HOLMES sagt: Der blinde Glaube (X)
Dieses Jahr bot mir nur wenig Gelegenheit und Inspiration der Muße zu folgen und sinnhafte Texte in die Tasten meines in die Jahre gekommenen Laptops zu hämmern. Erfreulicherweise habe ich aber festgestellt, dass noch zwei Texte auf eine Zweitveröffentlichung hier warten.
Zuerst findet sich ein kleines Jubiläum in einem prominenten Ordner: Die zehnte Ausgabe meiner 'viktorianischen Kolumne'. Diese befasst sich mit einem Phänomen, dass heutzutage wieder aktueller denn je ist. Der blinde Glaube dient vielen Menschen als Rechtfertigung für allerlei unsinniger Exegesen und daraus folgender Lebensentscheidungen. Wie hätten Holmes, Watson und Father Brown darüber gedacht?
Die Erstveröffentlichung erfolgte im 'Baker Street Chronicle (BSC).
Holmes sagt (X): Der blinde Glaube
Es war schon einige Zeit ins Land gegangen, seit ich zuletzt Gelegenheit hatte, meinen alten Kollegen und intimen Freund Sherlock Holmes in seinem Haus in Sussex zu besuchen. Ich bedauerte, dass mich meine Arbeit sowie meine familiären Verpflichtungen sooft daran hinderten, im Idyll seines Altersruhesitzes an den malerischen Steilküsten des Kanals inmitten seiner unzähligen Bienenvölker Erquickung zu finden. Umso größer war meine Freude, als ich an jenem Frühsommertag im Jahr des Herrn 1912 nach einer reibungslosen Zugreise bis Seaford und langer Kutschfahrt am Haus meines Freundes ankam, das außerhalb der Ortschaft zwischen grünen Hügeln eingebettet lag – und Holmes bereits am Tor stand.
„Watson, mein Freund!“, rief er mir fröhlich zu, als ich eben meinen Koffer aus dem Brougham hievte.
„Holmes!“ lachte ich. „Es ist schön, Sie endlich wieder zu sehen. Wie geht es Ihnen?“ Mein guter Freund hatte offensichtlich von der Meerluft, der Sonne und seinen Bienen profitiert. Trotz seines Alters waren die Wangen gesund gerötet und seine Augen glänzten. Früher war es mir nie aufgefallen, doch der ungesunde Schleier, den der Nebel Londons, der Rauch seiner abertausenden Schlote und der Odem seiner verbrecherischen Unterwelt über sein Angesicht geworfen hatte, war gehoben. Holmes leuchtete geradezu.
„Gut, gut, mein Lieber. Aber geben Sie mir doch bitte Ihren Koffer und folgen Sie mir ins Haus. Ich habe Ihnen Ihr Zimmer herrichten lassen und möchte vorschlagen, dass Sie sich zuerst einmal commod machen. Wollen wir in einer Stunde den Lunch einnehmen?“ Natürlich hatte er mir an der Nasenspitze angesehen, dass mein Appetit auch nach Jahren noch zur ungezügelten Sorte gehörte.
„Sehr gern, mein Freund. Mich beschleicht bereits ein kleines Hungergefühl.“
„Nun, ich hatte bereits so eine Ahnung, was dies betrifft. Fast wie in alten Zeiten“, strahlte mein alter Freund über sein ganzes Gesicht.
Noch als ich mein spartanisches Hab und Gut auspackte, war ich gerührt ob der Herzlichkeit, mit der er mich empfangen hatte. Eine ganze Woche Urlaub hatte ich mir verschafft und ich war selig angesichts der Tage, die ich im frühsommerlichen Sussex mit meinem Freund verbringen würde. Es tat gut, dem umtriebigen und niemals ruhenden Moloch London einmal entfliehen zu können. Obgleich ich voll und ganz Stadtmensch war, konnte ich doch Holmes‘ Entschluss nachvollziehen, seinen Ruhestand im Frieden wilder Natur zu genießen. Einen Ruhestand, den ich mir im Gegensatz zu Holmes trotz meines höheren Alters immer noch nicht gönnen konnte. Doch auch Holmes früher Lebensabend war immer öfter gespickt mit kleinen oder größeren Abenteuern, die sein eremitisches Dasein als Imker und Intellektueller mit dem nötigen Nervenkitzel bereicherten. Hin und wieder erhielt er auch Besuch von illustren Damen und Herren unterschiedlichster Professionen. Ein solcher Besucher sollte sich auch am ersten Abend meines Aufenthalts einstellen.
Weniger als eine Stunde war inzwischen vergangen. Ich hatte mich soweit erfrischt und eingerichtet und begab mich in die Küche, wo mein Freund bereits eine Rindersuppe aufgewärmt hatte, die er mit Brot servierte. Sie duftete himmlisch.
„Haben Sie diese Mahlzeit selbst zubereitet?“, fragte ich Holmes nach dem ersten wohlschmeckenden Löffel. Er grinste süffisant.
„Nun, ich war zumindest bemüht, dass Problem der Rindersuppe eigenhändig zu lösen. Jedoch komme ich nicht um die Feststellung herum, dass meine Haushälterin doch intervenieren musste. Offenbar gleicht es einem Sakrileg, brät man die Zwiebeln noch vor dem Fleisch an. Sie riss mir den Pfannenwender barsch aus der Hand und übernahm den Rest der Prozedur kurzerhand selbst. Das Brot jedoch, es ist ein Roggenbrot, dessen Rezept ich mit einer ganz speziellen Zutat verfeinert habe, geht in seiner Entstehung ganz und gar auf mich zurück, mein Freund.“ Die Krume des dunklen Brotes knirschte appetitlich zwischen meinen Fingern. Ich biss zärtlich hinein.
„Lassen Sie mich bezüglich der geheimen Zutat eine Vermutung äußern, Holmes. Könnte es sich um Honig handeln?“
„Gut deduziert, mein Bester!“, rief Holmes und klatschte in die Hände. „Ja, Sie kennen meine Begeisterung für das flüssige Gold meiner kleinen nimmermüden Arbeiterinnen gut!“
„Ich kann Sie beglückwünschen, beides schmeckt vorzüglich. Doch woher kommt die neuerliche Begeisterung für die Cuisine?“
„Ach, wissen Sie, wenn man sein Gemüse selbst anbaut, hegt und pflegt, Bienenhonig schleudert und zudem mehr im Einklang mit der Natur zu leben gefordert ist, als dies früher der Fall war, dann treibt es einen, die kostbaren Früchte der eigenen Hände Arbeit einer sinnvollen Verwendung zuzuführen. Ich trage mich auch mit dem Gedanken, mich am Einkochen von Marmeladen zu versuchen – lässt mich mein zuweilen etwas aufdringlicher Hausgeist denn gewähren.“ Ich schenkte ihm einen stichelnden Seitenblick.
„Ja, die Dame ist hier wohl der Meister und Sie lediglich der Schüler, mein lieber Holmes! Warum kommt mir das nur bekannt vor?“
Wir verfielen in heiteres Gelächter. Wie oft hatte ich mich in den Jahren unserer gemeinsamen Abenteuer wie ein armseliger Schüler gefühlt, besser noch als blutiger Analphabet angesichts jener detektivischen Methoden, die mein Freund so meisterhaft beherrschte. Wann immer er gefunden hatte, ich sei mit einer Situation überfordert, entriss er mir nicht selten das Heft und handelte im Alleingang, anstatt mich über die Dinge zu erleuchten. Nun war Holmes selbst an einen solchen unbarmherzigen Zuchtmeister geraten. Das geschah ihm durchaus recht, wie ich fand. Ich schmunzelte. Holmes half sich indes eine zweite Portion Suppe über.
„Bevor ich es vergesse, Watson. Wir erhalten heute Abend Besuch.“
„Ist das so? Wer beehrt uns denn?“
„Nun, Watson. Nach dem Dinner heute Abend habe ich das Vergnügen, nicht nur einen alten Freund zu Gast zu haben, sondern auch einen neuen. Er rief mich eben an, als Sie sich noch in ihrem Zimmer aufhielten. Ich konsultierte ihn vor einigen Tagen wegen einer Fragestellung, die seiner Expertise mehr entspricht denn der meinen. Er kann es sich kurzfristig einrichten, heute hier vorbeizukommen, um mich diesbezüglich zu beraten. Wegen einiger ‚Schafe‘ ist er heute hier ganz in der Nähe.“ Er hatte dieses Wort ganz merkwürdig betont. Ich hob eine Augenbraue.
„Ein Viehzüchter nehme ich an“, versetzte ich.
„Wenn Sie so wollen, mein guter Watson“, entgegnete mir Holmes ernst.
Nach einer ausgedehnten Mittagsruhe machten Holmes und ich uns auf, die raue Schönheit der Downs bei einem ausgedehnten Spaziergang auf uns wirken zu lassen. Der Tag war wundervoll. Nur einzelne Wolken zierten das Himmelsblau wie Silbergeschmeide die zarte Haut einer Frau. Kontrastiert wurde die Szenerie von den erregten Fluten des Kanals. Sie schlugen mit Vehemenz gegen die weißen Kreidetürme, die unsere Insel seit jeher wie ein heiliges Bollwerk vor allen Angriffen von außen schützen, seien es die der ungebändigten Natur oder jene der menschlichen Feinde unseres Königreichs. Gebannt von der Schönheit dieses Landstriches führten Holmes und ich viele angeregte Gespräche. Auch Anekdoten aus längst vergangenen Zeiten durften freilich nicht fehlen.
Diesen schönen Tag im Herzen nahmen wir am Abend ein exzellentes Dinner ein und begaben uns danach - bewaffnet mit Whisky und Zigarren - ins Studierzimmer. Wenig später läutete es endlich und die Haushälterin führte Holmes ominösen neuen Freund ins Zimmer – und es traf mich wie ein Schlag. Es handelte sich mitnichten um einen Viehzüchter. Eher ein Schafhirte, dachte ich, als ich den untersetzten Mann in Soutane erblickte, der nun ins Zimmer schritt. Er war ein Priester, scheinbar noch recht jung, obwohl ihn eine Aura der Reife und Gesetztheit umgab. Holmes und sein abendlicher Besucher begrüßten einander herzlich und es beschlich mich das Gefühl, dass die beiden mehr verband denn eine bloß oberflächliche Bekanntschaft. Ich war begierig zu erfahren, welches Erlebnis diese beiden auf den ersten Blick so ungleichen Herren, in Freundschaft verbunden hatte.
„Mein lieber Brown, ich habe die große Ehre, Ihnen diesen recht prominenten Londoner Mediziner vorzustellen. Für mich persönlich allerdings wird er immer mein teurer Gefährte und steter Fels in jeder noch so rauen Brandung sein: Dr. John Watson.“ Brown lächelte mich an. „Watson, mein Freund, das ist Father Jacob Brown, der mir letztes Jahr meinen Aufenthalt im Großherzogtum Baden zu einem menschlichen und intellektuellen Vergnügen gemacht hat.“ Wir reichten einander die Hände. „Sehr angenehm“, sagte ich und genoss die Ruhe, die der Geistliche verströmte.
„Vergessen Sie nur nicht den Rossler, Holmes“, feixte er. Ich vernahm einen sympathischen deutschen Akzent.
„Ach übrigens, ich habe bereits eine Flasche bereitgestellt. Vielleicht bringen wir den Doktor noch auf den Geschmack.“ Holmes streckte sich zum Weinregal und förderte eine Flasche zutage, die aussah, als würde sie einen Dock-Arbeiter ein Jahresgehalt kosten. Sie enthielt allerdings keinen Wein, soweit ich das erkennen konnte.
Mir schwante nichts Gutes angesichts dieses ‚Rossler‘, wie der Priester ihn genannt hatte. Glücklich war ich jedoch ob der Freundschaft, die Holmes mit unserem Besucher verband. Langfristige zwischenmenschliche Bindungen zu wirken, zählte nicht zu Holmes‘ großen Talenten.
„Lassen wir den Father erst einmal in Ruhe ankommen und machen wir es uns hier in den Sesseln gemütlich“ wies Holmes uns an. Er schenkte seinem Besucher einen rubinfarbenen Rotwein ins Glas, den er vorher offenbar eigens zu diesem Zwecke ausgewählt hatte. Holmes und ich – unheilbar britisch – hielten uns an guten schottischen Whisky. Gemütlichkeit kehrte in der Stube ein – aber nicht lange.
„Was hat Sie beide denn im letzten Jahr ins Deutsche Kaiserreich geführt?“ Wollte ich wissen. „Ich kann mir freilich kein Szenario denken, das die gemeinsame Intervention des großen Sherlock Holmes und eines katholischen Priesters erforderlich macht.“ Der Geistliche hob die Augen und bedachte mich mit einem ernsten Blick.
„Eine schrecklich düstere Geschichte war das, Dr. Watson. Eine kommunistische Verschwörung, abertausende tote Arbeiter, kriminelle Jugendliche, ein Ring von illegalen Schnapsbrennern und Menschen, die in fremden Zungen sprachen.“ Als der Father seine gravitätische Schilderung beschlossen hatte, geschah etwas für mich ganz und gar Unerwartetes. Holmes, der gerade einen Schluck Whisky genommen hatte, lief rot an, prustete den Whisky über den ganzen Beistelltisch und verfiel in gutturales Gelächter. Zum Glück hielten alle ihre Gläser in Händen und Holmes hatte das Malheur rasch beseitigt. Als wir uns alle wieder gesammelt hatten, ergriff Holmes das Wort, nicht ohne immer noch dann und wann von Lachkrämpfen geschüttelt zu werden.
„Mein guter Watson“, stammelte er, „Sie müssen sich ja fühlen, als seien Sie unter ulkige Studenten geraten. Bitte verzeihen Sie. Ich möchte Ihnen aber vorschlagen, dass wir uns zunächst der Arbeit widmen. Im Anschluss werden Father Brown und ich Ihnen einen ausführlichen Bericht zu jenen Ereignissen vorlegen, die uns letztes Jahr in den Höhenlagen des schönen Schwarzwalds ereilt haben.“
Ich leerte mein Whiskyglas und schenkte nach. „Nun gut, Holmes. Wenn ich auch gestehen muss, dass ich vor Neugier beinahe platze.“
„Gewiss, aber sie werden schon auf Ihre Kosten kommen, das möchte ich Ihnen versichern. Nun aber zum Grund dafür, dass ich Father Brown um seinen Rat gebeten habe. Ich bin ein wenig bekannt mit Mr. Livingston, der einen Kolonialwarenladen in Fulworth führt. Hin und wieder frequentiere ich sein Geschäft, wenn mir der Sinn nach einer exotischen Delikatesse steht oder mein persischer Tabak ausgegangen ist. Vor einer Woche war Letzteres der Fall. Nun, man musste nicht über die grandiose Menschenkenntnis eines Dr. Watson oder Father Brown verfügen, um zu bemerken, dass der gute Mr. Livingston in heller Aufregung war. Im Grunde war er mental nicht anwesend und ich musste mir schließlich meinen Tabak und wonach mir sonst noch der Sinn stand, selbst zusammensuchen. Mehr aus Höflichkeit fragte ich ihn, was ihn bedrücke, und dann kam es wie aus der Pistole geschossen. Er war in großer Sorge um seinen Sohn, der eigentlich beabsichtigt hatte, in drei Wochen zu heiraten.“ Ich zuckte.
„Sie sagen eigentlich. Hat es sich seine Auserwählte denn anders überlegt?“, wollte ich wissen.
„Nein, vielmehr hat er sich das Ganze anders überlegt, da er neuerdings der Meinung ist, dass diese Ehe höchstens zwei Jahre von Dauer sein kann und es sich somit kaum noch lohnen würde den Bund fürs Leben mit seiner Auserwählten einzugehen.“
„Wie kommt er denn bitte auf eine solche Idee? Ist einer der Versprochenen krank?“ Anders konnte ich mir einen derartigen Pessimismus kaum erklären.
Holmes schüttelte den Kopf. Und jetzt war es, als säßen wir wieder in unserem Wohnzimmer; in der Baker Street, wie damals, vor so vielen Jahren. „Auch wenn man bei Mr. Livingston jr. vielleicht von einer Krankheit des Geistes sprechen könnte, muss ich das verneinen. Sie müssen wissen, Henry Livingston ist Anwalt und seine Geschäfte führten ihn vor zwei Monaten nach Übersee, genauer gesagt, nach New York. Bei Gericht lernte er einen vormaligen Staatsanwalt und Richter kennen, der mittlerweile als rechtlicher Berater in den privaten Sektor gewechselt war – Rutherford mit Namen. Dieser Rutherford war es wohl, der Livingston überzeugt hat, seine geplante Heirat noch einmal zu überdenken.“ Mir schwirrte der Schädel.
„Welches Motiv sollte dieser Mensch denn für solch eine Tat haben und welche Beweggründe hat vielmehr der Sohn des Händlers, auf diesen Anwalt zu hören?“ Mir war die ganze Sache zutiefst suspekt. Was sollte dieser Amerikaner davon haben, nahm Livingston Abstand von seinen Hochzeitsplänen? Ging es hier ums Geld? War der schurkische Plan im Gange, jemanden um Hab und Gut zu bringen?
Father Brown rührte sich. „Wenn Sie erlauben, Holmes, würde ich gern die Gelegenheit beim Schopfe packen und dem Doktor erläutern, welchem Schwindel der junge Zachary Livingston zum Opfer gefallen ist. Anhand der Informationen, die Holmes zusammengetragen und mir zur Verfügung gestellt hat, konnte ich eigene Recherchen anstellen, die gewiss ein wenig Licht ins Dunkel bringen werden.“
Holmes stimmte wortlos zu. Er schenkte dem Father Wein und uns selbst Whisky ein. Die hellen Wangen des auffallend leger wirkenden katholischen Geistlichen röteten sich mit jedem Schluck Wein mehr und mehr. Trotz seiner ungezwungenen Art wirkte er auf mich äußerst klar, aufgeräumt und schien sich hinsichtlich seiner Geisteskräfte mit Holmes auf Augenhöhe zu befinden. Im Lichte dieser Erkenntnisse war ich umso gespannter auf das, was der Priester zu berichten hatte. Holmes bediente sich im Laufe seiner aktiven Karriere des Öfteren verschiedener Spezialisten, war ein Gegenstand seiner Ermittlung außerhalb seiner eigenen Kompetenzen angesiedelt. Inwiefern aber ein Geistlicher hier über Fachwissen verfügen sollte, das Holmes fehlte, erschloss sich mir bisher ganz und gar nicht. Oder hatte dieser Pfarrer noch andere Professionen?
„Zunächst möchte ich damit beginnen, Ihnen beiden Informationen zu Mr. Joseph Franklin Rutherford und der Organisation zu unterbreiten, die er vertritt. Rutherford ist Anwalt einer Firma namens Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania. Dieser Firma bedient sich eine religiöse Gemeinschaft, die sich selbst Internationale Bibelforscher-Vereinigung nennt.“
„Eine jener exaltierten amerikanischen christlichen Erweckungsbewegungen, von denen man so viel hört, nehme ich an?“ Ich meinte diese Bezeichnung bereits einmal gehört zu haben. Brown überlegte kurz.
„Ja und nein, Dr. Watson. Die Bibelforscher sind zwar der Erweckungsbewegung zuzuordnen, Christen sind sie dadurch aber noch lange nicht. Wissen Sie, nicht alle, die Christen zu sein meinen, sind auch welche. Vielleicht komme ich später noch auf diese Fragestellung zurück. Die Glaubensgemeinschaft, um die es uns geht, hat in den letzten Jahren viel Zulauf erfahren, nicht nur jenseits des ‚Großen Teichs‘. Sie leben in der Erwartung, dass 1914 das Reich Gottes auf Erden errichtet wird. Damit verbunden soll die Apokalypse über uns kommen.“ Ich schnaufte.
„Wenn man die Spannungen bedenkt, die zwischen den Großmächten Europas derzeit hochkochen, möchte man meinen, dass wir keineswegs göttlichen Eingreifens bedürfen, um dieses Ziel zu erreichen“, sagte Holmes und seine Worte trieften vor Sarkasmus.
Father Brown blickte ernst. „Holmes, mein Freund, die Zusicherung, dass Gottes Gericht die Welt vom Unheil befreien wird, ist durchaus allen frommen Christen gemein. Jedoch verbietet es sich, irdische Berechnungen hierzu anzustellen.“
„Weshalb sollte das verboten sein? Wenn es Grundlagen zur Berechnung hierzu gibt, warum sollte man diese nicht nutzen?“ Holmes legte seine Finger ans Kinn, lehnte sich näher zu Brown und schien ernsthaft an der Möglichkeit interessiert, den ‚Jüngsten Tag‘ wissenschaftlich zu berechnen.
Brown lächelte. „Der Evangelist Matthäus zitiert den Herrn folgendermaßen: Von jenem Tage aber und jener Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel der Himmel, sondern mein Vater allein. Dieser Spruch bezieht sich zwar in erster Linie auf die Vernichtung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70, wird jedoch gleichfalls als Grundsatz verstanden, dass die Knechte des Herrn über die Pläne des Höchsten im Unklaren sind. Das ist sogar ganz wesentlich. Denn, wüsste man, wann der Herr seine Pläne verwirklicht, diente man ihn dann aus Vertrauen oder aus der Angst heraus?“
„Es ist interessant, dass Sie von Vertrauen sprechen und doch Glauben meinen, Father“, erlaubte ich mir, anzumerken.
„Diese beiden Begriffe meinen im theologischen Kontext dasselbe. Glaube wird heutzutage oft mit Naivität gleichgesetzt. Vielmehr gleicht der christliche Glaube dem Vertrauen, von Christus geliebt und erlöst zu sein – anstatt nur aus Mangel an Evidenz daran glauben zu müssen, dass er von den Toten auferstanden ist. Vertrauen hat nichts mit Empirie zu tun. Oftmals vertrauen wir Menschen intuitiv, sie müssen sich im Gegensatz zur Meinung der breiten Meinung dieses Vertrauen gleichwohl nicht verdienen. Eine Person erscheint uns anhand unserer bisherigen Erfahrungen mit ganz anderen Menschen und Dinglichem vertrauenswürdig oder eben nicht. Im theologischen Sinnzusammenhang ist es die Erfüllung all jener Prophezeiungen, die im hebräischen Text gemacht wurden, durch Christus; verbunden mit dem herausragenden Beispiel, das er uns durch seinen Lebensweg hinterlassen hat. Dies soll hier aber nur am Rande Erwähnung finden.
Viel wichtiger erscheint mir eine Erörterung darüber, wie die Bibelforscher zu der irrwitzigen Schlussfolgerung gelangt sind, der ‚Jüngste Tag‘ stehe in zwei Jahren vor der Tür.“ Holmes räusperte sich.
„Gut, mein lieber Brown. Endlich etwas, das sich logisch analysieren und auf seine Richtigkeit hin untersuchen lässt.“ Er wirkte angesichts der Glaubens- oder Vertrauenserörterungen Browns etwas gelangweilt.
„Dann mache ich es kurz und prägnant für Sie, Holmes“, scherzte der Priester. „Der Gründer dieser Sekte hat vom Jahr 607 v.Chr. 2520 Jahre weiter gerechnet und ist so auf das Jahr 1914 gekommen.“ Brown nahm einen tiefen Schluck vom Saft der rubinroten Frucht des Weinstocks.
„Ich fürchte, das war etwas zu kurz und prägnant für mich“, vermerkte ich und ließ die Hände hilflos durch die Luft flattern.
„Wie kommt er denn auf diese wenig mystisch anmutende Zahl?“, wollte Holmes wissen. Brown richtete sich in seinem Sessel auf.
„Ich will mich mühen, Ihnen das Wesentliche in aller gebotenen Kürze darzulegen. Pastor Russell, jener Gründer dieser bizarren Gemeinschaft, spricht von den Sieben Zeiten der Nationen, die im Jahre 1914 enden sollen. Russell bezieht sich hierfür auf zwei biblische Prophezeiungen. Die eine stammt vom Herrn selbst und ist im Lukasevangelium zu finden. Im 21 Kapitel spricht Jesus über den Tempel, dass hier kein Stein auf dem anderen bleiben würde und zusammen mit Jerusalem vollständig zerstört werden würde. Die Jünger wollten natürlich wissen, wann sich dies ereignen würde und der Herr antwortete, dass die gegenwärtige Generation nicht vergehen werde, bis dies alles geschehe. Im 24. Vers sagt er dann noch Folgendes.“ Brown zog eine kleine Bibel unter seiner Soutane hervor, blätterte zu einer bestimmten Seite und begann vorzulesen.
„‚Und sie werden fallen durch die Schärfe des Schwertes und gefangen weggeführt werden unter alle Nationen; und Jerusalem wird zertreten werden von den Nationen, bis die Zeiten der Nationen erfüllt sein werden.‘ Darauf folgt ein zweiter Teil dieser Prophezeiung, welcher von manchen als Voraussage für die Apokalypse der ganzen Welt interpretiert wird. Es mag sein, dass es so gemeint ist, diese Exegese ist mir jedoch zu hoch.“ Brown lachte leise auf.
„Diese Zeiten der Nationen welche synonym zu der Herrschaft der heidnischen Reiche der Welt interpretiert werden, sollen laut Russell bereits in vorchristlicher Zeit angebrochen sein. Dazu bedient er sich der Auslegung eines Traums des babylonischen Königs Nebukadnezar. Er träumte einst von einem Baum, der auf göttlichen Befehl hin gefällt werden sollte. Der Baum, einst mächtig und reich an Frucht, sollte seine Menschlichkeit verlieren und sieben Zeiten wie ein Tier leben. Nachdem alle Astrologen und Weissager des Königs darin versagt hatten, Nebukadnezars Traum zu deuten, trat der Prophet Daniel in Erscheinung, welcher sich wie viele intellektuelle Juden im babylonischen Exil befand. Er deutete dem verängstigten König den Traum als Ankündigung eines großen Übels, das über ihn kommen sollte. Nebukadnezar selbst war der große, herrliche Baum, der gefällt werden sollte, um für sieben Zeiten, also sieben Jahre, wie ein Tier und ohne menschlichen Verstand zu leben, bis er sein Königtum von Gott zurückerhalten würde.“
„Und wie werden aus diesen Sieben Zeiten und den Zeiten der Nationen aus dem Evangelium die ominösen Sieben Zeiten der Nationen?“ hakte ich nach. Solcherlei Gedankenspiele basierend auf anscheinend beliebig interpretierbarer Schriftworte waren mir immer schon ein lästiges Rätsel. Brown jedoch schien ganz in seinem Element.
„Ich sehe beim besten Willen keinen logischen Zusammenhang zwischen diesen beiden Prophezeiungen, meine Herren. Die Worte Jesu bezogen sich auf den Untergang des jüdischen Staates in der nahen Zukunft seiner Zeitgenossen und vielleicht auch auf die ferne Zukunft, wenn wir an das Ende der Zeiten der Nationen denken. Die Bibelforscher meinen, diese Zeiten hätten mit der Zertretung des theokratischen Königtums in Israel im Jahre 607 v.Chr. begonnen. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich historisch wie auch biblisch zunächst einmal nicht genau bestimmen, wann Babylon Jerusalem eingenommen und die gebildeten Schichten verschleppt hat. Es ist allerdings anzunehmen, dass dieses Ereignis einige Jahrzehnte später stattfand. Nehmen wir an, im nämlichen Jahr begannen tatsächlich die Zeiten der Nationen, von denen Jesus am Tempel sprach. Inwiefern fügt sich die Prophezeiung vom siebenjährigen Wahnsinn Nebukadnezars hier ein? Dies geschah natürlich viele Jahre nach der Eroberung Israels. Der Wunsch, verborgenen Wahrheiten der Heiligen Schrift auf die Spur zu kommen, war wohl Vater des Russellschen Gedankens, Jesu Zeiten der Nationen mit der Zerstörung Jerusalems durch Babylon und dann noch irgendwie mit den sieben Zeiten des Wahnsinns Nebukadnezars zusammenzubringen.“ Der Geistliche schüttelte den Kopf und für einen Moment verlor sich sein Blick in der Fremde.
„Besonders kurios erscheint es mir, den Erzfeind Israels – den babylonischen König, der laut Daniel zertreten wird – in Verbindung zu bringen mit der Zertretung der Hauptstadt des auserwählten Volkes 600 Jahre später. Wenn die Zerstörung Jerusalems zu Daniels Zeiten den Beginn der Zeiten der Nationen markiert und aber Nebukadnezar viele Jahre später für sieben Jahre sein Königtum genommen wird, er jedoch am Ende dieser Zeit die Königswürde zurückerhält, enden doch damit die sieben Zeiten. Wie kann man also meinen, diese Prophezeiungen hingen zusammen? Hier werden blind verschiedenste Ingredienzen zusammengerührt, die nicht zusammenpassen, zwischen denen keine aromatischen Zusammenhänge bestehen. Am Ende muss man sich nicht fragen, warum das Gericht einen üblen Nachgeschmack hat.“ Der Geistliche schüttelte den Kopf und winkte demonstrativ ab.
Holmes hatte aufmerksam gelauscht und sein Minenspiel verriet eindringlich, was er von solchen Phantastereien hielt. „Sehen Sie, mein guter Brown, wie unlauter manche Subjekte mit Ihrer Lieblingslektüre verfahren, um den Auswüchsen des eigenen Egos gerecht werden zu können.“ Holmes schmunzelte Brown keck an.
„Es verhält sich bei der Exegese der Heiligen Schrift ähnlich, wie bei der Wissenschaft, Holmes. Wer beabsichtigt, die Fakten der eigenen Theorie unterzuordnen, wird zwangsläufig scheitern. Wer die Fakten dagegen in aller Ruhe und unvoreingenommen auf sich wirken lässt, kommt schneller ans Ziel.“ Brown hatte sein Weinglas geleert und schenkte sich wie selbstverständlich selbst nach.
„Wie kommen diese sogenannten Bibelforscher denn nun auf diese 2520 Jahre, welche sie vom Jahr 607 vorchristlicher Zeit zum Jahr 1914 führen?“, wollte Holmes jetzt wissen.
„Ich ahne, diese Herleitung wird ähnlich abenteuerlich“, erlaubte ich mir, einzuschieben. Brown schnaufte und kratzte sich am Kopf.
„Sie machen sich keine Vorstellungen, Dr. Watson. Nachdem die Bibelforscher um Charles Taze Russell zwei Prophezeiungen und ein singuläres Ereignis miteinander in Verbindung gebracht haben, zwischen denen kein logischer Zusammenhang besteht – solche Kunstgriffe haben übrigens auch schon andere Sekten verbrochen – kamen sie zunächst zum Wortkonstrukt Sieben Zeiten der Nationen, das, wie Sie sich sicherlich denken können, nirgends in der Bibel vorkommt. Und plötzlich bezieht man sich auf die Offenbarung des Johannes. Dort heißt es, als vom apokalyptischen Kampf der Mächte geschrieben wird, dass sich die Frau, die als Sinnbild für das Volk Gottes gilt, 1260 Tage in der Wüste vor dem Satan verstecken wird. Am Ende des zwölften Kapitels erfährt man, dass diese 1260 Tage genau dreieinhalb Zeiten entsprechen. Eben dreieinhalb Jahren, weswegen es auch richtig erscheint, den sieben Zeiten des Nebukadnezar sieben irdische Jahre zuzuordnen. Man benennt hier als ‚Zeit‘, was ein Jahr ist. So weit, so gut. Nun aber, nehmen sich die Exegeten der Bibelforscher plötzlich das Buch Numeri zur Hand und sehen den 34. Vers des 14. Kapitels als Beleg dafür, dass Gott prinzipiell von einem Tag spricht, jedoch gleich ein Jahr meint. Hier spricht der Herr in Wirklichkeit aber eine Strafe für sein Volk aus, das sich trotz Befreiung aus ägyptischer Sklaverei ungehorsam verhielt. Sie sollten nun 40 Jahre in der Wüste umherwandern, anstatt 40 Tage, derer sie für die Erkundung des Heiligen Landes bedurft hatten. Etwas Ähnliches findet sich noch beim Propheten Ezechiel, wenn ich mich recht erinnere.“
„Ich verstehe“, flüsterte Holmes andächtig. „Dann lautet deren Rechnung wie folgt: Sieben Zeiten entsprechen sieben Jahren, nach Daniel und der Offenbarung. Numeri wird so interpretiert, dass vierzig Tage vierzig Jahren entsprächen, also ein Jahr für einen Tag. Jetzt nimmt man einen kompletten Logikbruch in Kauf, abgesehen von der bereits fadenscheinig anmutenden Faktenlage, indem man meint, dass auch noch jede der sieben Zeiten des Nebukadnezar 360 Jahren anstatt Tagen entspräche – nur weil im Buch Mose einmal ein Tag mit einem Jahr in Verbindung gebracht wird. Somit kommt man auf siebenmal 360 Tage, die in Wirklichkeit Jahren entsprechen, erhält ebendarum 2520 Jahre und gelangt schließlich zum Jahre 1914. Warum meinen diese Leute denn nur, diese Begriffe jedes Mal so interpretieren zu können, wie es ihnen gerade in den Kram passt? Das klingt mir nach jenen, die solange die Proportionen irgendwelcher ägyptischen Pyramiden mit denen beliebig vieler Naturphänomene vergleichen und dann ausrufen: Es hängt alles zusammen!“ Holmes hatte die Arme melodramatisch in die Luft gerissen. Brown lachte, ich auch. Gott sei Dank.
„Nun, Holmes, das ist eine gute Frage und was die Pyramiden angeht, bin ich ganz bei Ihnen. Es gibt dennoch verborgene Wahrheiten und Zusammenhänge in der Schrift, die erst im Kontext sichtbar werden. Einige davon würden selbst Ihren kritischen Geist faszinieren, könnten Sie sich dafür öffnen. Zusammenhänge wie der zwischen jenen Lämmern, die vom Volk Gottes im Alten Bund geopfert werden mussten und dem Lamm Gottes, das ein für alle Mal hinweg nimmt die Sünde der Welt. Oder der überraschende Einklang der Schöpfungserzählung mit den Erkenntnissen moderner Wissenschaft!“ Mein Freund Sherlock Holmes klopfte Brown versöhnlich auf die Schulter.
„Schon gut, mein Freund. Ich verspreche Ihnen, eines Tages können Sie mir von diesen Mysterien berichten. Ich habe meinen Geist in den letzten Jahren für so vieles geöffnet, warum nicht auch hierfür? Für den Moment aber interessiert mich nur, diesem armen Wicht offenzulegen, welcher Täuschung Opfer er geworden ist.“
„Das wird wohl nichts, Holmes.“ Brown hatte mit düsterem Ernst gesprochen.
„Wieso denn nicht?“ Holmes‘ Elan war wie weggeblasen.
„Ich meine, eher hätten Sie Professor Moriarty zweimal zur Strecke gebracht denn Mr. Livingston jr. von seinen neugewonnenen Überzeugungen ab! Unser junger Anwalt ist so gefesselt von den Irrlehren dieser Gemeinschaft, dass er gar seine eigene Hochzeit abgesagt hat! Ich befürchte, er wird auf die harte Tour lernen müssen, was ihm seine Naivität letztlich eingebracht hat.“
„Weshalb so pessimistisch? Es mag doch sein, dass er rationalen Argumenten zugänglich ist“, merkte ich an.
„Meine Erfahrungen mit diesen und anderen falschen Propheten sprechen leider eine andere Sprache. Wie es beim Evangelisten heißt: Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten auftreten!“
„Also leben wir doch in den letzten Tagen. Hier ist doch von der Endzeit die Rede, nicht wahr? Das gehäufte Auftreten dieser falschen Prophetie könnte doch ein Zeichen dafür sein“, witzelte Holmes. Browns tiefer Blick verlor sich noch einmal.
„Ich glaube, dass diese Prophezeiung auch für eine spätere, ja vielleicht gar für die unsere Zeit Anwendung findet, dafür gibt es auch exegetische Hinweise, ganz im Gegensatz zu den Rösselsprüngen der New Yorker Propheten. Vielleicht kommt der Tag des Herrn ja in zwei Jahren, vielleicht aber auch erst in tausend Jahren. Wie eingangs erwähnt: Zeit und Stunde kennt niemand!“ Unser faszinierender Gast seufzte kurz, dann wandte er sich an Holmes.
„Da ich jedoch weiß, wie sehr Sie es verachten, einen Fall nicht richtig abschließen zu können, lieber Holmes, werde ich mich mühen, den Sohn Ihres Händlers zu erreichen. Außerdem sollte man keine Seele einfach so verloren geben. Vielleicht wirkt mein Vater ein Wunder durch mich, und wenn er mir nur einen trickreichen Gedanken schicken möge, wie man einen solchen Menschen erreicht.“ Holmes und ich lachten auf ob dieser unbekümmerten Anmerkung.
„Ich werde Ihnen morgen die Adresse von Mr. Livingstons Geschäft mitgeben, Father. Ich danke Ihnen. Vielleicht nehmen Sie Watson mit, er ist ein ähnlich versierter Menschenfänger wie Sie.“
Ich nickte weltmännisch. „Ein Ausflug am Morgen wäre mir ganz recht.“ Ich freute mich auf die scheinbar unlösbare Aufgabe, die uns bevorstand – war ich doch begierig, so viel Zeit als möglich mit diesem höchstinteressanten Menschen zu verbringen. Ich konnte verstehen, weswegen Holmes diese Verbindung schätzte und pflegte, wenngleich er mit konstitutioneller Religion herzlich wenig anfangen konnte. Brown wandte sich mir zu, drückte meine Schultern mit seinen großen Händen und reckte entschlossen das Kinn vor.
„Abgemacht. Versuchen wir unser Bestes, Doktor. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen. Diese Gemeinschaft versteht es zuweilen, ihre Anhänger so zu manipulieren, dass jene ihre Augen und Ohren vor offensichtlichen Wahrheiten verschließen. Ich bin, wie Sie sich vielleicht denken können, bereits durch meine Gemeindearbeit mit ebendiesen falschen Christen in Berührung gekommen.“
„Warum sind es denn auch falsche Christen?“, wollte ich wissen.
„Nun, Doktor, Christen können sich in unzähligen Dingen uneinig sein – und hier bin ich dem Dogma meiner Kirche vielleicht voraus – wo sie sich jedoch einig sein müssen, um von sich selbst als Christen reden zu können, ist die Göttlichkeit Jesu. Russell und sein Vertrauter Rutherford lehnen die Göttlichkeit Jesu ab, was zur Folge hat, dass sein Opfer – der Kern des Christseins – keinen Wert mehr hat. Ähnlich wie Arius vor dem Konzil von Nicäa degradieren sie Christus zu einer Schöpfung und leugnen damit das Wesen des Christentums. Nein, man kann sich nicht in einem Atemzug als Christ bezeichnen und behaupten, der Herr sei lediglich Lohnarbeiter, nicht Gott.“
Ich nickte langsam. Holmes packte uns beide bei der Schulter. „Nun, meine Herren, nachdem Sie uns, lieber Brown, recht viel theologische Exkursion zugemutet haben, möchte ich es wagen, eine neue Ebene der Spiritualität in die Runde einzuführen.“
Holmes stand auf, spazierte zur Wein-Etagere und entnahm ihr wieder die seltsame schlanke Flasche mit der klaren Flüssigkeit. Ich sah genauer hin. Auf dem grünen Etikett prangten drei Sonnenblumen. Darunter eine Aufschrift in deutscher Fraktur – ‚ROSSLER‘. Auch die drei Schnapsgläser, die Holmes mitbrachte, erregten unbehaglichen Verdacht, dass es sich bei ‚Rossler‘ um eine Spirituose handelte. Mein Freund füllte die Gläser bis zum Rand und reicht uns zwei. Nach einem Segensspruch des Priesters wagte ich einen unverbindlichen Schluck. Es war, als hätte ich glühende Kohlen verschluckt.
„Um Gottes Willen! Was ist denn das für ein Gift?“, ächzte ich mit letzter Kraft.
„Neben dem Kirschwasser des Schwarzwalds größter Schatz“, mahnte mich Holmes und schüttelte verständnislos den Kopf über den Kulturbanausen, der ich augenscheinlich war.
„Ach, bevor ich es vergesse, Sie zeigten sich doch daran interessiert, von unserem Abenteuer im Schwarzwald zu erfahren.“
„Unbedingt, Holmes.“ hustete ich.
„Dann hören Sie jetzt gut zu. Das Destillat der Topinamburknolle spielt darin eine nicht unwesentliche Rolle.“
Die Bibelforscher behielten, was das Jahr 1914 angeht, insofern recht, als dass es einen Wendepunkt für die menschliche Zivilisation markieren sollte. Mit göttlicher Intervention hatte dies jedoch rein gar nichts zu tun. Später deuteten sie ihre Prophezeiung insofern um und behaupteten fortan, das Reich Gottes sei lediglich unsichtbar im Himmel errichtet worden. Nach dem Tod Russells übernahm jener Anwalt die Leitung der Bibelforscher, der Mr. Livingston verführt hatte, sich unlogischen und letztlich auch unbiblischen Lehren anzuschließen. Joseph Franklin Rutherford führte die Internationale Bibelforscher-Vereinigung sodann noch tiefer in die Isolation von der übrigen Christenheit und benannte die Religionsgemeinschaft schließlich sogar um.
Der junge Henry Livingston zeigte sich wenig beeindruckt ob unserer vernünftigen Aufklärungsversuche über die Irrsinnigkeit seiner Glaubenssätze. Er hörte uns nicht einmal zu. Offenbar war er vor ‚Ungläubigen‘ wie uns vorab gewarnt worden, wie er sagte. Dieses Gebot erschien mir wie die perfide Vorkehrung einer Gemeinschaft, die sich des blinden Glaubens bediente und jede Art des freien Geistes zu fürchten hatte. Kaum zu glauben, aber selbst der Vater unseres unfreiwilligen Klienten schloss sich nach dem großen Krieg den Bibelforschern an. Vater wie Sohn erfüllten die Pflichten von Gemeindeältesten. Vor einigen Jahren drang dann die erlösende Botschaft mittels eines kurzen Briefs von Holmes zu mir vor: Beide hatten sich nach einiger Zeit doch noch von dieser Sekte lossagen können, nachdem sich eine neuerliche Prophezeiung als unwahr entpuppt hatte. Rutherford hatte nämlich für das Jahr 1925 die leibliche Auferstehung der Patriarchen des Alten Testaments prophezeit und eigens dafür das fürstliche Anwesen Beth Sarim in San Diego errichten lassen. Nachdem auch diese Prophezeiung ohne Erfüllung blieb, wohnte Rutherford kurzerhand selbst im nämlichen – äußerst luxuriösen – Anwesen an der amerikanischen Westküste. Wie ich hörte, nahm sich Father Brown darauf beiden Seelen an und führte sie zu einem Christentum, das vielmehr auf Vertrauen und Annahme ruhte, denn auf Ängsten und Kontrolle.

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