HOLMES hört zu: Der Klient (VIII)

Meine Reihe „Holmes sagt“ bietet mir bekanntlich Raum, um aktuelle gesellschaftliche, wissenschaftliche sowie philosophische Themen, im Gewand der viktorianischen Epoche zu beleuchten. Im achten Teil dieser Serie habe ich mir dagegen erlaubt, den Humor etwas mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Trotzdessen befasst sich der vorliegende Text auch mit der Frage nach dem Umgang mit psychischen Störungen – damals wie heute.

Erschienen ist der neue Teil meiner viktorianischen Kolumne wie immer im Baker Street Chronicle: Herbstausgabe BSC 2023.


Holmes hört zu (VIII): Der Klient


Mr. Sherlock Holmes wunderte sich nicht wenig. Mit dieser Reaktion hatte er offenbar in keiner Weise gerechnet. Man sah es ihm an. Die Stirn warf tiefe Falten, die Augenbrauen waren augenblicklich zum geschwundenen Haaransatz geflohen. Seine Mundwinkel waren kaum noch auszumachen, so fest pressten sich seine Lippen aufeinander; Schweißperlen rannen ihm über die Schläfen. Ich erwog bereits die Flucht. Selten hatte ich meinen Freund derart besorgt gesehen. Wie konnte ihm die Situation trotz seiner immensen Erfahrung nur derart entgleiten? Man hätte annehmen können, der zunehmende Rauch entwiche seinen Ohren – entsprechend wütend wirkte er. Die dichte Wolke jedoch stieg vom Chemikalientisch empor. Offenbar würde uns die ganze Chose gleich gehörig um die Ohren fliegen. Denn obwohl es immerzu seine eigenen Versuchsaufbauten waren, die Folgen mussten meistens wir beide gemeinsam tragen. Als Resultat missglückter Experimente ereilten uns normalerweise höchstens kleine Verpuffungen oder aber unangenehme olfaktorische Beeinträchtigungen.

„Watson!“, rief mein Freund mir unter Elektrisierung scheinbar sämtlicher Neuronen seines brillanten Geistes zu, „Sollte meine folgende Intervention fehlschlagen, muss ich Sie auffordern, unser Wohnzimmer auf schnellstem Wege zu verlassen. Gehen Sie im Geiste am besten schon mal Ihren Fluchtweg durch, ich mühe mich in diesem Falle, Ihnen zu folgen.“

„Ist es denn dermaßen ernst?“, antwortete ich besorgt.

„Wir werden es sogleich beurteilen können“, entgegnete mir Holmes mit glänzenden Augen und träufelte im selben Moment ein hastig herbeigeholtes Reagenz in das brodelnde Laborglas.

Ein kleiner Knall ertönte, der Rauch versiegte und als Holmes erleichtert aufatmete, wusste ich, dass mir die unbeholfene Flucht hinaus aus unserem Wohnzimmer die Treppe abwärts – ich hatte mir in den letzten Sekunden tatsächlich bereits beinahe jeden Schritt zur Rettung ausgemalt – erspart würde.

„Nun, Watson, Sie zeigen sich gewiss neugierig, welcher chemischen Reaktion Sie gerade Zeuge wurden? Sie entsinnen sich bestimmt noch an meines kürzlichen Experiments mit Thioaceton?“

Ich lächelte sauer. „Wie könnte ich diesen bestialischen Gestank nur jemals vergessen, Holmes?“

„Sicher zeigen Sie sich interessiert daran, wie es mir gelungen ist, dieses Keton dazu anzuregen, eine exponenzielle Energiefreisetzung zu initiieren, ohne dass es dabei selbst verbraucht werden würde?“

„Nein, Holmes!“, entgegnete ich entschlossen.

„Wie meinen Sie das, guter Freund?“ Holmes klang bestürzt.

„Ich meine es, wie ich es sage. Im Moment bin ich vielmehr an Lösungen interessiert, die verhindern, dass Sie über kurz der lang unser Heim in die Luft jagen! Darf ich Sie zudem fragen, welchen praktischen Nutzen Sie sich von diesem Unternehmen versprochen haben?“ Mein Freund fasste sich.

„Jeder Erkenntnisgewinn nützt der Menschheit, Watson. Auch wenn sich der Nutzen nicht direkt aufdrängen mag, kann er sich später dennoch offenbaren. Vielleicht wird ein mir nachfolgender Chemiker in kommenden Jahrzehnten durch meine Grundlagenarbeit einen Durchbruch erzielen, der dazu taugt, ein drängendes Problem unserer Gesellschaft aus der Welt zu schaffen?“ Jetzt war er wieder ganz der Alte. Ich straffte meine Schultern.

„Lieber Holmes, sofern Sie weiterhin meine Gegenwart wünschen, möchte ich Sie – trotz Ihrer gewiss geistreichen Gedanken ob der zukünftigen Bedeutung Ihrer Erkenntnisse – anregen, im Hier und Jetzt zu bleiben und mit mir gemeinsam einen Weg zu finden, unser Hab und Gut sowie unsere körperliche Unversehrtheit zu schützen.“ „Sicher, Watson. Ich habe verstanden.“

Es ist nicht so, dass mir Holmes‘ Erläuterungen gänzlich gleichgültig gewesen wären. Vielmehr ging es mir hier um das Abstecken meiner persönlichen Grenzen. Ich gewährte meinem Wohngenossen wahrlich viele Freiheiten. Die meisten der Holmes‘schen Eigentümlichkeiten berührten in den allermeisten Fällen höchstens gewisse gesellschaftliche Konventionen. Wenn diese Eigenarten jedoch die eigene Sicherheit tangierten – ein Risiko, das ich gern in Kauf nahm, wenn es um die Lösung einer unserer Kriminalfälle oder die Rettung eines Menschenlebens ging – war mir die Toleranz allmählich ausgegangen.

Als ich Anstalten machte, dieses Problem grundsätzlich mit Holmes diskutieren zu wollen, läutete es an unserer Tür. Wenn ich daran denke, wie viele unserer Gespräche durch die Aufwartung eines neuen Klienten unterbrochen wurden! Vielleicht hätten diese Gespräche ebenso einen späteren Bestseller gefüllt?

„Glücklicherweise unterbricht dieses Läuten die wohl der exakten Wissenschaft entgegengesetzten Äußerungen, zu denen Sie gerade ansetzen wollten“, warf Holmes mir keck entgegen. Ich knirschte mit den Zähnen.

„Holmes! Wenn Sie diese bahnbrechenden Experimente im Schutz eines isolierten Laboratoriums durchführen würden – nur zu!“ Holmes‘ Hand flatterte leicht – das Gespräch war beendet.

„Jetzt lassen wir erst einmal unseren Gast eintreten. Kommen Sie rein, mein Herr!“, rief Holmes durch die noch geschlossene Tür.

Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters trat ein. Ihn als Gentleman zu bezeichnen wäre eine Übertreibung gewesen. Obwohl er die Garderobe eines solchen trug, befand sie sich augenscheinlich in völliger Unordnung. Die Schuhe waren dreckig, die Hosen lagen in Falten, ebenso wie sein Hemd, das zudem nur teilweise im Hosenbund steckte. Die Uhrkette hing ihm bar jeder Uhr aus der Westentasche und den Kragen, der eigentlich sein braunes Sakko am Hals hätte abschließen sollen, hatte er wohl des Morgens anzulegen vergessen. Ähnlich musste er auch mit seiner Morgentoilette verfahren sein. Die Rasur war schlampig und sein dunkles, leicht grau meliertes Haar sträubte sich – begünstigt durch seine Dichte und Fülle – in einem wilden Durcheinander. Im krassen Gegensatz zu seiner konfusen äußeren Erscheinung stand jedoch sein Auftreten, das beinahe etwas Majestätisches hatte. Seine Gesten – würdevoll; ja, geradezu salbungsvoll – hießen erst Holmes und dann mich, unseren Besucher zu begrüßen. Holmes beließ es bei einem typischen Kopfnicken. Als ich dem Fremden die Hand gab, zog er sie sogleich mit einem vornehmen Seufzer aus der Umklammerung. Zu guter Letzt – als wären die bisherigen Eindrücke nicht schon bizarr genug gewesen – wies er uns unsere Plätze zu; als wären wir, nicht er, Gast in diesem Haus. Holmes schickte er stumm auf meinen Stammplatz, ich sollte auf einem Stuhl unseres Esstisches Platz nehmen. Dann ließ er sich wie selbstverständlich auf Holmes‘ angestammtem Lehnstuhl nieder, als wäre er ein Thron.

Ich fing Holmes‘ Blick ein, um zu erahnen, wie er mit diesem eigentümlichen Mann umzugehen gedachte. Offenbar – und das hätte ich mir eigentlich schon denken können – hatte diese Kreatur jedoch sein Interesse geweckt und er setzte sich mit einem leichten Schmunzeln im Gesicht auf meinem Sessel, wie ihm geheißen. Ich tat es ihm gleich und wartete, ob unser stummer Besucher irgendwann zu sprechen anheben wollte. Er tat mir den Gefallen.

„Meine Herren“, setzte er im nasalen Bariton an, „gewiss wundern Sie sich, was mich gerade zu Ihnen beiden führt. Männer Ihres Intellekts, Mr. Holmes, begreifen für gewöhnlich schnell, mit welcher Entität sie es zu tun haben, wenn ich Ihnen erscheine. Deswegen habe ich auf eine förmliche Vorstellung verzichtet.“

Selten konnte ich beobachten, wie mein Freund und Kollege in eine Situation geriet, die ihn zwang, das Erlebte erst einmal zu ordnen, bevor er seine üblichen verblüffend klaren Schlussfolgerungen präsentieren konnte. Doch so gestalte es sich hier. Holmes sah man seine tiefen Gedankengänge regelrecht an. Nach etwa einer Minute des kollektiven Schweigens brach er es mit Äußerungen, die ich eher unserem schrillen Besucher zugetraut hätte.

„Nun denn, wenn Sie sich vorgestellt hätten, dann vermutlich als allmächtiger Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde, des ganzen unendlichen Universums, nicht wahr?“ sprach Holmes voller Ernsthaftigkeit.

Der kuriose Geselle fühlte sich von Holmes‘ Schlussfolgerungen sichtlich geschmeichelt, rutschte in kapriziöser Verlegenheit auf dem Lehnstuhl herum und bedachte uns schließlich mit weiteren salbungsvollen Gesten. Er lächelte selig.

„Auch wenn ich noch Zweifel bei Ihnen spüre, Mr. Holmes, weiß ich Ihre zutreffenden Schlussfolgerungen sehr zu schätzen. Sie zeigen, dass Sie trotz Ihrer Skepsis bereit sind, die Wahrheit zu benennen, wenn Sie diese zu Gesicht bekommen.“

„Wahrheit ist außerhalb eines theologischen oder mathematischen Kontextes ein geradezu schwammiger Begriff, mein Herr“, entgegnete Holmes ganz sanft.

„Ganz recht. Und wenngleich die christliche Theologie ebenso wie die zahlreichen anderen Religionswissenschaften nur einen Bruchteil meines Wesens und meiner Absichten zu ergründen imstande sind, unterliegen sie dennoch einer inneren Logik, die ja ebenso den Primat in einer zielführenden Mathematik einnimmt. Somit verbinden sich in mir die Theologien dieser Welt mit dem Wesen der Mathematik. Demnach könnten Sie mich auch Wahrheit nennen, anstatt mich mit jenen Ehrentiteln zu schmücken, mit denen die Menschen meiner Größe gerecht zu werden trachten.“ Ich zog die Augenbrauen weit hinauf.

Holmes neigte sich zu unserem Gast. „Die inhärente Logik Ihrer Ausführungen kann ich kaum bestreiten, mein Herr. Aber was führt Sie denn nun zu mir und meinem Kollegen?“

„Holmes?“ unterband ich derweil die Antwort, zu der dieser schräge Mann gerade ansetzten wollte. „Bitte, Watson?“

„Sie lassen diese Rede einfach so stehen?“

„Warum denn nicht, mein lieber Watson? Gegen logisch schlüssige Systeme ist nur schwer zu argumentieren. So lassen Sie den Herrn doch bitte sprechen.“

„Haben Sie Dank, Mr. Holmes. Und ich vergebe Ihnen, Dr. Watson, Ihren Unglauben.“

„Das ist aber nett von Ihnen“, erwiderte ich nicht ohne Sarkasmus.

„Ohne Güte, mein lieber Medicus, könnte ich die unzähligen Freveltaten der Menschen gar nicht ertragen.“ ‚Liebe Güte‘, dachte ich.

„Nun möchte ich Sie aber nicht länger warten lassen, bis ich Ihnen darlege, welchen Umstand Sie mein Erscheinen verdanken. Die Person, welche diesen Körper bis vor kurzem bewohnte, ist vor zwei Wochen in mein jenseitiges Reich eingegangen. Da ich mich zeitgleich entschieden habe, meiner liebsten Schöpfung einen Besuch abzustatten, wählte ich aus ökonomischen Gründen gleich diesen seelenlosen Körper, anstatt mir einen neuen zu formen, um fortan auf Erden zu wandeln.“

„Dies hört sich für mich bisher noch nicht nach einen jener Probleme an, die meiner Aufklärung bedürften, mein Herr. Bisher klingt alles doch ganz normal.“

„Normal?“, rief ich lauter als beabsichtigt.

„Sicher doch, Watson. Würden Sie jemals in eine Lage geraten, die den Schilderungen unseres freundlichen Besuchers entspräche, würden Sie doch sicher auch noch verwendbares organisches Material nutzen, um sich in dieser Welt zu manifestieren? Wieso es verschwenden? Für mich klingt das absolut logisch.“

„Na, wenn Sie meinen“, flüsterte ich, fassungslos über unseren Besucher und noch viel mehr ob Holmes‘ beinahe wahnwitzigen Offenheit gegenüber dem Gesagten.

„Ich möchte meine Darlegung nun gern fortführen, Dr. Watson“, fuhr mir der Herr, dessen Namen wir noch nicht einmal kannten und der uns ernsthaft weismachen wollte, er sei Gott, in die Gedanken.

„Wie ich Ihnen bereits offenbart habe, bewohne ich seit nunmehr gut vierzehn Tagen diesen Körper. Nun teilen nicht alle meine Kinder Ihr Maß an Intelligenz, Mr. Holmes – Sie sehen es ja am Beispiel Ihres Mitbewohners selbst.“

„Ich muss doch sehr bitten“, fuhr ich ihm erbost ins Wort.

„Und ich sehr danken, wenn Sie es bitte endlich bewerkstelligen würden, Ihre frevlerischen Unterbrechungen abzustellen!“ Der Ausdruck väterlicher Enttäuschung trat auf das Gesicht des Mannes.

„In der Tat, Watson. Wir kommen nicht wirklich voran, wenn sie unseren Klienten nicht auch einmal aussprechen lassen.“ Holmes erdreistete sich auch noch, diesem Flegel auf diese Art beizupflichten. Um des Friedens willen sowie in der Hoffnung, dass diese Groteske damit früher zu einem Ende kommen möge, biss ich mir fortan auf die Unterlippe, wenn mir blasphemische Kommentare entfleuchen wollten.

„Nun denn, da dieser unnötige Zwist jetzt ruht, werde ich gleich in medias res gehen: Ich benötige Ihren Rat, Mr. Holmes. Ebenso, wie die Menschen das Göttliche nur erahnen können, fällt es dem Göttlichen selbst wiederum schwer, so weit hinabzusteigen, um sich mit den konkreten Sitten und alltäglichen Gepflogenheiten der Menschen zu arrangieren. Sehen Sie das bitte nicht als möglichen Ansatzpunkt, um bei mir eine Unvollkommenheit auszumachen! Nichts läge dem Sachverhalt ferner. Sie – der Sie Kenntnis von mehr oder minder komplexen organischen und anorganischen Synthesen besitzen – sollten sich nur einmal vorstellen, Sie müssten Ihre Brillanz mittels eines Chemiebaukastens für Kinder erproben. Die Unterforderung würde Sie gewiss fehleranfällig machen. So geht es mir mit den Konventionen der Menschen.“ Welch abstruser Monolog.

„Ich verstehe, mein Herr. Was Ihre Analogie mit dem Chemiebaukasten betrifft, kann ich Ihnen auch nur beipflichten. Sie erwarten demzufolge von mir einen Rat, wie Sie unter den Menschen nicht allzu sehr auffallen?“

„Ganz richtig, Mr. Holmes. Würden Sie die Güte dazu besitzen?“ Holmes lächelte freundlich und erhob sich.

„Mit dem größten Vergnügen, mein Herr. Kommen Sie mit!“

Ich konnte kaum glauben, was ich sah. Holmes nahm diesen Menschen an die Hand und verschwand mit ihm in seinem Schlaf- und Ankleidezimmer. Nur fragmentarisch konnte ich den angeregten Gesprächen lauschen, welche die beiden in der folgenden dreiviertel Stunde führten. Es ging um Uhren und Plastrons, auch vernahm ich etwas über Benimmregeln. Nach einer Weile traten Holmes und unser eigenartiger Klient wieder ins Wohnzimmer. Die Veränderung bei unserem Besucher kam einem göttlichen Wunder nah. Allein seine äußere Erscheinung hatte sich grundlegend zum Positiven gewandelt. Seine komplette Garderobe war nun sauber, geordnet und vor allem vollständig. Er trug einen von Holmes‘ Krägen, seine Uhrkette schmückte nun gar eine Uhr, wie ich sehen konnte, als er sie mit tänzerischer Handbewegung hervorzog und einen Blick darauf warf. Ich schaute genauer hin: Hatte Holmes ihm sogar bei der Rasur geholfen? Noch beachtlicher als die äußere Wandlung dieses eigenartigsten aller Klienten, die wir jemals hatten, war jedoch seine innere.

„Ich möchte mich herzlich bei Ihnen für Ihre Geduld bedanken, Dr. Watson“, sprach er mich ganz mild und ohne die bisherige Arroganz in der Stimme an. Er reichte mir die Hand. „Unsere Wege werden sich sicher erneut kreuzen, mein Bester. Ach, beinahe hätte ich vergessen, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Archibald Meyer und ich bin Lehrer für Geschichte und Englisch. Bitte verzeihen Sie, dass ich das erst jetzt tue. Mr. Holmes, Dr. Watson, Arrivederci und vielen Dank für Ihre Hilfe!“

Als unser Besucher – Mr. Meyer, wie ich nun wusste – die Tür hinter sich geschlossen hatte, brach es regelrecht aus mir heraus.

„Wie um alles in der Welt ist es Ihnen gelungen, einen Irren innerhalb von nicht einmal einer Stunde zu heilen? Mir sind ja Ihre Fähigkeiten bestens bekannt, dass Sie aber imstande sind, Hanwell und vergleichbare Anstalten überflüssig zu machen – das, so gestehe ich, macht mich sprachlos.“ Holmes langte nach Pfeife und Tabak. Er war eigentümlich heiter.

„Ruhig Blut, mein lieber Watson. Setzten wir uns doch zuerst wieder auf unsere angestammten Plätze, gönnen uns eine Pfeife oder in Ihrem Fall eine Zigarre. Ich muss gestehen, Ihrer Sitzgelegenheit mangelt es wahrlich an Gemütlichkeit.“

Wir taten, was Holmes vorgeschlagen. Innerlich war ich erpicht zu erfahren, wie er das fertig gebracht hatte. Vielleicht hatten seine zahlreichen chemischen Experimente eine Art Psychopharmakon hervorgebracht, das dem Wahnsinn Herr zu werden vermochte? Oder er hatte einen Durchbruch erzielt, Geisteskranke mittels Gespräch zu heilen, wie es dieser freudvolle Österreicher seit einiger Zeit versuchte. Ich hoffte, er hatte dem Mann keines seiner Rauschmittel verabreicht, wenngleich mir nicht bekannt war, dass Morphin oder Kokain eine derartige Wirkung entfalten könnten – nicht einmal in Kombination. Holmes‘ Pfeife entstiegen träge dahinwabernde Wölkchen.

„Lieber Watson, wie Sie wissen, schmeichelt mir Ihre schon beinahe naive Bewunderung meiner Person durchaus. Dass ich allerdings in der Lage sei, geistige Störungen zu behandeln oder gar zu heilen, geht dann doch zu weit“, gab Sherlock Holmes zwischen zwei genüsslichen Zügen von sich. Es war das zweite Wunder an diesem Tag, dass ich nicht delirierend aus meinem Stuhl rutschte.

„Sie wollen sagen, er glaubt immer noch, er sei Gott?“

„Aber natürlich glaubt er das immer noch! Wie sollte man einen solchen Wahn den schon behandeln, ohne dem armen Mann fortan sein Leben vorzuenthalten?“

„Sie haben ihm also nur gezeigt, wie er seinen Gotteswahn in Zukunft vor seinen Mitmenschen verbergen kann? Wieso hat er sich denn darauf eingelassen?“ Holmes richtete sich ein Stück weiter auf.

„Wenn Sie sich erinnern wollen: Wie lautete sein konkretes Anliegen? Er wollte die gesellschaftlichen Konventionen gelehrt bekommen. Wozu, wenn nicht, um sein gewohntes Leben so gut es geht weiterführen zu können? Irgendetwas hat sich im Leben vom Mr. Meyer ereignet, das diese Störung des Geistes hervorgerufen hat. Vielleicht ein herber Schicksalsschlag; ein Verlust, den er als Mensch nicht bewältigen konnte.“

„Aber als Gott schon?“, warf ich nachdenklich ein.

„Ganz richtig. Vor zwei Wochen muss sich diese Sache ereignet haben. Da ich kein Fachmann für geistige Störungen bin, beließ ich es bei der Annahme und fragte nicht weiter nach. Eine Offenlegung hätte ihn womöglich unnötig destabilisiert. Aus seiner Sicht ist er nun nicht mehr Archibald Meyer, sondern ein Gott, der nur vorgibt, Archibald Meyer zu sein. Gott können der Tod oder andere Tragödien nicht ängstigen. Es scheint der Weg seines Geistes zu sein, das Erlebte zu überleben.“ Plötzlich tat der Mann mir leid.

„Meinen Sie, es war richtig, ihn in seinem Irrglauben zu belassen?“ Holmes‘ Blick verlor sich einen Moment lang in weiter Ferne.

„Ich denke ja, mein guter Watson. Was wäre denn die Alternative? Soll er den Rest seines Lebens in einer dieser Einrichtungen fristen, die ihre Insassen nur ruhigstellen oder gar körperlich züchtigen? Was wäre das für ein Leben für einen im Grunde friedfertigen Mann, der sich – wie ich hoffe – auch mit der Illusion, die er in sich trägt, gut wird in die Gesellschaft integrieren können? Nebenbei gesagt, ich hätte seine Geschichte gar nicht widerlegen können.“

„Wie meinen Sie das denn? Natürlich kann man einem Menschen darlegen, dass er nicht der Allmächtige ist! Insbesondere, wenn man ihm seine Unvollkommenheiten vor Augen führt.“

„Das sehe ich anders, Watson. Mr. Meyers Geschichte war, wie ich bereits im Gespräch mit ihm konstatierte, logisch konsistent. Man könnte sogar anführen, dass die meisten Zeitgenossen Christi vor fast 1900 Jahren auch nicht glaubten, er sei der Sohn Gottes. Die Geschichte unseres Klienten war ein in sich geschlossenes System. Auf jeden Einwand hätte er einen vernünftigen Grund erwidern können, weswegen er nicht den Erwartungen entspricht, die man gemeinhin vom Schöpfer des Himmels und der Erde haben könnte. Dies haben Sie ja bei der Analogie vom Chemiebaukasten gesehen.“

„Das wollen wir doch mal sehen“, erwiderte ich borstig. „Wenn man ihm mittels eines Messers einen kleinen Schnitt verpassen würde und er zeigte Schmerzen, blutete und die Wunde schlösse sich nicht gleich wieder, was würde er da wohl sagen?“

„Ein vollkommener Geist im Körper eines unvollkommenen Menschen und an körperlichen Schmerz ist er nicht gewöhnt. Mit dieser Reaktion folgt er lediglich den natürlichen Instinkten seines Wirtes.“

„Und wenn er gefragt würde, wie man die letzten Geheimnisse der Wissenschaft lösen kann?“ Mein Freund zuckte mit den Schultern.

„Die Menschheit ist für derlei Offenbarungen noch nicht bereit. Sie würde sich mit diesem immensen Wissen nur selbst in Gefahr bringen.“

„Sie wissen auf alles eine Antwort, Holmes!“

„Nein, nicht ich, sondern Mr. Meyer wüsste auf alles eine Antwort, Watson. Wissen Sie, der geistig gesunde Mensch ist sich seiner nie ganz sicher, auch nicht seiner geistigen Gesundheit. Er zweifelt und lebt vielleicht gar in der Angst, eines Tages seinen Verstand zu verlieren. Der geistig gestörte Mensch jedoch, ist sich seiner ganz sicher. Eigentlich ist das doch beneidenswert.“ Ich war baff. Welch Ungerechtigkeit!

„Trotzdem erfreue ich mich meiner geistigen Gesundheit, Holmes. Lieber zweifele ich von Zeit zu Zeit, ob mein Verstand noch ordnungsgemäß funktioniert, als im engen Korsett eines Wahns gefangen zu sein!“

„Da sprechen Sie einen Punkt an, der mir für den Erhalt der seelischen Integrität ganz wesentlich erscheint. Oftmals sagt man intellektuell kreativen Menschen – wie mir zum Beispiel – nach, das Genie und Wahnsinn eng verwandt miteinander sind. Wie Sie gerade an unserem durchaus gebildeten Schulmeister erkennen konnten, verlieren sich Verrückte nicht in den Weiten des Intellekts. Vielmehr ist es eine auf Logik basierende geistige Enge, die den Wahnsinn begünstigt. Ein auf diese Art geistig gestörter Mensch lebt in seiner eigenen kleinen Seifenblase. Alles, was er erlebt, bringt er nur mit seiner ‚Idée fixe‘ in Verbindung und versucht diese, gegen Attacken von außen zu verteidigen. Vielleicht bedarf es seiner Wahnidee, um sich selbst vor einer unschönen Wahrheit zu schützen, die ihn sonst zerbrechen würde? Wahn ist dem, der in einer geistigen Enge gefangen scheint – dem versierten Spezialisten – vielleicht viel näher als dem kreativen Freigeist, der sich bemüht zeigt, die Welt in all ihren Mysterien und Unerklärlichkeiten zu akzeptieren. Der absolute Materialist, welcher ständig meint, alles bis ins letzte Detail zu verstehen, wird – dieser Einschub sei mir hier gestattet – in Ermangelung offener Fragen und verbliebener Rätsel vielleicht eher in die Gefangenschaft einer jener Seifenblasen geraten, welche ihn vor der Realität zu bergen scheinen. Wenn der Sinn der Existenz fehlt, zimmert sich der gestörte Geist eben unwillkürlich einen eigenen, wie absurd dieser auch erscheinen mag.“

„Ich kann Ihnen so weit folgen, Holmes. Trotzdem bleibt die Wahrheit von Mr. Meyer doch immer noch unwahr. Er ist nun mal nicht der Allmächtige; ganz gleich, wie schwer sich seine Idée fixe nun widerlegen lässt.“

„Bestimmt ist das so, mein lieber Watson. Stellen Sie sich die Realität unseres Lehrers doch einmal als kleinen Kreis vor. Unsere Realität entspricht dagegen einem Kreis mit viel größerem Umfang. Ein kleiner Kreis ist für seinen Schöpfer genauso unendlich wie ein großer Kreis; aber wenn er auch ebenso unendlich ist, ist er doch nicht ebenso groß. Beide Wirklichkeiten sind in sich stimmig, die des Lehrers ist allerdings unvollständig, kleiner gefasst, begrenzter. Wenn Sie nun aber bedenken, wie groß unser Kreis der Wirklichkeit ist; wieso sollte es nicht noch größere Kreise geben?“ Meine Augen waren nun auch zwei große Kreise.

„Sie wollen also sagen, dass auch wir in Wirklichkeit nur Gestörte sind, die von anderen in ihrer eigenen Realität belassen werden?“, warf ich nachdenklich ein.

„So weit würde ich nicht gehen, Watson. Was ich aber feststellen möchte: die Menschen würden gut daran tun, nicht jede neue Erkenntnis genauso für die letzte zu halten. Aus der Sicht höherer Wesen – vielleicht jener der Engel oder gar des Allerhöchsten – könnten auch wir wie Irre erscheinen, gefangen in winzigen Kreisen ohne Blick auf das große Ganze.“ Ich seufzte.

„Vielleicht haben Sie recht Holmes. Wenn Sie so von Engeln und dem lieben Gott sprechen, könnte man fast meinen, Sie glaubten doch an etwas, das größer ist als Sie selbst.“ Der alte Halunke grinste.

„Das kann ich mir, wie Sie wissen, nicht so ganz vorstellen. Aber jetzt wissen wir auch warum, nicht wahr?“

„Ihr Kreis ist noch nicht groß genug!“, lachte ich laut. „Und Sie meinen wirklich, es sei eine gute Idee, diesen Archibald Meyer gänzlich unbeaufsichtigt seinen Weg beschreiten zu lassen?“

„Ich habe mir darüber bereits Gedanken gemacht, Watson. Ich kenne einen Ihrer ärztlichen Kollegen, der es mit der Behandlung von geistig Gestörten ähnlich hält wie ich. Er wohnt glücklicherweise ganz in der Nähe unseres Klienten und wird, wenn ich ihn darum bitte, von Zeit zu Zeit sicher nach ihm sehen.“

„Das beruhigt mich ungemein. Da wir dies jetzt erschöpfend geklärt haben, möchte ich nun ein Thema aufgreifen, von dem wir Dank unseres göttlichen Besuchs wieder abgekommen sind. Es geht – wie Sie sich denken können – um Ihre teilweise wahnwitzigen Experimente und die einhergehende Gefahr für Leib und Leben.“

„Watson, ich muss Ihnen leider sagen, dass der Kreis meiner Wirklichkeit wohl gerade ein wenig geschrumpft ist und das Thema, auf das Sie offenbar anspielen, nun leider geringfügig außerhalb der äußeren Begrenzung desselben liegt.“ Ich amüsierte mich köstlich.

Was nun aber ist Wirklichkeit und wo beginnt schon der Wahnsinn? Beide scharf voneinander abzugrenzen – vielleicht bedarf es hier schon der Ränder eines Kreises.


* Illustration zu Beginn: Anna-Sophie Naumann

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