenmeister der Habichtsnase erschrocken.

„Schon von hier aus kann ich erkennen, dass die Tür nicht gerade im Rahmen liegt. Sie ist nicht korrekt verschlossen. Haben Sie die Vitrine denn nicht direkt wieder verschlossen, als der Diebstahl auffiel?“

„Natürlich haben wir das! Ich habe meinen Schlüssel, wie ich es immer zu tun pflege, dem Schlüsselmeister überreicht und dieser hat unter meiner Aufsicht abgeschlossen,“ keifte der Juwelenmeister, eilte zum Glasschrank, steckte seinen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn erneut.

„Nichts hat sich geändert, Sir Frederick. Das Schloss scheint defekt. Sehen Sie.“ Die Habichtsnase erwies sich als cleverer denn die meisten seiner Artgenossen. Mit einem kleinen Schlüssel, der Teil seines eigenen Schlüsselbundes zu sein schien, hebelte er die Glastür mit Leichtigkeit auf. Der Juwelenmeister war sprachlos.

„Wie oftmals in solchen Fällen liegen solchen Raubzügen zumeist handfeste Sicherheitsmängel zugrunde“, warf das Frettchen ein.

„So ein Unfug!“, brüllte ihm der Schatzhüter ins Gesicht. „Ihnen ist klar, dass hier kein Unbefugter unbeaufsichtigt hineinkommt? Neben den Wachen, die hier ständig Dienst tun, gibt es die äußere Tür, die innere Tür und den hüfthohen Zaun, den sie hier sehen. Wenn Besuchszeit ist, stehen hier ein Dutzend Wachen und die haben stets den Blick auf die Regalien gerichtet.“

„Könnte nicht eine ihrer Wachen schwach geworden sein und...“, jetzt mischte sich der Gouverneur empört in die Mutmaßungen des Frettchens ein.

„Sie sind wohl nicht ganz richtig im Kopf, Inspektor! Jeder einzelne Yeoman Warder ist Patriot durch und durch. Eher noch würde der Polizeichef persönlich hier eindringen und Kronjuwelen entwenden als einer meiner Wächter!“

Während die einen dabei waren, sich gegenseitig zu bekriegen, nutzte Habichtsnase die Ablenkung, um den Raum mittels Lupe, Maßband und anderer Hilfsmittel genau zu erforschen. Er examinierte das als Reichsapfel deklarierte Objekt, die Vitrine mitsamt Schloss, den Fußboden, die Wände, die beiden Fenster, einfach alles, was sich in dem runden Raum befand. Als er dann die postierten Wächter aufforderte, ihm die Sohlen ihrer Stiefel zu zeigen, mischte sich der Juwelenmeister schließlich aufgebracht ein.

„Hervorragend, Mr. Holmes. Sie glauben nun wohl auch, dass einer meiner Männer das Juwel gestohlen hat?“

„Nein, Sir. Genau wie Sie und der Gouverneur möchte ich diese Möglichkeit ausschließen. Gerade deshalb muss ich mich mit den Sohlen der Wächter und der anderen Anwesenden vertraut machen. Das hilft mir gegebenenfalls, Fußabdrücke auszumachen, die nicht zu den anderen passen. Wären Sie so freundlich?“

Die anderen waren so freundlich und Gouverneur und Schatzhüter beruhigten sich wieder ein wenig.

„Dieser Boden bietet nicht eben viele Möglichkeiten, Fußspuren auszumachen, aber vielleicht sind mir die Ihren im Außengelände noch von Nutzen. Hier drin konnte ich lediglich feststellen, dass die Zuhaltefeder des Vitrinenschlosses gebrochen ist. So konnte Ihnen der Eindruck entstehen, Sie würden abschließen, ohne es tatsächlich getan zu haben. Weder Fingerabdrücke noch andere Verschmutzungen, die von der Norm abweichen, sind mir aufgefallen. Hier entspricht alles meinen Erwartungen - bis auf ein paar Stellen mit Vogeldreck und den Raben, der hinter der Kommode mit den Krönungsdokumenten unserer Regentin hockt.“

Die Habichtsnase hatte sie entdeckt! Sogleich steuerte George, der bisher nur wortlos an der Seite gestanden hatte, auf sie zu und hob sie empor. Da sie wusste, dass er ihr niemals etwas tun würde, ließ sie es geschehen. Die schwarzen Perlenaugen schienen jeden einzelnen im Kreis der Anwesenden zu begutachten.

„Entschuldigen Sie, meine Herren“, stammelte ihr besonderer Freund. „Das ist Cora, meine Rabendame. Sie ist im Prinzip ein Haustier, aber auch mein Freund. Sie neigt manchmal dazu, mir überallhin zu folgen. Sie tut niemandem etwas. Sicher kennen Sie die Weissagung: Wenn die Raben aus dem Tower verschwinden, wird das Empire untergehen!“ George bekreuzigte sich. „Ich trage mich sogar mit dem Gedanken, eine Rabenzucht zu begründen, um diesem Fluch zu entgehen. Sie müssen nämlich wissen, dass Raben außergewöhnlich intelligente Tiere sind. Sie scheinen sich im Tower auch sehr wohl zu fühlen. Außer Cora leben hier gewiss noch ein halbes Dutzend weitere Raben und andere Rabenvögel. Allerdings ist nur Cora handzahm.“

„Ich lobe mir Ihre Begeisterung, Wächter Smith. Sie wissen ja, dass ich Ihrem Vorhaben durchaus positiv gegenüberstehe. Dennoch möchte ich Sie nun bitten, Ihren Raben nach draußen zu befördern, damit wir hier ungestört den Ermittlungen beiwohnen können“, erwiderte der Gouverneur auf die leidenschaftliche Ansprache von George.

Dieser tat wie ihm geheißen, öffnete ein Fenster und ließ Cora herausfliegen. Wie ärgerlich! Gerade hatte die Spannung ihren Höhepunkt erreicht! Sie drehte eine Runde im Halbdunkel der Abenddämmerung und setzte sich dann auf den Fenstersims. Von hier aus konnte sie leider kaum sehen und schon gar nichts hören. Erst wenn in der Früh gelüftet wurde, konnte sie wieder unbemerkt hineinfliegen. Oder sie machte es erneut wie eben und schlüpfte heimlich hinter irgendwelchen Menschen durch die Tür.

Immerhin hatte sie nun Zeit, gründlich über das Erlebte nachzudenken. Dabei hatte sie Mühe, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Mal wieder war sie von George vor anderen als Haustier bezeichnet worden. Bei aller naiven Treue, die man ihm zugestehen musste, ärgerte sie sich über diese gönnerhafte Bezeichnung. Zudem hieß sie weder Cora noch bezeichneten sie und ihre Artgenossen sich selbst als Raben! Die beiden letzten Punkte wollte sie ihm und den anderen jedoch nicht nachtragen. Die Menschen waren offenbar weder Grammatik noch Vokabular ihrer Sprache zu verstehen im Stande, noch die Laute zu bilden, um sie zu sprechen. Sie waren eben trotz ihrer zivilisatorischen Errungenschaften eine recht eindimensional denkende Spezies. Doch zurück zum Sachverhalt. Offenbar hatte jemand diesen kleinen blauen Kiesel aus dem Kreuz des Reichsapfels gestohlen. Wer könnte es gewesen sein? Sie war es nicht. Auch wenn es ihr unter den von der Habichtsnase geschilderten Umständen ein Leichtes gewesen wäre, hatte sie nur wenig Interesse an Steinen, zumal man sie quasi überall in allen Formen und Farben finden konnte. George und seinen Kollegen traute sie diese Tat auch nicht zu, viel zu loyal versahen sie ihren Dienst. Ihr ganzes Leben drehte sich um den Tower und die Juwelen. Niemals würden sie den Eid brechen, dem sie sich offenbar alle verpflichtet hatten. Kein Außenstehender konnte das Jewel House unbemerkt betreten. Damit blieb ganz offensichtlich nur eine Möglichkeit übrig. Sie raschelte erregt mit ihrem Gefieder. Ja, das war es! Wie lange würden wohl die Herren da drin benötigen, um die offensichtliche Lösung des Problems zu erkennen? Der Habichtsnase traute sie einen Geistesblitz zu. Aber war er im Stande, derart ungewohnte Wege des Denkens zu beschreiten? Das wird sich zeigen, dachte sie sich. War ihr die Ignoranz der Menschen auch oft ein Dorn im Auge, so genoss sie von Zeit zu Zeit doch die Tatsache, dass diese nackten Affen nicht die Spur einer Ahnung davon hatten, dass Intelligenz und Bewusstsein sich nicht nur mittels zivilisatorischer Errungenschaften wie Mode, Palästen und Kunstausstellungen manifestierte. Menschliche Ignoranz hatte einen gewissen Reiz, denn wenn die Zweibeiner nichts von ihrer Intelligenz sowie der ihrer Artgenossen wussten, konnten sie sie auch nicht als Bedrohung betrachten. Ihr war nämlich aufgefallen, dass die Menschen dazu neigten, in sehr eng gefassten Kategorien zu denken. So waren die Männchen offenbar beinahe ausnahmslos die Entscheidungsträger dieser Gesellschaft, wenn auch ein Weibchen ihnen allen vorstand. Diese Königin hatte sie jedoch noch nie zu Gesicht bekommen, weshalb sie sich fragte, ob sie nicht nur ein Mythos war. Zu der Realität ihrer Wahrnehmung fügte sich ein Weibchen als Herrscherin jedenfalls nicht. Bei ihrer eigenen Art verhielt sich das ganz anders. Weibchen und Männchen waren gleichberechtigt. Lediglich der Charakter und die spezifischen Fähigkeiten entschieden über die Stellung in der Gruppe. Ihr Brutpartner zum Beispiel war recht begrenzt in seinen Fähigkeiten. Somit traf sie in den allermeisten Fällen auch die Entscheidungen. Dies in Frage zu stellen wäre ihrem Partner nie eingefallen. Wieso auch? Die eigenen Fähigkeiten korrekt einzuschätzen und den Intellekt des anderen zu respektieren, brachte ausschließlich Vorteile mit sich. Wie auch immer, sie war gespannt, wann und vor allem, ob die Menschen das Rätsel lösen würden.

In der Zwischenzeit hatte die muntere Gesellschaft den Wakefield Tower auch schon wieder verlassen. Das Frettchengesicht war dem Juwelenmeister gefolgt, währenddessen Biber und Habichtsnase am Eingang verblieben und Letzterer seine ausführlichen Untersuchungen im Eingangsbereich fortsetzte. Allein das zeigte ihr, dass auch der Cleverste unter ihnen immer noch keine Ahnung hatte, wie der blaue Stein entwendet wurde und vor allem von wem. Darauf fasste sie einen Entschluss. Es den Menschen zuzutrauen war wohl eine aussichtslose Sache. Warum sollte sie ihnen nicht einen Gefallen tun? So flog sie los, um bei der mutmaßlichen Täterin vorbeizuschauen. Sie passierte alle Festungsringe, den imposanten White Tower; den Graben, der schon lange kein Wasser mehr führte, und steuerte auf einen großen Bergahorn zu, der knapp außerhalb des Festungsgeländes seine Wurzeln geschlagen hatte. Hier musste die Verdächtige ihre Beute versteckt haben. Weit oben in der Baumkrone erspähte sie das Nest der diebischen Elster. Sie war offenbar ausgeflogen, weswegen ein Blick riskiert werden konnte. Eier fanden sich nicht im überdachten Nest, kein Wunder, denn es war auch keine Brutzeit. Dafür bestätigte sich schnell ihr Verdacht. Neben zahlreichen weiteren strahlenden Relikten der menschlichen Zivilisation – Taschenuhren, Halsketten, Zigarettenetuis – fand sich schnell der besagte blaue Stein. Behutsam nahm sie ihn zwischen ihre Schnabelhälften und flog lieber mit ein paar kräftigen Flügelschlägen mehr zurück Richtung Jewel House. Mit Elstern war nicht zu spaßen, wenn sie einen mit ihrem Diebesgut erwischten. Ganz dumm waren sie zudem auch nicht. Wenn sie auch nicht ganz dem intellektuellen Niveau der Raben entsprachen, war mit ihnen für gewöhnlich ganz gut zu verhandeln. Die Vorliebe für glänzende Gegenstände wurde ihnen jedoch zu Unrecht angedichtet. In Wirklichkeit sind viele Elstern einfach nur kleine Mistkerle, die es genießen, Sachen zu entwenden, die für die Menschen von Bedeutung sind. Diese spezielle Elster hatte das Stibitzen derartiger Objekte zu einer kleinen Kunst erhoben und es bestand kein Zweifel daran, dass sie sich durch das Fenster Zugang zur Juwelenkammer verschafft hatte, die Tür der Vitrine mit ihrem Schnabel aufgehebelt und den losen Stein an sich genommen hatte.

Auf dem Dach des Wakefield Towers angekommen überlegte sie, wie sie den Stein dem Mann mit der Habichtsnase unterschieben könnte. Oder sollte sie George den Gefallen tun? Sie legte das Corpus Delicti kurz ab und blickte an der Fassade des Turms hinab. Habichtsnase hatte sich eine Leiter besorgt und untersuchte mit seinem Vergrößerungsglas doch tatsächlich die Hinterlassenschaften verschiedener Vögel auf den Fenstersimsen. War er der Elster vielleicht schon auf der Spur? Kurz darauf stieg er jedoch schon wieder von der Leiter und setzte seine Examinationen am Boden fort. Einen Vogel konnte er sich wohl doch nicht als Täter vorstellen, vor allem keinen Vogel, der nach der Tat die Vitrinentür wieder schloss. Trotzdem honorierte sie seinen Gedankengang. So entschied sie sich, der Habichtsnase den Erfolg zu gönnen und George damit leer ausgehen zu lassen.

Als sie sah, wie Habichtsnase bäuchlings vermeintlichen Spuren folgte, kam ihr eine Idee und so machte sie sich schleunigst an die Umsetzung. Sie nahm den Stein wieder auf, flog unbemerkt in die Nähe des Haupttores und legte ihn an einer ganz bestimmten Stelle ab. Danach setzte sie sich auf die Mauer und harrte der Dinge, die da kamen. Lange musste sie nicht warten, bis der Detektiv mit seinem biberhaften Anhängsel die richtige Stelle gefunden hatte. Triumphierend hob er den Stein ins Licht der Laterne und rief Heureka, was auch immer das bedeuten sollte. Aufgeregt eilte er zum Tower Green, wo sich der Gouverneur, der Juwelenmeister, das Frettchen sowie George und William eingefunden hatten. Sie verbarg sich hinter dem Hinrichtungsblock und lauschte aufs Neue dem Gespräch.

„Schön, Sie hier alle anzutreffen, meine Herren“, meinte der Habicht aufgeräumt, „Es wird Sie freuen, zu erfahren, dass es mir gelungen ist, den Fall zu lösen“, fing er an. Die Kolkrabendame amüsierte sich köstlich.

„Das ist ja wundervoll, Mr. Holmes“, rief der Juwelenmeister erregt. „Wo ist der Amethyst? Und wo finden wir den Verbrecher?“

„Eins nach dem anderen, Sir Frederick. Ich habe Ihnen zuerst zwei Mitteilungen zu machen. Als Erstes: Es war doch ein Yeoman Warder, welcher das Juwel aus dem Gebäude geschafft hat.“

„Das glaube ich Ihnen nicht, Mister; ganz gleich wie Sie darauf kommen. Keiner meiner Wachmänner würde je ein Juwel Ihrer Majestät stehlen.“

„Das habe ich auch nicht behauptet, Sir Frederick. Ich sagte nur, dass ein Wächter es aus dem Gebäude geschafft hat. Und das führt mich zur zweiten wichtigen Information, die ich für Sie habe: Es gab keinen Diebstahl!“

„Ist der Stein denn einfach aus der Vitrine geflogen?“, fuhr der Juwelenmeister den Detektiv schroff an. Witzig, dass er damit, trotz seiner geistigen Enge, näher an der Wahrheit war als die clevere Habichtsnase.

„Beruhigen Sie sich bitte, Sir Frederick. Mein Freund und Kollege hier wird Ihnen bestätigen können, dass ich manchmal einen Hang zur Dramatik mein eigen nenne. Ich werde Sie nun aber aufklären, wie es zum zeitweiligen Verlust des Amethysts kommen konnte.“

„Ich bitte darum, Mr. Holmes“, erwiderte der Andere mit nicht wenig Ungeduld.

„Der Stein saß offenbar doch etwas lockerer als gedacht, er löste sich heute aus der beschädigten Fassung – wahrscheinlich durch eine plötzliche Erschütterung – und fiel an die untere Spalte der Vitrinentür. Dort steckte er fest und konnte von Außen betrachtet nicht entdeckt werden. Als die Tür dann geöffnet wurde, fiel er heraus auf den Boden, ein Wächter – wahrscheinlich der Schlüsselmeister – trat darauf und er verkeilte sich im tiefen Profil seiner Schuhsohle. Später ging der Wachmann, ohne vom aufgewerteten Unrat unter seinem rechten Schuh zu wissen, zur heute verfrühten Schlüsselzeremonie und darauf zum Haupttor, um uns in Empfang zu nehmen. Welche Schuhgröße haben Sie, Wächter Whitlock?“

„Größe 10, Mr. Holmes“, erwiderte William voller Bestürzung.

„Ausgezeichnet! Damit steht fest, dass es Ihr Schuh war, der den Stein, nun sagen wir mal, entführt hat. Wächter Smith und Wächter Clarke haben eindeutig kleinere Füße, das sieht man auf den ersten Blick. An der Stelle, an der Sie uns vorhin in Empfang genommen haben, fand ich eben dieses Kleinod in Ihrer Fußspur.“ Die Habichtsnase kramte den Stein aus einer seiner Manteltaschen und präsentierte ihn feierlich. Er glitzerte im fahlen Lampenlicht. „Hätte ich vorhin besser aufgepasst, wäre die nachfolgende Untersuchung obsolet geworden. Aber so konnten wir unseren Abend schließlich mit ein wenig Aufregung würzen, nicht wahr meine Herren?“ Gelächter und übellauniges Schnauben.

„Wenn Sie mich fragen, Mr. Holmes, dann hätte ich auf diese Art der Aufregung gern verzichtet“, sagte der Juwelenmeister, als er den blauen Stein selig entgegennahm. Habichtsnase, Frettchengesicht und der schnauzbärtige Biber verabschiedeten sich und wurden von William zum Haupttor gebracht. Als die vier an Schafottplatz vorbeikamen, nickte der Detektiv der Rabendame zu – und schmunzelte. Die Federn an ihren Flügelspitzen raschelten leise. Hatte er doch etwas bemerkt, gar mehr gesehen, als er den anderen hätte eingestehen wollen? Es blieb ein Rätsel. Vielleicht mochte er auch nur Raben oder entsann sich des Moments im Ausstellungsraum und dachte sich nichts weiter dabei?

Wie es sich nun verhielt, dieser Mensch hatte es geschafft, ihre wohlbegründete Meinung über die Schlichtheit seiner Gattung ein wenig zu revidieren. Zwar war er – zumindest schien es so – gänzlich auf die von ihr konstruierte Geschichte hereingefallen. Jedoch erforderte bereits diese Rekonstruktion ein gewisses Maß an mehrdimensionalem Denken. Dies war ihr demonstriert worden, wenn auch jene Geschichte, die sich so entsponnen hatte, reichlich wenig mit der Realität gemein hatte. Eines stand fest: Sie war zur amüsantesten Episode ihres Daseins avanciert.



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