Das goldene Notizbuch
Ich erwische mich oftmals dabei, einer romanhaften Kurzgeschichte eher das Prädikat "Litteratur" zu verleihen, als einer Kolumne oder einem Sachtext. Sowohl die "Holmes sagt"-Kolumnen als auch meine Sachtexte über Wissenschaft, Philosophie und Gesellschaft machen mir richtig Freude. Eine kurzweilige und dennoch tiefe Geschichte im Stile der Belletristik macht den Autor doch erst richtig froh. Somit bin ich umso glücklicher, wenn ich regelmäßig eine Geschichte zur jährlichen Anthologie der Sherlock Holmes-Gesellschaft beitragen darf.
Eine Kriminalgeschichte muss nicht immer blutig sein (wenngleich dies im vorliegenden Fall nicht für Holmes' Gebiss gilt) um Spannung und Unterhaltung zu bieten. Ich hoffe, dies ist mir hier wieder gelungen. Auch habe ich mich ein wenig darin geübt - neben dem allseits beliebten Humor - einen kleinen Spannungsbogen zu integrieren, vielleicht sogar ein wenig Action. Nicht meine Metiers aber wie soll man sonst wachsen?
Erstveröffentlicht wurde "Das goldene Notizbuch" als Sonderbeilage des Baker Street Chronicle Nr. 55.
Das goldene Notizbuch
Wenn ich über meinen zahlreichen Dokumentationen über die außergewöhnlichen Taten meines alten Freundes Sherlock Holmes sitze, fällt es mir heute noch ebenso schwer wie einst, jene Episoden, die einer Veröffentlichung lohnen, von den weniger massentauglichen zu trennen. Holmes riet mir indes stets davon ab, meine Selektion am banalen Unterhaltungsmoment festzumachen. Er betrachtete sich als Wissenschaftler, gar als Avantgardist der angewandten Deduktion; meine Berichte sollten folglich vielmehr Lehrstück sein, denn Heroenmärchen in schillernden Farben. Gewiss, Holmes war in der Tat Pionier seiner Profession. Dennoch bemühe ich mich bis heute redlich, beide Ansätze unter einen Hut zu bekommen. Mit der Niederschrift seiner Gedanken über Fragen aus Philosophie, Gesellschaft und Wissenschaft, die ich unter dem Titel „Holmes sagt“ als Reihe in einem angesehenen Magazin abdrucken lasse, versuche ich letztendlich den Fokus des Lesers mehr auf den Analytiker und Intellektuellen zu richten als auf den genialen Abenteurer. In seinen späten Tagen fand Holmes sich jedoch allmählich damit ab, dass ich ein größeres Publikum erreichen wollte als nur die üblichen Dutzend hochspezialisierten Kriminalexperten und Philosophen. Weswegen ich hiermit auch einen Fall niederschreibe, welcher neben einigen brillanten Geistesblitzen meines alten Freundes auch einen appetitlichen Unterhaltungswert verspricht.
Aus meinen Schriften geht nicht mehr klar hervor, wann genau sich die Affäre um das goldene Notizbuch abgespielt hat, es müsste jedoch etwa im Herbst des Jahres 1884 gewesen sein. Es stürmte und regnete bereits seit mehreren Tagen, als würden alle Dämme des Himmels gleichzeitig bersten. Die Kanalisation quoll bereits über und Londons Straßen wurden zu kleinen Bächen. Allein bei Flut überschwemmte die Themse schon die Fabrik- und Lagerhallen an den Ufern. Die ansässigen Gesellschaften wussten sich in der Regel jedoch darauf einzustellen. Immerhin ließen sich die gezeitenbedingt zyklisch aufkommenden Wassermassen bis auf die Minute genau vorhersagen. Große, wirklich bedrohliche Überschwemmungen erlebte ich in den vielen Jahren als Bürger Londons jedoch nie. Die Bewohner hatten sich längst mit den Wassermengen abgefunden und der himmlische Schleusenmeister schien uns immer wohlgesonnen genug, uns nie so viel auf einmal zu schicken, als dass wir damit nicht hätten umgehen können.
Es war Abend, die Laternen wurden gerade angezündet – eine Aufgabe, um die ich die armen Lamplighters nicht beneidete – der Regen prasselte monoton an unsere Wohnzimmerfenster. Im Kamin brannte ein wohliges Feuer, und Holmes und ich waren mit unseren Sesseln näher herangerückt. Herrlich, diese Wärme! Holmes kritzelte in einem seiner blau eingebundenen Notizbücher. Sie waren chemischen, mitunter toxikologischen Themen vorbehalten. Dann gab es noch rote Bände, worin er seine Theorien aus dem Bereich der Kriminalistik festhielt und braune Büchlein für den ganzen Rest seiner oftmals ungeordneten Geistesblitze. Ich dagegen wärmte mich nicht nur am Feuer, sondern ebenso an einem Glas Brandy und obgleich ich mich eigentlich einem guten Buch widmen wollte, dämmerte ich immer einmal weg, in den Schlaf gewogen vom unaufhörlichen Prasseln des Regens wie vom Knistern des Feuers im Kamin. Einzig Holmes‘ eruptives Gemurmel und Räuspern ließ mich einige Male für kurze Momente hochfahren, nur um dann erneut einzudämmern. Gerade hatte er mich mit einem besonders gutturalen Geräusch geweckt.
„Holmes“, wisperte ich ungehalten, „wäre es Ihnen nicht möglich etwas leiser zu schreiben?“
„Wie soll das denn gemeint sein?“ erwiderte Holmes recht irritiert.
„Entschuldigen Sie, Holmes. Ich bin recht schläfrig und mein Körper doch bereits wacher als mein Geist.“
„Und Sie meinen, dass dies etwas Erwähnenswertes ist und nicht bereits von vornherein offensichtlich, guter Freund?“ grinste mich Holmes an.
„Überspannen Sie den Bogen nicht, Holmes! Mir war lediglich danach, ein wenig zu dösen, und Sie haben mich mit Ihren unwillkürlichen Geräuschen ständig wieder erweckt.“
„Nun, mein lieber Watson, Sie gehen fehl, wenn Sie meinen, diese Geräusche seien unwillkürlich gewesen. Vielmehr sind Sie Opfer meiner schändlichsten Absicht geworden.“ Sein Grinsen war eine Nuance boshafter geworden.
„Sie haben mich also tatsächlich absichtlich immer wieder geweckt?“, rief ich fassungslos.
„Ärgern Sie sich nicht, mein Junge. Ich genoss lediglich das sanfte, melodiöse Prasseln der Regentropfen auf den Fensterscheiben sowie das wohlklingende Knistern des Kaminfeuers. Dabei kam mir eine Eingebung, was die Herstellung höherer und vor allem stabiler Silane angeht. Ihre eigenen, durchaus martialischen Laute waren dieser meditativ getragenen Geistesarbeit nicht eben zuträglich.“
„Was sollen das denn bitte für Laute sein?“, fragte ich verwundert und durchaus etwas pikiert.
„Das Stichwort lautet Rhonchopathie, guter Freund. Sie schnarchen wie eine ganze Herde Longhorn-Stiere in der Nacht.“
„Wirklich?“, räusperte ich mich. „Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.“
„Sie sind wirklich noch nicht ganz wach, Watson. Wie sollten Sie denn Ihr eigenes Schnarchen hören können, wenn Sie doch selbst schlafen? Sei es drum, guter Freund. Sie haben mich damit jedoch derart abgelenkt, dass ich den Faden nun endgültig verloren habe. Nun muss es vielleicht einer späteren Generation obliegen, die Mysterien der höheren Siliziumwasserstoffe aufzudecken.“
„Jetzt übertreiben Sie aber ein wenig“, stellte ich klar.
„Wir werden sehen, Watson. Oder eben auch nicht.“
Als ich gerade – nun vollkommen erwacht – zu einer längeren Erwiderung ansetzten wollte, wurde unser eigenartiges Gespräch jäh unterbrochen. Wie so oft läutete die Türglocke Sturm – trotz des miserablen Wetters und der vorgerückten Stunde. Dies war immer ein untrügliches Zeichen für die Dringlichkeit eines Anliegens und dass ein potenzieller Klient sich keinen Aufschub leisten konnte, Holmes sein Problem vorzutragen.
Holmes‘ Erfahrungen deckten sich selbstverständlich mit den meinen. „Wollen wir mal sehen, wie groß die Not des abendlichen Besuchers tatsächlich ist. Ich bin gespannt, wen uns Mrs. Hudson emporführt und welches höchstwahrscheinlich nicht silizium-bezogenes Problem er uns präsentieren mag.“
„Hören Sie doch endlich mit Ihrem Silizium auf, Holmes!“ schnappte ich. „Sie werden schon wieder darauf kommen.“
„Ich will es hoffen. Doch nun wenden wir uns erst einmal dem jungen Herrn zu.“
Dass es sich bei unseren Gast um einen jungen Herrn handelte, konnte mein Freund noch nicht gesehen, dank seiner spitzen Ohren aber am schnellen und vielleicht forschen Schritt unseres Besuchers gehört haben. Es klopfte. Mrs. Hudson lies – wortlos, wie beinahe immer – unseren Besucher herein. Es handelte sich tatsächlich um einen jungen Mann, etwa fünfundzwanzig, von normaler Statur und Größe, glattrasiert, gepflegt und gut gekleidet, wenngleich sein Rock nicht eben von besonderem Reichtum sprach. In seinen Zügen lag etwas Defätistisches, obgleich er an sich recht freundlich wirkte.
„Geben Sie doch Dr. Watson Ihren Mantel und Ihre Melone, er hängt sie gern zum Trocknen an den Kamin. Setzen Sie sich hier auf die Couch“, wies Holmes unseren Besucher an, während er mir die triefenden Habseligkeiten in die Hand drückte. „Darf es vielleicht etwas Wärmendes sein? Brandy oder Scotch?“
„Whisky, Mr. Holmes.“ Murmelte unser Gast. Seine Stimme zitterte leicht. „Sie sind ja sicher Mr. Sherlock Holmes, nehme ich an?“
Holmes lächelte ermutigend. „Sie irren nicht, guter Mann, der bin ich. Und das ist mein Freund und inzwischen auch Kollege Dr. John Watson. Er ist so freundlich, mir gelegentlich bei komplizierteren Fällen zur Hand zu gehen.“ Ich nickte höflich und trocknete mir die Hände an meiner Abendpellerine.
„Ich grüße Sie beide. Mein Name ist Aldwyn Davies“, entgegnete unser Besucher ruhig und dennoch nicht ohne Anspannung. „Mich führt eine verzwickte Angelegenheit zu Ihnen. Ein guter Bekannter, Mr. Percy Armitage von Stoke Moran in Surrey, empfahl Sie mir. Gemäß seiner Worte haben Sie letztes Jahr seiner Frau das Leben gerettet, Mr. Holmes. Zudem berichtete er mir, dass Ihre Methoden schlichtweg als genial zu bezeichnen sind.“
„Die gute Ms. Stoner, jetzt wohl ‚Mrs. Armitage‘. Ich freue mich, dass ihr Leben sich nach dem Grauen, das sie einst durchmachen musste, offenbar so glänzend entwickelt hat“, freute sich mein Freund aufrichtig. „Jetzt berichten Sie uns doch aber, was Sie zu uns führt.“
Mr. Davies knetete seine Hände. „Sicher, Mr. Holmes“ begann er zögerlich, „Ich bin Tabakhändler und führe seit etwa einem Jahr ein kleines Geschäft auf der Bayham Street in Camden, woher ich auch Mr. Armitage kenne. Er kauft sich seine Zigarren, Schnupftabak und Zigarillos freundlicherweise schon vom ersten Tag an bei mir, immer, wenn er geschäftlich in London ist. Seinen Empfehlungen habe ich einen Großteil meines noch recht überschaubaren Kundenstamms zu verdanken. Jedenfalls betrat vor einer Woche ein Herr meinen Laden, der mir offenbar nicht von Mr. Armitage geschickt wurde. Ein grober bärtiger Bursche, breitschultrig und gekleidet wie ein Ganove. Er sprach mit einen irischen Akzent, würde ich sagen.“
„Was wollte er von Ihnen?“, bohrte Holmes nach.
„Das war am Anfang gar nicht so leicht zu sagen, Mr. Holmes. Zuerst ging er durch den Laden und befasste sich auffällig lange mit einigen meiner teuersten Zigarrenkisten. Qualitätswaren, die er sich nach meiner Auffassung nur schwerlich hätte leisten können. Nach einer Weile entschloss ich mich, ihn anzusprechen, und fragte, was er denn wolle. Was dann kam, war eigenartig. Er antwortete nicht auf meine Frage, sondern erzählte mir recht konfus von den zahlreichen Einbrüchen, die sich in den letzten Monaten in der Nachbarschaft ereignet hätten. Immerzu wären kleine Geschäfte betroffen und oftmals wären die Besitzer neben den erheblichen monetären Verlusten auch zu körperlichen Schaden gekommen. Er sagte mir, es sei eine Schande für das Empire, dass solchen anarchischen Banden nicht Einhalt geboten würde und man sich demzufolge nur selbst helfen könne.“
Holmes‘ Gesichtszüge hatten sich zunehmend verfinstert. „Stellte er sich noch irgendwie vor, nannte er einen Namen?“, hakte er nach.
„Nur indirekt, aber dazu komme ich noch“, meinte Mr. Davies. „Auf seine Rede, die übrigens zahlreiche Beispiele enthielt und sich gewiss über fünf Minuten erstreckte, fragte ich ihn, wer er denn sei und was seiner Meinung nach zu tun sei, um sich vor den Einbrecherbanden zu schützen. Auf die Frage nach seiner Identität ging er nicht weiter ein, allerdings wusste er genau, wie mein Schutz zu garantieren sei.“
Ich grummelte. „Vermutlich mit der Zahlung einer wöchentlichen Summe an ihn und seinesgleichen.“
„Ganz recht, Dr. Watson.“ Davies geriet in die Rage eines desperaten Mannes. „Sie haben es erkannt. Ein ganzes Pfund verlangte dieser Verbrecher von mir pro Woche, damit er und seine ‚Bürgerwehr‘, wie er seine Ganovenfreunde nennt, für die Sicherheit meines Geschäfts und meiner Person Sorge tragen. Ich wagte nicht zu sagen, dass es sich in meinen Augen bei der von ihm genannten ominösen Bande und seiner Bürgerwehr um ein und dieselbe Truppe handelt.“ Unser junger Gast fiel im Stuhl in sich zusammen. Ein erbarmungswürdiger Anblick. „Bedroht wie ich mich mittlerweile fühlte, warf ich lediglich ein, dass eine Guinee pro Woche fast meinem gesamten Gewinn entspräche. Darauf meinte er lediglich, dass er es damit doch sehr gut getroffen hätte, denn er könne aufgrund seiner Erfahrung gut einschätzen, wie hoch die Umsätze und Gewinne einzelner Geschäfte ausfallen. Dies sei sein ganz besonderes Talent. Darauf gab er mir eine Karte, auf der lediglich Bürgerwehr Camden Town und Mr. W stand. Kein ausgeschriebener Name, keine Adresse, nichts!“ Einen Moment lang war nichts zu hören. Dann merkte ich, dass das Trommeln des Regen aufgehört hatte.
„Wollte er die erste Zahlung bereits eintreiben?“ fragte Holmes. „Nein. Er sagte mir, ein anderes Mitglied der Bürgerwehr würde heute in einer Woche zur selben Zeit erneut mein Geschäft frequentieren und dann wäre die erste Zahlung fällig, dieser Herr könne nicht wechseln und ich solle es passend parat haben.“
Davies richtete sich wieder auf, seine Augen glänzten. „Was soll ich nur tun, Mr. Holmes? Ich kann doch kein Geschäft führen, in dem mir sämtliche Gewinne gestohlen werden. Wäre es nur der eine Ganove, könnte man mithilfe der Polizei vielleicht intervenieren. Aber was nützt mir das, wenn seine Kumpanen mir am nächsten Tag den Laden ausräumen?“
Holmes kniff die Augen zusammen. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Mr. W‘s Komplize morgen in ihrem Geschäft auftauchen wird, um die erste Schutzgeldzahlung entgegenzunehmen?“, wollte Holmes wissen.
„Nein, das war bereits heute Morgen. Ich habe die Angelegenheit leider etwas vor mir hergeschoben, Mr. Holmes. Ich lag seither viele Nächte wach und grübelte, was zu tun sei. Dann war bereits Dienstag und ich hatte bei allen dunklen Gedanken schlicht versäumt, etwas zu unternehmen. Heute, kurz bevor ich mein Geschäft geschlossen habe, kam Mr. Armitage, um seine Einkäufe noch zu erledigen, bevor er wieder aufs Land fuhr. Ich klagte ihm mein Leid und er drängte mich, Sie gleich nach Ladenschluss aufzusuchen.“
„Also war der Komplize heute Morgen bereits bei Ihnen und Sie haben ihn bezahlt?“
„Ja und nein, Mr. Holmes. Es erschien Mr. W und ich bezahlte widerwillig.“
Holmes merkte auf. „Erläuterte er, warum erneut er Sie aufsucht anstatt sein Kollege von der, wie er es so unschön nennt, ‚Bürgerwehr‘?“
„Damit eröffnete er sogar direkt. Seine Mitstreiter seien heute allesamt im Einsatz, da es wieder einige Einbruchsversuche gegeben hätte, welche sie im Sinne ihrer Kunden selbstverständlich hätten abwehren können. Zudem sei ein Kollege verletzt, versehrt im tollkühnen Kampf gegen die Verbrecher.“ Ich schüttelte skeptisch den Kopf.
„Gibt es irgendwelche weiteren Details, die Sie mir über den geheimnisvollen Schutzgelderpresser verraten können, mehr als das, was Sie mir bereits gesagt haben? Vielleicht über seine Kleidung, trägt er Tätowierungen, schwarze Fingernägel, gebügelte Ärmel? Was können Sie über sein Auftreten, seine Sprechweise hinter dem irischen Akzent sagen, welche Redewendungen hat er verwendet?“
„Er spricht recht leise und in der Art lag zwar etwas Bedrohliches, aber auch eine Spur Unsicherheit. Seine Kleidung ist sauber, jedoch nicht sehr geschmackvoll und auch nicht von sonderlich hoher Qualität. Er ist zwar muskulös, jedoch nicht besonders hochgewachsen. Er trägt einen Bart, der ebenso voll und rotblond ist wie sein Haupthaar. In seine gewöhnliche Taschenuhr, die sicher nicht aus einem edlen Metall gefertigt ist, klemmt er scheinbar seine Zugtickets mehrfach gefaltet hinein. Heute gelang es mir, das Wappen von Charing Cross darauf zu erkennen.“
„Bravo, Mr. Davies“, jubelte Holmes und klatschte dabei in die Hände. „Sie sind ein vorzüglicher Beobachter. Wenn Sie nicht so verängstigt wären, hätten Sie den Fall vermutlich schon selbst zu einem Abschluss gebracht. War es Ihnen denn auch möglich, beim ersten oder auch heutigen Male zu schauen, wohin sich Ihr Erpresser flüchtet, nachdem er Ihr Geschäft wieder verlassen hat?“ Der junge Mann leerte den letzten Bernstein-Tropfen aus seinem Whiskyglas.
„Vielen Dank, Mr. Holmes. Tatsächlich habe ich mich heute so sehr über mich selbst geärgert, dass ich, kurz nachdem er meinen Laden verlassen hat, auf die Straße gestürmt bin, um ihm hinterherzuschauen. Ich sah nur noch, wie er in eine Kutsche stieg, die sogleich wegfuhr.“
„War es eine private Kutsche oder eine Mietkutsche?“ bohrte Holmes nach.
„Eine Mietkutsche, würde ich sagen.“
„In welche Richtung fuhr sie?“
„Nach Süden, die Straße hinab Richtung Library. Sie bog an der Kreuzung nicht ab.“
„Da haben wir doch schon einiges zusammen. Noch eine letzte Frage. Konnten Sie bereits mit Ihren Nachbarn sprechen, ob Ihnen Ähnliches wie Ihnen widerfahren ist?“ Holmes hatte die Fingerkuppen aufeinandergelegt und sich in seinem Ohrensessel zurückgelehnt.
„Ich hatte bisher nur Gelegenheit, mit dem Krämer von nebenan zu sprechen“, erinnerte sich unser Besucher, „er wird seit etwa drei Wochen von Mr. W gepeinigt, muss jedoch weniger zahlen als ich.“ Jetzt nickte mein Freund und richtete seinen Kragen.
„Fein, Mr. Davies. Wirklich in Aktivität verfallen kann ich allerdings erst heute in einer Woche, wenn Ihnen Ihr Antagonist wieder die Aufwartung macht. Vielleicht gelingt es mir aber, bis dahin durch Recherchen und Denkarbeit schon etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Geben Sie mir doch bitte noch Ihre Karte, damit ich nächsten Dienstag ohne Umstände den Weg zu Ihnen finde. Ach, wären sie finanziell in der Lage, die Guinee für die letzte Zahlung auszulegen oder darf ich Ihnen aushelfen?“
„Das ist sehr freundlich Mr. Holmes, aber dass Sie sich meines Falls annehmen, ist mir schon mehr als genug Hilfe.“ Holmes und unser Gast erhoben sich. Plötzlich knisterte die Luft vor neuer Energie, wie sie Menschen mit Tatendrang versprühen.
„Gut, Mr. Davies, wann wird unser breitschultriger Unbekannter Sie am nächsten Dienstag aufsuchen?“
„Zehn Uhr, Mr. Holmes. Es soll jedoch erneut einer seiner Ganovenfreunde erscheinen.“
„Dann zahlen Sie ganz normal Ihr Schutzgeld und überlassen Sie den Rest mir und Dr. Watson. Ich melde mich bei Ihnen, wenn der Sachverhalt geklärt ist.“
Unser sichtlich erleichterter Besucher verabschiedete sich voller Dankbarkeit und versprach, Holmes‘ Bemühungen entsprechend zu entlohnen, was dieser mit einem desinteressierten Achselzucken quittierte.
„Sie waren nicht sehr freundlich, Holmes. Wenn er Ihnen doch eine Bezahlung für Ihre Dienste anbietet, ist das doch ein Grund zur Freude, oder nicht?“, merkte ich verwundert an. Holmes fixierte einen Punkt in weiter Ferne.
„Je nachdem, wie man es sieht. Wenn ich meine Hilfe von einer Bezahlung abhängig machen würde, käme ich mir nicht viel besser vor als jener Erpresser, der unserem Klienten das Leben schwer macht. Für mich ziemt es sich mehr, lässt mir jemand aus Dankbarkeit eine Summe zukommen, als wenn er denkt, Hilfe stünde ihm lediglich dann zu, wenn das Geld stimmt.“
Ich schmunzelte. „Aus Ihnen wäre gewiss kein guter Geschäftsmann geworden, lieber Freund“.
„Da haben Sie wohl recht, Watson. Meine moralischen Auffassungen zu geschäftlichen Angelegenheiten weichen ein ganzes Stück von der gängigen Praxis ab.“
„Zum Glück sind Sie Detektiv und Ihre Klienten sind zumeist dankbar“, lachte ich.
„Ganz recht, mein Freund. Aber was sagen Sie denn eigentlich zu dem kleinen Problem, dass uns unser Besucher freundlicherweise gebracht hat?“
„Nun, Holmes, mir erscheint das wie ein klassischer Fall bandenmäßiger Schutzgelderpressung. Und dabei dachte ich, so etwas kommt nur im südlichen Europa, beispielsweise in Italien, vor und nicht nur zwei Meilen vor unserer Tür. Und dann noch verübt von einer irischen Bande!“
Als ich mit meinem Monolog der Entrüstung geendet hatte, kicherte Holmes. „Keine voreiligen Schlüsse, mein Junge.“
„Sie meinen, dieser Halunke ahmt den irischen Akzent lediglich nach?“
„Auch das ist ein voreiliger Schluss Ihrerseits bezüglich der Intension, auf die meine Frage abzielt. Heute können wir allerdings sowieso nichts mehr in der Sache unternehmen. Das gibt Ihnen Zeit, etwaige Auffälligkeiten im Bericht unseres Klienten aufzuspüren, die Ihnen bisher möglicherweise noch gar nicht bewusst waren. Lassen Sie uns noch ein Pfeifchen genießen und gegen Ende der Woche schmieden wir einen Plan, wie wir dem Rätsel nächsten Dienstag auf die Spur zu kommen gedenken.“
So sollte es auch geschehen. Im Laufe der Woche ergaben sich gar noch zwei weitere kleinere Fälle. Beide konnte Holmes bequem im Lehnstuhl lösen, ohne dabei den Ort des Geschehens aufsuchen zu müssen. Dies war sogar häufiger der Fall, da es sich nicht um Probleme handelte, die ihn das Haus zu verlassen genötigt hätten. Es handelte sich um Alltagsbagatellen, beide in Bezug auf mutmaßlich untreue Ehegatten. In einem der beiden Fälle erkundigte sich Holmes bei seiner Klientin, warum sie sich denn über die Eskapaden ihres Ehemannes echauffiere, wenn es doch jedermann klar vor Augen stünde, dass sie ihn ebenso gewohnheitsmäßig hintergehe. Als sie sich wieder gefangen hatte, eröffnete sie Holmes, dass sie sich doch nur bemühe, zu bekommen, was ihr Mann ihr versage. Holmes‘ Ansicht, dass es doch dann nur gerecht wäre, wenn er sich ebenso anderswo hole, was sie ihm versagte, kam bei seiner Klientin nicht so gut an.
Oftmals rang ich mit dem Gedanken, meinen Lesern auch jene trivialen Begebenheiten in der Praxis meines Freundes zu präsentieren. Auch hierzu liegen mir zahlreiche Notizen vor, die vor allem aus den frühen Jahren meiner Zusammenarbeit mit Sherlock Holmes stammen. Ich entschied mich dennoch immer wieder dagegen, weil diesen Fällen entweder besondere deduktive Herausforderungen fehlten oder sie aber einfach nicht delikat genug für meine Leser gewesen wären.
So vergingen die Tage, ohne dass wir über die Schutzgeldsache gesprochen hätten. Holmes verließ in dieser Zeit kein einziges Mal unsere Wohnung. Manchmal verkroch er sich in seinem kriminalistischen Archiv auf dem Dachboden, manchmal widmete er sich einigen mir nicht verständlichen chemischen Versuchen und oftmals lag er einfach nur den halben Tag auf der Couch oder in seinem Bett. Schritt für Schritt war er abermals in einen jener melancholischen Zustände geglitten, aus denen ihn leider Gottes lediglich Rauschmittel zeitweilig befreien konnten, nur, damit er beim Erwachen noch tiefer in den Abgrund fiel, der sich vor ihm auftat. Nur, was seinen rastlosen Geist anzuzünden vermochte, heilte ihn für kurze Zeit scheinbar vollkommen. Somit sehnte ich die neue Woche herbei, wenn es endlich daran ging, die Bande dingfest zu machen, welche Mr. Davies und gewiss viele andere in Geiselhaft hielt.
Am Montagmorgen wirkte mein Mitbewohner von einem Moment auf den anderen wie ausgewechselt. Er summte beim Frühstück vor sich hin – wohl etwas von Bachs „Brandenburgischen Konzerten“ – und fing von selbst an – wider Gewohnheit der letzten Tage – über den Fall zu sprechen.
„Watson, ist Ihnen eigentlich noch gewahr, dass uns morgen einige spannende Ereignisse bevorstehen?“ Ich faltete träge die Montagmorgenausgabe der „Times“ zusammen. Das Fleisch lag noch in den Federn, der Geist Gott sei Dank war hellwach.
„Sicher doch, Holmes. Ich kann es kaum abwarten, diese Bande dingfest zu machen. Haben Sie eigentlich schon Scotland Yard informiert?“
„Ich denke, das schaffen wir zu Beginn erst einmal allein, mein Freund. Das Yard wird sich früh genug am Ort des Geschehens einfinden. Unser alter Freund Lestrade ist sicher begierig, seine Verhaftungsquote aufzupolieren. Zu Anfang unserer morgigen Unternehmung erscheint mir die Anwesenheit der Beamten allerdings eher hinderlich denn nützlich“, entgegnete Holmes.
„Wie Sie meinen. Gewiss haben Sie gute Gründe. Was haben Sie heute vor, Holmes?“
„Ich werde mich heute noch ein wenig in einigen Geschäften in Camden umhören. Wir werden sehen, was sich dabei in Erfahrung bringen lässt.“
Holmes brach nicht lang nach dem Frühstück auf und kam etwa zum Nachmittagstee wieder. Er wirkte weder euphorisiert noch konsterniert, vielmehr ausgeglichen bis heiter. Nachdem er abgelegt hatte, schenkte er sich eine Tasse dampfenden Earl Greys ein, setzte sich zu mir und winkte sogleich ab, als ich ihn nach seinem Tagesgeschäft fragte. Ich konnte meine Enttäuschung schlecht verbergen.
„Watson, ich ahne, dass Sie im höchsten Maße daran interessiert sind, zu erfahren, was hinter dem Ganzen steckt. Aber erinnern Sie sich an unsere Abmachung? Sie sollten einmal selbst auf die entscheidenden Indizien kommen.“
„Ich dachte, meine Frist sei bereits verstrichen, immerhin ist heute bereits Montag“, versetzte ich Holmes auf seinen unangenehmen Fingerzeig.
„Kommen Sie schon, Watson!“ polterte der Meisterdetektiv, berauscht vom Enthusiasmus, „erläutern Sie mir doch kurz und prägnant Ihre Kernthesen zum vorliegenden Fall.“
Ich seufzte. „Was soll’s, Holmes, ich versuche mein Bestes. Eine Bande von Ganoven hat kürzlich, wohl vor einigen Wochen, ihr Schutzgeldgeschäft auf den Straßenzug unseres Klienten erweitert. Dieser irische Bursche ist womöglich der Kopf der Bande, wenngleich man aus seiner Abstammung nicht automatisch folgern kann, dass es sich beim Rest des Syndikats ebenso um Iren handelt. Jetzt ist es an uns, diesen Mr. W zu verfolgen, sobald er morgen das Schutzgeld von Mr. Davies eingetrieben hat. Besser wäre es doch aber, wenn wir die ganze Bande auf einmal hopsnehmen könnten, oder Holmes?“
Er nickte eifrig. „Wir werden morgen alle am Verbrechen Beteiligten versammeln, darauf würde ich wetten, Watson.“
„Gut! Und was machen wir jetzt?“
„Jetzt genießen wir noch den Abend, mein Freund, und stecken uns eine dieser exquisiten Zigarren an, die ich vorhin im Tabakgeschäft erworben habe. Der Rest klärt sich morgen. Machen Sie sich bereit, morgen um acht Uhr mit mir aufzubrechen.“ Ich ächzte.
„Nach Camden oder Charing Cross, Holmes?“ wollte ich wissen, denn ich erinnerte mich an das Bahnticket in der Uhr des Verdächtigen.
„Für Sie geht es nach Camden Town, ich werde Sie und diesen Halunken in der Wartehalle von Charing Cross empfangen.“
Meine Kinnlade klappte herab. „Soll ich mich etwa mit diesem Kerl zusammentun?“
„Gewiss nicht, Watson. Sie sollen ihm unauffällig mit einer Kutsche folgen, die Sie nach Ihrer Ankunft unweit vom Tabakgeschäft warten lassen. Sollte er doch spontan seine Pläne ändern, ist es von eminenter Wichtigkeit, dass Sie herausfinden, wo er hinfährt.“
„Ich werde mich mühen, Ihren Erwartungen zu genügen, Holmes.“
Mir war nicht recht wohl bei dem Gedanken, so viel Verantwortung zu tragen. Sollte Mr. W sich doch entgegen der von Holmes aufgestellten Pläne verhalten, blieben Erfolg oder Niederlage an mir und letztlich der Handlungsschnelligkeit meines Kutschers hängen. Wie es Holmes‘ Gewohnheit entsprach, sprach er im Laufe des Abends nicht mehr über unseren Fall.
Am nächsten Tag war ich zur von Holmes bestimmten Zeit bereit und nachdem wir nicht weit von Baker Street 221b zwei Kutschen ergattern konnten, befanden wir uns auch schon auf dem Weg zu unseren jeweiligen Zielen. Meine Strecke war nicht weit und kurz nachdem wir den Regent‘s Park links hinter uns gelassen hatten, erblickte ich auch schon bald mein Ziel. Auf dieser Straße hatten sich viele Geschäftstreibende niedergelassen, Krämer, Gemüsehändler, ein Barbier, mehrere Cafés, zwei Bäckereien und letztlich das Tabakgeschäft Davies tobacco. Wir fuhren daran vorbei und hielten beim nächsten Abzweig. Dies erschien mir günstig, denn die Wahrscheinlichkeit, dass er nach Süden Richtung Charing Cross fuhr, war aus meiner Sicht größer, als dass er nach Norden wollte. So konnte ich seiner Kutsche im besten Fall diskret folgen. Schräg gegenüber des Tabakgeschäfts fand sich ein Café mit einem Tisch direkt vorm mannshohen Fenster. Nachdem ich meinem Kutscher genaue Anweisungen gegeben hatte, ließ ich mich nieder und trank einen Kaffee, zudem gönnte ich mir einige Stücke Orange Cake, die vom Vortag übriggeblieben waren. Genau eine Minute vor zehn erspähte ich dann einen rothaarigen, bärtigen jungen Herrn, der langsam von Nordenwesten aus auf das Geschäft von Mr. Davies zusteuerte. Doch wo war seine Kutsche? Ich zählte ein paar Geldstücke ab und stürmte aus dem Café. Der Erpresser hatte das Tabakgeschäft bereits betreten. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er wieder im Freien war und ich wollte die Kutsche unbedingt vorher finden, um sie zum richtigen Zeitpunkt schneller verfolgen zu können. Aber was, wenn er gar nicht mit einer Kutsche angereist war? Vielleicht war er per Fahrrad hergekommen oder wollte gar mit dem Zug nach Charing Cross fahren? Ich versuchte, mich zu sammeln und meine Gedanken in neue Bahnen zu lenken. Wie ich so hektisch auf- und abschritt; einmal ein paar Yards die Straße hinauf, dann einige Yards die Straße hinab, fiel ich sicherlich auf wie ein Geistesgestörter – das Gegenteil des unauffälligen Ermittlers, den ich doch abzugeben suchte. Mein Verdächtiger folgte der Straße in südöstlicher Richtung, was nahelegte, dass die vermutete Kutsche in der Nähe der meinen stand. Ich schritt also die Straße auf meiner Seite hinauf und schräg gegenüber tauchte schon bald eine zweite Kutsche auf. Das musste sie doch sein. Oder etwa nicht? Wieso aber hatte uns Mr. Davies – wie ich mich gerade wieder erinnerte – berichtet, dass er gesehen hätte, wie sein Peiniger in die Kutsche eingestiegen war? Auf dieser Position dürfte ihm das nicht möglich gewesen sein. Als wenig später ein Ehepaar, das aus dem naheliegenden Haus getreten war, die Kutsche bestieg, hatte sich diese Frage bereits wieder erledigt. Was, wenn ich ob meines sinn- und ziellosen Streunens nun diesen Mr. W völlig verpasste und er das Geschäft schon längst wieder verlassen hatte? Ich kehrte also wieder um Richtung Bayham Street und wartete an der Straßenkreuzung. Die Bordsteine wurden von mehreren Kutschen gesäumt. Auf einmal öffnete sich die Tür zum Tabak-Geschäft. Mein Verdächtiger kam mir langsam entgegengeschlendert, zückte dabei ein kleines goldfarbenes Notizbuch, blätterte über einige Seiten und vermerkte auch etwas darin. Er steckte es wieder in seine Jackettasche, warf nervöse Blicke über seine Schulter und näherte sich dabei meiner Position. Holmes wiederholte gerne gebetsmühlenartig, man dürfe den Subjekten einer Beschattung niemals unverkleidet gegenübertreten. Doch kurz bevor er meinen Beobachtungspunkt erreicht hätte, überquerte er die Straße und hielt schnurstracks auf eine Kutsche zu, die schräg gegenüber direkt an der Kreuzung stand. Diesen Zweispänner im gewöhnlichen Lackschwarz konnte Mr. Davies vom Laden aus tatsächlich gerade eben noch gesehen haben, vermutete ich. So wartete ich, bis Mr. W eingestiegen war, bevor die Verfolgungsjagd beginnen sollte. Mir fiel auf, dass er sich lange mit dem Kutscher befasste – und ihm dann das kleine schimmernde Notizbuch übergab. Warum tat er das? Wollte er ihm so wenig von sich preisgeben wie möglich und schrieb seine Zieladresse da hinein, damit man seinen Akzent nicht zu hören bekam? Immerhin konnte ich erkennen, wie sich die Lippen des Manns auf dem Bock bewegten. Sie waren weißlich und fleischig. Mein Verdächtiger hatte mir den Rücken zugedreht. Dann sprang er rückwärts und die Kutsche setzte sich in Bewegung. Kurz rief ich meinem Fahrer zu, welchem Wagen er seine Aufmerksamkeit widmen sollte, und schon begann die – wie ich hoffte – unauffällige Observierung. Zwei Straßen vor Charing Cross, nämlich Bedfordbury Ecke Bedford Court, bremste die Kutsche meines Subjekts scharf. Er stieg aus, schwang sich auf ein Fahrrad, dass an einer Straßenlaterne gelehnt hatte, und fuhr geschwind Richtung Garrick Street. Ich befahl dem Kutscher, rasch zu wenden und dem Radfahrer zu folgen. Bei Covent Garden schlängelte er sich zwischen einer Droschke und einem abbiegenden Omnibus hindurch und verschwand um eine Ecke. Bis die beiden Pferdegespanne uns den Weg freigegeben hatten, war Mr. W entkommen. Ich schlug mit der Hand auf den Fensterrahmen. Ab irgendeinem Zeitpunkt musste er geahnt haben, dass sich ihm jemand an die Fersen geheftet hatte. Weshalb sonst hätte er sich mir derart gekonnt entziehen sollen? Ich bat den erhitzten Kutscher, durch die nahegelegenen Straßen zu kreuzen, damit ich nach dem Rad Ausschau halten konnte. Doch vergebens. Die Spur war erkaltet. Und ich zutiefst ernüchtert. Holmes würde, ob meiner dilettantischen Ermittlungen, nun umsonst in der Wandelhalle von Charing Cross auf den mutmaßlichen Kopf dieser Bande warten. Auch Mr. Davies und seine Leidensgenossen hatte ich in große Gefahr gebracht. Sicher wusste Mr. W, dieser Halunke, dass ihn jemand verpfiffen hatte und da meine Jagd just einsetzte, als er gerade aus dem Geschäft von Mr. Davies getreten war, musste naheliegen, wer. Ich entschloss, zum Bahnhof zu fahren und Holmes reinen Wein einzuschenken. Die Kutsche knirschte und hielt, ich stieg aus und entlohnte meinen Fahrer, nicht ohne ihm für den Verlust seiner Nerven ein edles Trinkgeld zu spendieren. Gesenkten Hauptes machte ich mich auf, Holmes im Bahnhof Gesellschaft zu leisten.
Die große Halle mit ihren charakteristischen Bogengängen und ihren Boutique-Geschäften wimmelte wie ein Ameisenbau. Hier durfte ich ihn ausfindig machen. Wunderbar. Jedoch saß er weder auf einer der vielen Sitzreihen, noch konnte ich ihn in einer der zahlreichen Menschentrauben erspähen. Hinzu kam, dass zwei Herrschaften recht laut einen Disput austrugen. Der eine, ein lumpiger alter Trinker, hatte den anderen sogar schon am Schlafittchen gepackt. Seinem dem Hut, den lederverstärkten Hosen und dem schweren Mantel nach musste dieser ein Kutscher sein. Und – ich riss die Augen auf – nicht irgendeiner! Ich erkannte die weißen, aufgeplatzten Lippen. Als ich gerade versuchte, meiner Gedanken Herr zu werden, riss der Kerl sich los, holte einmal kräftig aus und verpasste dem zerlumpten Trinker eine gewaltige Rechte, direkt ins Gesicht. Der Mann landete auf seinen Knien, Blut sprenkelte den Marmorboden. Als ich dazwischengehen wollte, stützte sich der Zerlumpte flugs auf seine Hände, schwang das Bein und fällte seinen Kontrahenten. Genau in diesem Moment zerriss ein lauter Pfiff die Luft. Vier Constables stürmten aus allen Richtungen auf das Geschehen zu. Der Muskelberg unter den Männern packte den Kutscher, ließ stumm die Handschellen klicken und übergab ihn seinen Kollegen. Ich war derweil auch am Ort des Geschehens, gerade rechtzeitig, als ein kleiner Mann mit Frettchengesicht sich des Trinkers annehmen wollte. Dieser hatte sich mittlerweile aufgerichtet und begann mit einer mir wohlvertrauten Stimme zu sprechen.
„Inspektor, schön, dass Sie es sich doch noch einrichten konnten“ meinte er aufgeräumt und klopfte sich den Staub von den Hosen.
„Sind Sie das wirklich? Ich hatte ja keine Ahnung, welch formidablen Säufer Sie abgeben würden“, scherzte Inspektor Lestrade, den ich natürlich sofort erkannt hatte. Dass unter all den Lumpen und all der Schminke jemals Sherlock Holmes zu vermuten war, konnte ich jedoch immer noch nicht behaupten.
„Watson, darf ich meine Verwunderung über den Umstand zum Ausdruck bringen, dass Sie mir nicht wirklich eine Hilfe dabei waren, diesen Rowdy zu besänftigen?“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Es kommt noch viel schlimmer, Holmes. Leider ist mir der Erpresser auch noch entwischt. Ich kam hierher, um Ihnen von meinem Misserfolg zu berichten.“
Holmes tätschelte meinen Arm. „Da gehen Sie fehl, mein lieber Watson. Ihren eigentlichen Auftrag haben Sie meiner Erwartung gemäß ausgeführt“, kicherte er und entblößte dabei eine beeindruckende Zahnlücke.
„Das müssen Sie mir erklären. Wie mein Misserfolg Ihnen gedient haben soll, ist mir schleierhaft. Ist Ihnen aber bereits aufgefallen, dass Sie etwas verloren haben?“ Holmes war verwundert.
„Ich habe doch das Notizbuch, Watson. Die Tatsache, dass ich es ihm abgenommen habe, machte diesen Burschen doch erst so ungehalten.“ Er hielt sich den Kiefer, das Antlitz vom Schmerz gezeichnet. Ich suchte indes den Fußboden ab und wurde bald fündig.
„Bitteschön, Holmes. Das haben Sie verloren“, rief ich süffisant, als ich ihm seinen linken oberen Eckzahn vor die Nase hielt.
„Ach du lieber Gott!“, wehklagte Holmes. „Dieser elende Mistkerl! Nun muss ich heute auch noch nach Chelsea, um mir von Harrows Hilfe leisten zu lassen.“
„Harrows? Ist das nicht dieser eigenartige Barbier, den Sie vor einigen Monaten vor einer Klage bewahrt haben? Holmes, es gibt doch gelernte Zahnärzte. Ein geübter Dentist ist dieser Aufgabe mit Sicherheit besser gewachsen als ein zwielichtiger Barbier. Wir leben doch nicht mehr in der Georgianischen Ära, wir können uns so vieler medizinischer Errungenschaften bedienen“, versetzte ich Holmes entschieden.
„Eben deshalb werde ich Harrows aufsuchen, mein lieber Watson. Er verfügt über weitaus fortschrittlichere Materialien und Werkzeuge als all die Scharlatane, die sich Zahnärzte nennen und noch nicht einmal etwas von der Notwendigkeit einer gründlichen antiseptischen Behandlung gehört haben. Nun gut, meine Herren.“ Er wandte sich an Lestrade. „Inspektor, Sie wissen ja Bescheid. Ich hoffe, Sie bekommen diesen Vogel zum Singen. Ansonsten suchen Sie mich gern jederzeit auf. Mir wird es eine Freude sein, Ihnen die fehlenden Glieder der Beweiskette auf die Schnur zu fädeln. Watson, ich würde sagen, wir sehen uns heute am frühen Abend in der Baker Street.“
Sherlock Holmes schwebte davon, sich sein Gebiss bei diesem Barbier wohl vollends ruinieren zu lassen, und ich blieb allein in der großen Halle am Bahnhof Charing Cross zurück. Mit all den Fragen, die mich malträtierten. Was steckte hinter diesem Rätsel und warum interessierte sich Holmes offensichtlich kein Stück dafür, diesen Lump zu finden, der mir durch die Lappen gegangen war? Oder kannte er schon dessen Fluchtort? Hatte er Lestrade diesbezüglich bereits Anweisungen gegeben? Liefen bei dem verhafteten Kutscher und dem Notizbuch schon sämtliche Fäden zusammen, um die Bande einschnüren zu können? Wahrscheinlich nutzte ihr krimineller Kopf diesen Kutscher als Kurier für Informationen und vielleicht auch für die Schutzgelder, die er und seine Kumpanen eintrieben, dachte ich bei mir. All jene Fragen konnte mir wie so oft nur Holmes selbst beantworten. So musste ich mich also in Geduld üben, bis Holmes am Abend mit, wie ich hoffte, intaktem Gebiss in unserer Wohnung aufgetaucht wäre. Ich schickte mich an, den Nachhauseweg anzutreten. Gott sei Dank zeigte sich das Herbstwetter nach den vielen Regenfällen der vergangenen Wochen inzwischen von seiner zahmsten Seite und so entschloss ich mich, um meiner Gesundheit einen Dienst zu erweisen, zu Fuß zu gehen. Nach gut einer Stunde hatte ich mein Ziel erreicht und nahm verspätet ein kleines Mahl zu mir, das Mrs. Hudson freundlicherweise für mich und Holmes warmgehalten hatte. Nach dem Essen fiel ich in meinen Kaminsessel und schlief schon bald ein. Es wurde bereits dunkel, als mich die sonore Stimme von Sherlock Holmes aus Hypnos' und Somnus' Umarmung riss.
„Holmes, wie spät ist es denn?“, stammelte ich schlaftrunken ins Halbdunkel.
„Bereits fünf, guter Freund. Hat Ihnen Ihre heutige Exkursion mehr zugesetzt als erwartet? Ich hätte hier drin Corellis Violinensonate darbieten können und Sie hätten nichts davon zur Kenntnis genommen. Einzig die Herde Longhornrinder, die Sie – davon bin ich allmählich überzeugt – irgendwo hier verstecken müssen, hätte mich daran gehindert.“ Holmes lachte ungeniert. Mühsam rappelte ich mich hoch.
„Wenn Sie mich diesbezüglich weiterhin so piesacken, werde ich um jeden Preis einen Weg finden, dies zu bewerkstelligen, Holmes“, rief ich teils belustigt, teils vergrätzt.
„Schon gut, Watson, alter Junge,“ meinte mein Mitbewohner und reichte mir versöhnlich eine Tasse heißen Earl Greys. „Meine gute Stimmung können Sie als Resultat unseres heutigen Tagwerks verstehen. Matthews hat gestanden und wird für lange Zeit auf Kosten der Königin besonders dicke Wände von innen bewundern dürfen.“
„Matthews? Wer ist Matthews?“, wollte ich zwischen zwei Schluck Tee wissen.
„Natürlich der Kutscher, dem ich meinen Besuch bei Harrows zu verdanken habe! Übrigens, was sagen Sie zum Resultat?“, Holmes formte seine Mundpartie zum breitesten Lächeln, das ihm anatomisch möglich war. Ich riss die Augen fast ebenso weit auf.
„Das ist ja beeindruckend, Holmes! Es sieht fast so aus, als sei es ihr echter Zahn.“
„Das ist auch mein echter Zahn. Matthews war so freundlich, ihn an der Wurzel auszuschlagen. So konnte Harrows ihn beinahe im Ganzen wieder einschrauben. Nach einer gründlichen Desinfektion und Entfernung der Wurzel bohrt er dafür ein kleines Loch in den Kiefer. Wenn er den Zahn gründlich abgeschliffen und gereinigt hat, präpariert er ihn mit einer festen rostfesten Schraube. Dann wird der Zahn eingedreht, was bei Eckzähnen besonders einfach ist.“ Holmes grinste erneut über beide Ohren. „Das Betäubungsmittel war auch nicht zu verachten“ meinte er und ich fragte mich, was Harrows ihm da verabreicht hatte.
„Ob das standhält? Immerhin ist er ein Barbier und kein Fachmann“, warf ich skeptisch ein. Holmes fuhr mit der Zunge über seinen auferstandenen Eckzahn.
„Immerhin würden Sie mich doch durchaus als Fachmann der Kriminalistik bezeichnen oder nicht, Watson?“
„Aber ganz gewiss, Holmes. Sie sind mit Sicherheit der führende Fachmann in diesen Bereich!“ sprach ich voller Überzeugung.
„Und dennoch bin ich weder ein regulärer Polizist, noch habe ich ein Studium der Kriminologie absolviert. Ich bin Chemiker und habe mir meinen Beruf selbst kreiert. Damit möchte ich nur Folgendes zum Ausdruck bringen: Nicht immer ist der Amateur dem Professionellen unterlegen. Immerhin stammt das französische Wort ‚Amateur‘ vom lateinischen amator, was so viel wie ‚Liebhaber‘ heißt. Der Liebhaber einer Profession legt oftmals mehr Leidenschaft an den Tag als der Professionelle, denn er betreibt sein Fach aus Überzeugung; nicht nur, um damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.“
„Nun Holmes, ich wünsche Ihnen, dass dieser Harrows der ‚Sherlock Holmes‘ der Stomatologie ist“ meinte ich und leerte den letzten Tropfen aus meiner Tasse.
„Das ist er, mein lieber Watson. Aber nun wollen wir uns doch ein wenig zurücklehnen, oder in ihrem Fall aufrichten, und das Geschehene Revue passieren lassen.“ Holmes lehnte sich in seinem Ohrensessel zurück, entfachte seine Pfeife und blies mächtige blaue Wolken in die Luft.
„Sehr gern, Holmes. Ich sehe ja noch immer nicht, warum Sie sich nicht dafür interessiert haben, den Kopf der Bande dingfest zu machen und sich stattdessen nur mit dem Kutscher und diesem Buch befassen. Ich bin voller Gewissensbisse, dass mir dieser Ganove entkommen ist.“
„Ruhig Blut, mein Freund. Wie heute Mittag bereits gesagt, haben Sie genau das vollbracht, was ich mir von Ihnen erwartet habe. Sie haben für jede Menge Ablenkung gesorgt, so dass sich der eigentliche Ganove in Sicherheit gewogen hat.“
„Das müssen Sie mir genauer erklären, Holmes. Sie haben mich also unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dem Falschen hinterhergeschickt, um in der Sache des diabolischen Kutschers freie Bahn zu haben?“ Ich war empört.
„Ein wenig kapriziös ausgedrückt, aber durchaus zutreffend“, antwortete Holmes mit einem Schmunzeln.
„Ich bitte um Verzeihung, Sie kennen ja meinen Hang zum Dramatischen. Dennoch bin ich der Ansicht, dass Sie die von mir erhofften Rollen besser ausfüllen können, wenn Sie sich derselben nicht ganz bewusst sind. Sie sind einfach ein viel zu aufrichtiger und geradliniger Mann, als dass Sie im Mantel einer Sache auftreten könnten, wenn Sie doch darunter eine andere Absicht verbergen.“
„Das stimmt mich wieder etwas versöhnlicher. Jetzt klären Sie mich aber bitte über die Hintergründe dieses Rätsels auf“, drängte ich ihn.
„Gewiss, Watson. Sie entsinnen sich noch an den Bericht unseres Klienten, indem Sie keine weiteren Auffälligkeiten identifizieren konnten?“
Ich nickte. „Sicher doch. Auch jetzt will mir nicht aufgehen, was so Besonderes aus den Worten von Mr. Davies zu deduzieren wäre.“
„Folgendes fiel mir auf, guter Freund“, Holmes hatte seine Pfeife erneut angezündet und unterbrach sich des Öfteren für einige genüssliche Züge. „Mr. Davies meinte, dass es sich um eine Mietkutsche handelte, mit der Henry Waters, wie er übrigens mit vollem Namen heißt, davongefahren sei. Gewiss bediente sich Waters immerzu desselben Kutschers, da seine Schurkenstücke sonst schnell auf irgendeine Weise die Runde unter Unbeteiligten gemacht hätten. Die führenden Köpfe solcher Banden machen sich zudem selten die Hände schmutzig, was in mir den Verdacht reifen ließ, dass der Kutscher mindestens Mitwisser sein, wenn nicht durchaus direkt involviert oder auch genauso gut über Waters in der Hierarchie stehen könnte. Mich machte es schon zur Mitte von Mr. Davies‘ Bericht stutzig, dass Waters entgegen seiner Behauptung auch beim zweiten Besuch persönlich erschien.“
„Seine Kumpanen wären indisponiert, meinte er.“ Holmes‘ Augen glitzerten.
„Ja, nur was ist das für eine eigenartige Ausrede und warum erklärt er sich überhaupt bei seinem Opfer? Spätestens durch den heutigen Besuch war klar, dass Waters im Wesentlichen allein handelt. Den Kutscher hatte ich jedoch schon in Verdacht, als ich letzte Woche erfuhr, dass Waters mit einer Mietkutsche unterwegs ist. Somit machte ich mich gestern auf, um zu überprüfen, ob der werte Herr auch montags Geschäfte macht. Mr. Davies sagte ja, dass der Krämer ein weiteres Opfer sei. Wenn jedoch der Nachbar unseres Klienten ebenso erpresst wird und davon auszugehen ist, dass noch mehr Geschäfte in der Nachbarschaft betroffen sind, ist es doch ungewöhnlich, dass der ‚Mafioso‘ gleich nach dem Besuch im Tabakgeschäft wieder verschwindet. Viele Läden dort öffnen erst um neun oder halb zehn. Kaum vorzustellen, dass er vorher Gelegenheit fand eine große Runde zu drehen. So keimte in mir der Verdacht, dass die ‚Bürgerwehr‘, wie sie Waters so inadäquat genannt hat, gar nicht existiert. Für mich reduzierte sich das ganze Geschehen auf Waters und den Kutscher. Ich befragte also zahlreiche Nachbarn auf der Bayham Street und in den Nebenstraßen. Bis auf den Krämer war niemand von Waters belästigt worden. Damit stand für mich fest, dass es sich nur um das Gespann Waters-Matthews handeln konnte. Waters hinterließ laut den Berichten des Krämers und nicht zuletzt auch laut Mr. Davies einen nicht allzu professionellen Eindruck.“
„Ihnen standen demzufolge diesmal auch nur zwei vage Hypothesen zur Verfügung“, merkte ich an.
„Sie wissen es doch nur allzu gut, Watson. Ich werde nicht müde, zu erwähnen, dass es jene kleinen Auffälligkeiten sind, denen selbst professionelle Detektive jede Relevanz absprechen. Jene kleinen ‚Absonderlichkeiten‘“ – Holmes malte Gänsefüßchen in die rauchgeschwängerte Luft – „sind ungeachtet ihrer scheinbaren Irrelevanz mit Abstand am wichtigsten. Nehmen Sie eine mathematische Formel, deren Lösung nicht stimmt. Stachen Ihnen die Fehler ins Auge, bräuchte man keinen Fachmann hinzuzuziehen. Stimmt aber irgendwo ein Vorzeichen nicht oder eine Potenz liegt um eine Zahl daneben, kann nur ein Fachmann erkennen, dass hier ein winziges Detail enorme Auswirkungen auf das Resultat hat. Aber zurück zu unserem Fall.
Nachdem in mir die Gewissheit gereift war, dass wir es lediglich mit zwei Kleinkriminellen zu tun haben, legte ich mir eine Maskerade zu und betrat den Krämerladen. Der Kleinhändler berichtete mir, dass Waters, den er auch nur als Mr. W kannte, immer montags um elf Uhr bei ihm aufschlug. So wartete ich nicht lange. Waters kam pünktlich, trieb sechzehn Schillinge ein und verschwand sogleich wieder. Ich folgte ihm unauffällig. Auf dem Weg zu seiner Kutsche sah ich, wie er etwas in sein goldenes Büchlein kritzelte. Ich näherte mich ihm dabei gerade so weit, um zu erkennen, dass sich auf der aufgeschlagenen Seite eine Tabelle mit Daten und lediglich zwei wöchentlich wiederkehrenden Namen befand. In der letzten Spalte wurde der jeweils eingetriebene Betrag eingetragen. Dann schlug Waters die hinterste Seite des kleinen Buches auf und betrachtete sie wehmütig. Dort war die Photographie eines kleinen Mädchens eingeklebt. An der Kutsche angekommen – ich verbarg mich derweil direkt in Hörweite des Geschehens an einem kleinen Blumenstand – wurde ich Zeuge, wie Waters diesem Matthews das kleine goldene Buch zurückgab und dabei sagte, dass er nicht mehr lange ertrüge, was er tun muss. Matthews erwiderte, dass klar wäre, was im Ernstfall geschähe, wie bezaubernd doch seine kleine Tochter sei und wie jammerschade es wäre, müsse sie ohne ihren Vater aufwachsen. Er sprach diese grausamen Worte mit so viel Kälte und Bosheit, dass keine Zweifel mehr an der Identität des wahren Übeltäters blieben. Ich kaufte also den Strauß Herbstblumen, den zu kaufen von mir erwartet wurde – immerhin hatte ich mehrere Minuten dagestanden und mich höchst interessiert gezeigt – und folgte kurz danach mit meiner Droschke dem Zweispänner dieses Scheusals. An der Charing Cross Station angekommen, entstiegen beide der Kutsche und Matthews übergab sie einer Mietstaton. Ich folgte beiden an den Ticketschalter. Matthews kaufte ein Ticket nach Croydon, Waters eines nach Gravesend. Ich entschloss, mir Matthews für den nächsten Tag aufzuheben und dafür das Gespräch mit Waters zu suchen. Als Matthews sich mit drohenden Blick von Waters verabschiedete, um zu seinem Gleis zu gehen, hatte es sein Opfer eilig, den Ort des Geschehens zu verlassen. Ich mühte mich, ihm auf den Fersen zu bleiben. Am Bahnsteig hatte ich Waters endlich eingeholt und ich konfrontierte ihn offen. Er verfiel zunächst beinahe der Panik. Ich konnte den armen Kerl mit dem Versprechen beruhigen, dass ich ihm helfen würde und das Martyrium für alle Beteiligten beenden wolle. Er verpasste seinen Zug, dafür hatte er schließlich Gelegenheit, sich seinen Kummer von der Seele zu reden.“ Ich war hellwach, und begierig zu erfahren, was dieser Lumpenhund dem armen Mann angetan hatte.
Holmes fuhr nach einer weiteren Unterbrechung fort. „Samuel Waters ist Stellmacher und arbeitet in Gravesend. Er lernte unseren ominösen Mr. Matthews in jener Werkstatt kennen, in der er auch arbeitet. Matthews beauftragte ihn mit der Erneuerung des Radwerks aller sieben Mietkutschen seines Betriebes. Eines Tages war Mr. Waters so unvorsichtig, ein für ihn äußerst kompromittierendes Dokument mit zur Arbeit zu nehmen. Ich bin nicht der Meinung, dass es nötig ist, zu berichten, wessen genau sich Waters schuldig gemacht hat, als er noch ein junger Mann ohne Ersparnisse und frischgebackener Vater war. Nur so viel: Er übervorteilte eine mächtige Firma, um seiner Frau, seinem Säugling und sich selbst ein Leben auf der Straße oder im ungezieferverseuchten Armenhaus zu ersparen. Ein Delikt aus purer Verzweiflung, geschehen zum Wohl seiner Liebsten, das der Allgemeinheit keinen nennenswerten Schaden zugefügt hat.“
Ich machte mir so meine Gedanken. Mit welchem Sonderrecht durfte Holmes beurteilen, welches Verbrechen einer Ahnung würdig war und welches nicht?
„Und Sie meinen, Ihnen steht diese moralische Bewertung zu, Holmes?“
„Das tue ich in der Tat, mein lieber Watson“, erwiderte er seelenruhig, „zu oft werden in unserer Gesellschaft die sogenannten einfachen Leute mit der ganzen Härte des Gesetztes verfolgt, währenddessen reiche Männer, die jedermann kennt, mit perfider Raffinesse abseits der Legalität tun können, was sie wollen. Samuel Waters ist ein großherziger und aufopferungsvoller Familienvater. Dieser Familie ihr Oberhaupt zu rauben, nur weil er einem äußerst wohlhabenden Mann die objektiv unbedeutende Summe für einige Monate bescheidenen Lebens abgenommen hat, stand für mich nie zur Debatte. Dem besagten Unternehmer ist durch den Verlust des Geldes weder ein sichtbarer Schaden entstanden, noch wird er je davon erfahren, dass er beraubt wurde. Matthews, mit seinem schlangenhaften Instinkt für strauchelnde Seelen, verstand es auf teuflische Weise, seinen Vorteil aus jenem Dokument zu ziehen. Er ersann den Plan, sich hinter der Deckung von Mr. Waters wöchentlich einige Pfund hinzuzuverdienen und erpresste unseren Stellmacher mit seinem Wissen um das brandgefährliche Papier. Sollte Waters irgendwann von der Polizei gestellt werden, wäre Matthews selbst fein raus, denn sein Opfer würde es niemals wagen, ihn zu verraten, gerade um sich selbst vor einer noch längeren Gefängnisstrafe zu bewahren.“ Ich schüttelte den Kopf und nahm einen ungesund langen Zug von meinem Zigarillo. Welch Perfidie.
„Ich entschied mich, diesem armen Mann sämtliche Offerten zu machen, die mir sinnvoll erschienen“, fuhr Holmes fort. „Dass ich Lestrade nötigen würde, Waters‘ altes Vergehen und auch seine Beteiligung am Betrug vom Matthews nicht aufzurollen – lieferte er dafür Matthews ans Messer. Zudem setzte ich ihm en Detail auseinander, wie er sich heute verhalten müsse, wenn Sie, mein guter Freund, ihn mit der Kutsche verfolgen würden.“ Ich fuhr hoch.
„Er wusste also, dass sie beschattet wurden, Holmes? Eine Vorwarnung wäre hilfreich gewesen!“ Ich war schockiert, dass er das getan hatte, ohne mich vorher einzuweihen.
„Watson, sehen Sie es doch einmal folgendermaßen: Immerhin sind Sie doch kein so unfähiger verdeckter Ermittler, wie Sie bis eben noch angenommen haben. Vielleicht wären Sie den beiden Herren nie aufgefallen, wenn ich Waters nicht in Kenntnis gesetzt hätte. Aber zurück zu meinem Bericht.
Waters erhielt von mir die Anweisung, kurz vor Charing Cross nervös auszurufen, dass sie verfolgt würden. Matthews ist ein Widerling, aber ein extrem vorsichtiger. Waters sollte ihm vorschlagen, auszusteigen, um den ‚Schatten‘ von der Kutsche abzubringen, da er sicher lieber den mutmaßlichen Täter verfolgen würde als Matthews. Darauf musste Matthews einfach eingehen und er tat es Gott sei Dank auch. Waters floh also zu Fahrrad. Ich eilte voraus nach Charing Cross, warf mich in die Scharade des Trinkers und wartete auf Matthews. Ich stibitzte ihm ungelenk das Buch, brach wie mit Lestrade vereinbart eine Prügelei vom Zaun und konnte Matthews‘ Opfer so eine erneute Konfrontation mit seinem Peiniger ersparen. Waters konnte sich Ihrem Zugriff entziehen, was nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Da Sie ihn so schnell aus den Augen verloren haben, konnten Sie allerdings immerhin noch Zeuge werden, wie Sherlock Holmes seinen linken oberen Eckzahn in der pittoresken Kulisse von Charing Cross eingebüßt hat, zumindest zeitweilig.“ Ich lachte bellend.
„Der Rest ist schnell erzählt und ich muss diesbezüglich nicht viel mit Ihnen erörtern. Inspektor Lestrade weiß, was er an mir hat, weswegen er bereits gestern Nachmittag im Scotland Yard auf meine Argumente hin einwilligte – wenngleich unter Protest – Waters vor dem Staatsanwalt zu schützen. Es wurde eine Vereinbarung getroffen, gemäß derer Samuel Waters nichts zu fürchten hat, sagt er gegen Matthews aus. Diese Aussage tätigte er vorhin auf dem Revier und ich vergewisserte mich soeben auf meinem Rückweg von Harrows, dass er das Yard als freier Mann verlassen hat. Matthews wiederum packte nach Waters aus, nicht ohne den schamlosen Versuch, sein Opfer mit in den Abgrund zu ziehen, indem er anhob, Waters‘ Geheimnis zu offenbaren. Zu meiner Freude schnitt Lestrade ihm schnell das Wort ab, da dies weder den Inspektor noch den Richter interessierte und es hier einzig um Matthews Schandtaten ginge.“ Mein Freund klopfte die Asche aus seiner Pfeife und sah mich an. „Waters kann nun wieder in Frieden mit seiner jungen Familie leben und Matthews wird sicher einige Jahre absitzen müssen. Ein so skrupelloser Mann hat gewiss noch einige Leichen im Keller und es wird mir eine Freude sein, sie auszugraben. Wenn ich dazu beitragen kann, ihm noch ein paar zusätzliche Jahre Kost und Logis auf Kosten des Königreichs zu verschaffen – warum sollte ich ihm diesen Luxus verwehren?“
Holmes stopfte sich eine neue Pfeife, zog das goldene Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts und blätterte zufrieden darin herum.
„Die Photographie seiner kleinen Tochter habe ich Waters selbstverständlich zurückgegeben. Aber auch jetzt lässt sich hier noch so manches entdecken. Matthews hatte durchaus vor, das Geschäft mit der Angst auszubauen. Jedoch wollte er seine mafiösen Strategien ganz offensichtlich erst einmal an wenigen Geschäftstreibenden erproben. Camden Town bot sich als Schauplatz seiner Schurkenstücke durchaus an. Es ist weit genug entfernt von seinem Wohn- und Arbeitsort in Croydon und viele verschiedene Läden mit vielen neuen Mietern boten durchaus den chaotischen Raum für die Erweiterung seines üblen Geschäfts. Weder Matthews noch Waters sind dort bekannt und zugleich war es trotz der Entfernung für beide gut zu erreichen. Ab Charing Cross konnten sie eine von Matthews Kutschen verwenden, die er speziell dafür von einem seiner ahnungslosen Angestellten dort montags und dienstags hat abstellen lassen. Die Zeiten, zu denen die beiden ungleichen Partner jeweils am Montag und am Dienstag in Camden auftauchten, passten übrigens vorzüglich zu den Ankunftszeiten ihrer beiden Züge aus dem Süden. Jeden Dienstag fuhren beide etwa eine Stunde früher ab als am Montag, wie ich den Streckennotizen entnehmen konnte. Im Endeffekt offenbart dieses goldene Büchlein allerdings wenig Überraschendes. Es bestätigt lediglich jene Schüsse, die bis auf wenige Details bereits vorher ersichtlich waren, wenn man zielgerichtet und konzentriert nachzudenken gewillt war.“
Ich nickte demütig. „Wenn Sie es sagen, Holmes.“ Der brillante Detektiv hatte seine Rede beendet. Er erhob sich, ging zum Regal und griff nach einem in braunes Leder gebundenen Buch und hielt es mir vor die Nase.
„Dies ist eine Nummer meines Biographienverzeichnisses, Watson. Hierin vermerke ich die Namen all jener Verbrecher, von deren Existenz ich weiß und deren Wege sich einmal mit den meinen gekreuzt haben oder sich künftig mit ihnen kreuzen könnten. Ich ergänze die Einträge mit biographischen Details.“ Er blätterte etwa bis zur Mitte. „Sehen Sie, Watson, das ‚M‘ ist noch leer. Nun habe ich ein erstes für meine Sammlung.“ Ich schickte meine Augenbrauen gen Himmel. Diese Akribie flößte mir Respekt ein.
„Da werden sich im Laufe der Jahre gewiss noch einige hinzugesellen, Holmes.“
Holmes ließ das Buch zuknallen und verstaute es. „Das ist gut möglich. Ich hoffe, dass sich darunter auch der eine oder andere interessantere Kriminelle findet, denn unser kleiner übler Vogel von heute.“
Und genau so sollte es kommen. Wenn ich an Charles Augustus Milverton denke, den König aller Erpresser; oder Colonel Sebastian Moran, der Holmes mit einem deutschen Scharfschützengewehr aus der Manufaktur des blinden Mechanikers von Herder ausschalten wollte, überkommt mich heute noch ein kalter Schauer. Und der epische Name ‚James Moriarty‘ allein fände unter jedem Buchstaben des Kriminellen-Verzeichnisses seinen verdienten Platz. Matthews war zwar der erste Eintrag in Holmes‘ M – Sammlung, jedoch im späteren Vergleich ein recht armseliger.
Wenig später, Holmes und ich hatten uns mittlerweile trivialeren Themen zugewandt, klopfte es an der Tür und unsere geschätzte Mrs. Hudson betrat das Zimmer. Sie trug ein großes silbernes Tablett, auf dem Silberschüsseln und Terrinen glänzten. Dem Duft nach zu urteilen enthielten sie unser Abendessen. Geschmückt war das Ganze mit einem großen, äußerst ansehnlichen Strauß gelber und rosafarbener Dahlien. Ich sprang auf und nahm das Tablett entgegen.
„Mrs. Hudson, Sie sind wirklich ein Geschenk des Himmels. Jetzt schmücken Sie unsere Junggesellenhöhle auch noch mit Blumenwerk“, strahlte ich sie an.
Unsere Hausdame nickte würdevoll. „Nun, Sie müssen wissen, lieber Doktor, ich habe diesen schönen Strauß unten in der Diele gefunden. Mir ist schleierhaft, wo er herkommt. Es lag daher nahe, ihn in eine Vase zu stellen und Ihr sonst recht schmuckloses Zimmer damit zu verschönern.“
Holmes legte schmunzelnd die Hand ans Kinn. „Mrs. Hudson, vielleicht stammt dieser kleine Beweis der Hochachtung vielmehr von einem Verehrer Ihres freundlichen Wesens. Ich bestehe darauf, dass Sie Ihr eigenes Wohnzimmer damit schmücken, der Schenkende besteht ganz gewiss darauf.“ Ich legte den Kopf schief. Warum hatte er das in einem solch seltsamen Ton gesagt?
„Aber Mr. Holmes, das sind ja ganz neue Züge!“, flüsterte unsere Vermieterin, die plötzlich eine mädchenhafte Röte auf ihren Wangen trug, und zog freudestrahlend von dannen.
Mit einem lauten Klimpern war der Penny endlich gefallen. „Das war der Strauß vom Blumenstand auf der Bayham Street, nicht wahr?“ rief ich.
„Sicher, Watson. Was hätte ich denn sonst damit machen sollen? Und Sie sehen ja, wie sich die gute Mrs. Hudson darüber gefreut hat. Nun habe ich wieder ein wenig Kredit bei ihr, was ihre Toleranz gegenüber meinen kleinen Schrullen angeht“, meinte Holmes todernst.
„Mit ‚Schrullen‘ meinen Sie vermutlich das Abfeuern eines Revolvers im Wohnzimmer, Ihre exorbitante Unordnung, Ihre lebensgefährlichen und zudem oftmals übelriechenden chemischen Experimente und – “ Holmes unterbrach mich mit einer Handbewegung. „Schon gut, Watson. Ich habe verstanden.“
Aldwyn Davies war selig ob der guten Nachrichten, die Holmes ihm am nächsten Tag überbrachte. Er erhielt zumindest die letzte Zahlung zurück, die er hatte leisten müssen, ebenso der Krämer. Sein Geschäft florierte prächtig in den folgenden Jahren. Holmes und auch ich kauften regelmäßig unseren Kuba-Tabak, wenn wir in der Nähe waren. Matthews wurde zu acht Jahren verurteilt und starb nach einjähriger Haft an einer Sepsis. Von Samuel Waters hörte ich nur wenig in der kommenden Zeit. Offenbar hielt er sich fortan aus vergleichbaren Schwierigkeiten heraus und kümmerte sich um seine Familie. Eines bleibt noch zu sagen: Einige Wochen nach dem Fall sprach ich Holmes auf eine Frage an, die er in seiner Aufklärungsrede unterschlagen hatte und auf die ich mir keinen Reim hatte machen können. Stammte Samuel Waters wirklich aus Irland? Wenn nicht, warum sprach er dann einen solchen Dialekt? Holmes Antwort ungewöhnlich prägnant: „Er hat sich einfach verstellt, Watson. Oder würden Sie dieses Talent nicht nutzen, wenn sie es hätten, um ihre Herkunft zu verschleiern? Was halten Sie eigentlich von meinem Gälisch?“ Er erteilte mir erbarmungslos eine Kostprobe. Es war grausig!

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