HOLMES sagt: Salus populi suprema lex esto (VII)

Im 48. ‚Baker Street Chronicle‘, der Frühjahrsausgabe des Jahres 2023, fand sich erneut Platz für meine Viktorianische Kolumne. In dieser literarisch aufgewerteten Analyse bemühe ich mich regelmäßig aktuelle Frage- und Problemstellungen aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft im Gewand des 19. Jahrhunderts zu beleuchten.

Dieses Sprichwort: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, entstammt bekanntlich dem Bibelbuch Kohelet (Prediger) und hat aus meiner Sicht auch nach 2300 Jahren nicht an Bedeutung eingebüßt. Im Gegenteil! Alles wiederholt sich, nichts ist gänzlich neu. Selbst die Staatsform, welche in Ermangelung eines treffenderen Begriffs Demokratie genannt wird, ist keine reine Entwicklung des 18. Jahrhunderts, denn sie fand im alten Griechenland bereits eine erste Erprobung. Darauf zu blicken, was einst zum Scheitern der attischen Demokratie geführt hat, kann helfen, die Probleme der Gegenwart besser zu verstehen und Lösungen zu finden, die praktikabel sind. Die Namen der Akteure wandeln sich, die Farben wechseln, der Mensch bleibt aber Mensch und er begeht im Guten wie im Grausigen immer wieder dieselben Taten. Fortschritt ist nur mit dem Blick in die Vergangenheit zu bewerkstelligen. 

Autokratien, Meinungsmache, globale Verdummung, menschenverachtende Gesetzgebungen und der Verfall von Werten und Anstand im gesellschaftlichen Diskurs stellen hochaktuelle Problemlagen dar. Neu sind diese Verwicklungen jedoch nicht. Zurückzublicken hilft, Lösungen zu finden. Dabei sollte es nützlich sein, sich nicht durch bloße Nebensächlichkeiten ablenken zu lassen. Häufig diskutieren wir Menschen über absolut Zweitrangiges, wie, ob man nun Biologe, Biologin, BiologIn oder vielleicht gleich Biologikerin sagen sollte. In der Zwischenzeit sind aber Dutzende Tier- und Pflanzenarten für immer von unserem Planeten verschwunden, Arten die sich reichlich wenig für diese Feinheiten interessiert gezeigt haben. 

Meine kleine Serie „Holmes sagt“ soll nicht nur ein bisschen anglophile Nostalgie wecken. Hauptsächlich möchte ich damit – schön verpackt – aktuelle Themen unter der Prämisse „es gibt nichts Neues“ beleuchten. Als hoffnungsvoller Realist trage ich nämlich die kleine Hoffnung in mir, dass der Mensch noch lernen wird zu lernen, vor allem aus dem Geschehenen.

Unter BSC 48 - Frühjahr 2023 ist die Zeitschrift bestellbar.

Holmes sagt (VII): Salus populi suprema lex esto


                                                              


Im Frühjahr des Jahres 1887 hatte ich mich bereits seit einigen Monaten in meiner neuen Praxis eingerichtet und einige Beschäftigung vorzuweisen. Die von meinem Vorgänger hinterlassene Klientel war kräftig in die Jahre gekommen und litt unter den typischen Wehwehchen des Alters, die uns alle früher oder später ereilen. Zudem begegnete mir in jenen Tagen eine Häufung von Fällen der Schwindsucht unter meinen jüngeren Patienten. Ob dieser Umstände bekam mich meine junge Frau, die mich dazu bewogen hatte, die Wohngemeinschaft mit meinem Freund Sherlock Holmes aufzugeben, leider nur zu selten am Tage zu sehen.

Zu jenem Chaos gesellte sich eines Mittags ein Telegramm, das, wenn es von jemand anderen gekommen wäre, direkt seinen Weg in den Abfalleimer gefunden hätte. Sherlock Holmes bat mich, etwas von seinem Bruder abzuholen und ihm in die Baker Street zu verbringen. Er sei derart gefordert, sodass dies selbst zu erledigen er sich nicht imstande glaubte, und er baue auf seinen engsten Vertrauten. Dergleichen „Bitten“ kannte ich von Holmes nur allzu gut. Sie ließen wenig Raum für Diskussionen und verfehlten dank einer Unerbittlichkeit in Verbindung mit der einen oder anderen Schmeichelei selten ihre Wirkung. Ich ließ also nach meiner Vertretung rufen und begab mich am späten Nachmittag mit einer Droschke gen Pall Mall. Nahe des Zentrums der britischen Macht in Whitehall unweit von 10 Downing Street fand sich die Eingangstür dieses ungewöhnlichsten aller Londoner Clubs.

Nachdem ich dem Pförtner umständlich mein Anliegen erklären musste, wurde mir – nicht ohne vorherige Rückversicherung der maximalen wörtlichen Verschwiegenheit – der Zutritt in den Diogenes Club und schließlich auch in das einzige Zimmer des Hauses gewährt, in dem man sich miteinander unterhalten durfte. In besagtem Zimmer – dem Fremdenzimmer – saß bereits jener stämmige, phlegmatische Herr, dessen üblicherweise wacher und konzentrierter Blick in so starkem Widerspruch zu seiner übrigen Erscheinung stand. Als er mein Eintreten bemerkte – anfangs wähnte ich ihn schlafend – erhob er sich träge aus seinem Ohrensessel und reichte mir die Hand.

„Guten Tag, Dr. Watson. Was für eine freudige Überraschung Sie mal wieder hier begrüßen zu dürfen! Wie geht es der Frau Gemahlin?“, begrüßte er mich überaus herzlich, gefolgt von einem festen und langanhaltenden Händedruck.

„Mrs. Watson befindet sich gut, Mr. Holmes. Wenn Sie auch nicht so viel von ihrem Ehemann hat, wie sie und ich uns das vorgestellt haben.“ Mycroft Holmes schmunzelte.

„Wenn man ein Geschäft übernimmt, und sei es eine Arztpraxis, muss man erst einmal die Altlasten beseitigen, um sich produktiv aufzustellen. Das verhält sich in der Politik nicht anders“, erwiderte der bullige Intellektuelle voller Ernsthaftigkeit.

„Sie sprechen hoffentlich nicht von meinen Patienten, Mr. Holmes?“, bemerkte ich besorgt. Mycroft Holmes lachte laut auf.

„Nicht doch, Doktor. Das wäre ja so, als ob sich eine neugewählte Regierung des eigenen Volkes entledigen würde, sobald sie in die Verantwortung kommt – um bei meiner Analogie zu verweilen. Ich ziele natürlich darauf ab, dass Geschäfte, die bereits seit langem in der Hand eines Verantwortlichen liegen, nach der Übergabe einer gründlichen Revision bedürfen. Oftmals finden sich dann eingefahrene Abläufe und überholte Apparaturen. Manchmal empfiehlt sich gar die personelle Neubesetzung einiger Verwaltungsposten um das Schiff wieder auf Kurs zu bringen.“

„Jetzt sprechen Sie aber nicht mehr über meine Praxis, Mr. Holmes“, warf ich teils irritiert, teils belustigt ein.

„Wenngleich die Parallelen auffällig sind. Doch Sie haben recht. In meinem Metier neigt man zuweilen dazu, zu vergleichen und immerzu alles Mögliche auf das eigene Fachgebiet zu beziehen. In der Politik fischt man des Öfteren im Trüben, weswegen ich mich lieber an die Verwaltung halte als an die gewählten Volksvertreter. Ob es sich bei denen nun um Konservative oder Liberale handelt, ist eigentlich nicht erheblich.“ Er schenkte mir einen Blick, den ich nicht deuten konnte. „Kennen Sie die größte Schwäche der Demokratie?“

„Bisher wäre ich mehr erpicht darauf, die Schwächen der Demokratie den Stärken absolutistischer Staatsformen in vielen anderen Ländern vorzuziehen.“

„Mit Verlaub, Doktor Watson, das ist ein Fehler. Nur wenn man die Schwachpunkte eines Systems erkennt, kann man es vor Schaden bewahren. Die wohl größte Schwäche der Demokratie sind die Wahlen selbst.“ Die Stille nach diesem Satz dröhnte in meinen Ohren.

„Aber ohne Wahlen wäre es doch keine Demokratie?“ warf ich ungläubig ein.

„Gewiss, mein Bester“, stimmte mir Mycroft Holmes zu. Er hieß mich, an einem Tisch mit Kaffeegedeck Platz zu nehmen und schenkte mir eine Tasse Tee ein. Als er sich mir gegenüber wieder auf seinen Sessel niederließ, griff er nach einer schlichten Schnupftabakdose, schnupfte und bot mir eine Zigarre an. Ich nahm sie dankend entgegen, zündete sie an und lauschte gespannt. Worauf wollte Mycroft Holmes denn eigentlich hinaus?

„Sehen Sie, Doktor Watson, viele meinen, wir lebten in einer Demokratie. Diejenigen, welche sich einer etwas präziseren Sprache bedienen, reden von Parlamentarismus oder auch von einer parlamentarischen Monarchie, richtig?“

„Dem stimme ich zu. Aber wo leben wir denn dann, wenn nicht in einer Demokratie?“ Mycroft lächelte.

„Das kommt darauf an, wie präzise man der Bedeutung des Wortes folgt und wie man es definiert. δημοκρατία aus dem Griechischen bedeutet so viel wie Volksherrschaft. In den letzten Jahrzehnten wurden ob der Unzulänglichkeiten dieser Bedeutung viele Versuche unternommen, den Begriff zu relativieren. Vom Volk ausgehende Herrschaft oder legitimierte Herrschaft ist oft zu hören. Sicher wird niemand ernstlich davon ausgehen, dass gesamte Volk könnte gleichberechtigt regieren. Aber wird man, wenn man unseren Staat als Exempel heranzieht, wenigstens der eingeschränkten Definitionen vom Volke ausgehender oder legitimierter Herrschaft gerecht?“

Ich wollte gerade zu einer Antwort ausholen, als Mycroft Holmes dies gleich selbst übernahm.

„Ich möchte Ihnen diese Frage gern beantworten, Doktor. Was wir im Königreich vorfinden, ist alles andere als eine vom Volk ausgehende Herrschaftsform – was auch immer dieses ‚Volk‘ genau ist. Gewiss, der Monarch als Oberhaupt jener staatlichen Organe entzieht sich ohnehin der Einflussnahme des Volkes, das Oberhaus fällt in dieselbe Kategorie. Das Unterhaus aber wird vom Volk gewählt, werden Sie jetzt sagen. Aber Vorsicht, Doktor Watson! Wie definiert sich denn jenes Volk, von dem Sie meinen, es bestimme die Herrschenden?“

„Soll ich hierauf tatsächlich antworten?“, merkte ich kleinlaut an.

„Da ich mir des Inhaltes Ihrer Antworten bewusst bin, müssen Sie das keineswegs, guter Doktor Watson. Außer, Sie bestehen darauf?“

„Fahren Sie nur fort“ gab ich hilflos und ein wenig belustigt auf.

„Nun – das ‚wählende Volk‘ entspricht doch keineswegs dem Volk, das unser schönes Königreich bewohnt. Die Hälfte der Bewohner unseres Landes ist ohnehin von den Wahlen ausgeschlossen, da man Frauen im Allgemeinen nicht zutraut solcherlei gewichtige Abwägungen zu treffen.“

„Ihr Bruder wird Ihnen da zustimmen, Mr. Holmes.“ Mycroft schüttelte den Kopf.

„Wenn ich im Allgemeinen sage, heißt dies nicht zwangsläufig, dass ich selbst dieser Ansicht bin, Doktor. Ich rezipiere lediglich die Meinung der Allgemeinheit. Um auf die Diskrepanz zwischen Volk und Wahlvolk zurückzukommen: Absolventen von Universitäten dürfen gar zweimal ihre Stimme abgeben und sind damit überrepräsentiert. Hinzu kommen weitere Einschränkungen bei den allenthalben als ‚allgemein‘ bezeichneten Wahlen. Somit sind die Wahlen in unserem Land weder allgemein noch vollumfänglich frei und die daraus resultierenden Ergebnisse keine korrekte Repräsentation des Volkswillens. Demokratie ist weder der passende Begriff für die eigentliche Bedeutung, noch ist diese Staatsform sonderlich geeignet, um das Wohl der Untertanen ihrer Majestät zu erhalten.“ Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück.

„Sie zeichnen ein recht düsteres Bild unseres Staates. Aber wenn Sie unserer politischen Ordnung so wenig Sympathien entgegenbringen, wollen Sie doch sicher nicht andeuten, wir bräuchten eine Rückbesinnung hin zum Absolutismus?“, bemerkte ich in Sorge ob der Rückschlüsse, die Mycroft Holmes‘ Äußerungen vermuten ließen.

„Na, na, Doktor Watson. Hat Ihnen mein Bruder im Verlauf der vergangenen Jahre nicht verdeutlicht, wie gefährlich voreilige Schlüsse sein können, egal wie stark diese sich aufdrängen? Keineswegs lehne ich die Staatsform ab, welche viele fälschlicherweise schlicht als Demokratie bezeichnen. Nur mahne ich an, dass mangelndes Verständnis über eine Sache oft zu falschen Erwartungen führt und dies wiederum Raum für kollektive Fehlschlüsse schafft.“ Ich beobachtete, wie mehr und mehr Leben in den gewaltigen Leib meines Gesprächspartners kam. „Wenn nun der Bürger nicht versteht, dass die parlamentarische Macht lediglich von ihm ausgeht und er nur einer von Millionen anderen ist, von denen diese Legitimation abhängt, dann wird er schnell erzürnen, agieren die Mitglieder des Unterhauses nicht in seinem Sinne. Zudem überschätzen viele ihr eigenes Urteilsvermögen und nehmen an, dass ihre Lebenswirklichkeit derer der meisten anderen Menschen entspricht. Eine Demokratie – nennen wir sie der sprachlichen Einfachheit halber weiterhin so – ist so gut oder schlecht, wie es um das geistige und moralische Vermögen der Bürger gestellt ist, welche sie legitimieren. Ein Millionenvolk ist kollektiv nur schwerlich in der Lage, auch nur einen Bruchteil aller finanziellen sowie der innen- und außenpolitischen Sachverhalte zu erfassen, die unser Land betreffen.

Eingangs sprach ich davon, dass die größte Schwäche der Demokratie in den Wahlen selbst liegt. Ursächlich hierfür sind nicht nur die repräsentativen Schwächen, die ich eben beschrieben habe. Einerseits verführt die Tatsache, dass Macht lediglich über einen gewissen Zeitraum vom Wahlvolk verliehen wird, die politischen Akteure zu eitler Selbstdarstellung, manche gar zu Gesinnungslumperei, anstatt dem wahren Wohle des Volkes zu dienen. Aktionen, die dem Wohl der Allgemeinheit dienen, sind nämlich nicht immer auf Anhieb als solche zu erkennen. Viele Gesetzesinitiativen, die im Volk anfangs ausgesprochen unpopulär waren, erwiesen sich zum Wohle desselben auf lange Sicht als absolut notwendig. Auf der anderen Seite ermöglichen regelmäßige Wahlen den Bürgern eine Beseitigung offensichtlicher Fehlbesetzungen im Unterhaus. Ob die Wähler diese Fehlbesetzungen ob der beinahe schauspielerischen Talente mancher Mitglieder des Unterhauses überhaupt erkennen, steht auf einem andern Blatt.

Man sollte sich dessen klar sein, Doktor Watson: Bei der Demokratie handelt es sich um ein modernes Phänomen, um ein Experiment. Ich trage die Hoffnung in mir, dass es gelingen wird, diesen Versuchsaufbau dahingehend zu verfeinern, die passenden Chemikalien zu identifizieren und flüchtige Elemente zu beseitigen.“ Ich schwieg, und die Rauchwölkchen meiner Zigarre tanzten friedliche im Licht der Deckenlampe. Mycrofts Augen leuchteten. Mittlerweile hatte ich völlig vergessen, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass Mr. Holmes mir diese Vorlesung hielt. Offen gesagt war ich mittlerweile aber erpicht darauf zu erfahren, wohin die Jahrhundertrede dieses überlebensgroßen Staatsangestellten hinführen würde. Ebenso wie sein Bruder vermochte Mycroft Holmes für gewöhnlich als selbstverständlich geltende Sachverhalte derart aufzudröseln und fest zu verknoten, dass sie hernach in völlig neuem Licht dastanden. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es sich bei meinem Gegenüber um den wohl wichtigsten Akteur zeitgenössischer britischer Politik und Verwaltung handelte. Sherlock Holmes hatte ihn mir vor knapp einem Jahr als geringen Staatsbediensteten vorgestellt, welcher der Regierung einige Bücher führt. Jahre später erfuhr ich erst, dass Mycroft Holmes als Bindeglied sämtlicher maßgeblicher Ministerien diente, Premierminister beider Parteien hörten auf seinen Rat. Im Hintergrund war er der Strippenzieher, da sein Geist ob seiner induktiven Begabungen und eines beinahe perfekten Gedächtnisses alle Fäden zu entwirren vermochte, die sich im Wirrwarr der Regierungsgeschäfte verhedderten. Man bedenke, zu welchem Maß öffentlicher Anerkennung es dieser Mann hätte bringen können, bar seiner Lethargie und Menschenscheu!

Mycroft Holmes unterbrach seine Jahrhundertrede, um sich der erlesenen kleinen Auswahl Canapés hinzugeben, die uns ein Diener des Diogenes Clubs kurz vorher selbstverständlich wortlos auf einer Etagere serviert hatte. Ich nutzte die Zeit, mich meiner Geschichtskenntnisse zu vergewissern, um Mr. Holmes etwas entgegenzusetzen.

„Ganz so neu, ist die Demokratie allerdings nicht, Mr. Holmes“, setzte ich an. „Denken Sie doch an das alte Athen vor mehr als 2000 Jahren.“

Mycroft Holmes tupfte sich in aller Ruhe die Krümel aus dem Gesicht, schaute mich schmunzelnd an und nahm darauf den Erzählfaden wieder auf. „Sie irren nicht, guter Doktor Watson. Die attische Demokratie kam der eigentlichen Bedeutung des Wortes gar näher, als die heutigen Interpretationen es tun. In Perikles verdichtet sich für mich die athenische Demokratie. Stellen Sie sich vor, er wurde fünfzehnmal als Stratege, will heißen, als Militärbefehlshaber wiedergewählt! Welch rhetorische und moralische Überzeugungskraft dieser Mann gehabt haben muss! Athen war zwar ein Musterbeispiel für die Staatsform der Demokratie, jedoch wirkte auch hier eine gewichtige Einschränkung. ‚Vollbürger‘, das heißt, Bürger mit allen Rechten waren nur die wenigsten. Lediglich zehn Prozent der Athener Bevölkerung, gut 20.000 Männer, durften am politischen Prozess teilhaben. Verstehen Sie mich nicht falsch, all ihre Stimmen zählten gleich und ich wage die kühne Annahme, dass ihr relativer Bildungsgrad dem unserer modernen Gesellschaft keinesfalls unterlegen war.“

„Daraus schließe ich, dass unsere Demokratie doch nicht bloß ein gewagtes Experiment der modernen Zeit ist, Mr. Holmes.“

„Gewiss, Sie haben recht, Doktor. Jedoch sollte man keinesfalls übersehen, dass die attische Demokratie nicht einmal anderthalb Jahrhunderte währte. 322 v.Chr. besetzte Antipatros Athen und die Demokratie wich einer oligarchischen Adelsherrschaft. Danach gab es bis zur Unabhängigkeitserklärung unserer Brüder jenseits des Atlantiks in 1776 – also ganze 2000 Jahre – weltweit keine ernstzunehmenden Versuche, dem griechischen Vorbild nachzueifern. Die Franzosen versuchten es und scheiterten kläglich. Jetzt wagen sie es erneut und wir werden sehen, wohin sie die Republik diesmal führt. Oliver Cromwell meinte, die Krone ob ihrer Gewalttaten entmachten zu müssen; nur um dann noch scheußlichere Taten vor allem gegen die Katholiken zu verüben. Der britische Parlamentarismus, den Sie kennen, ist nicht viel älter als wir beide, Doktor Watson. Ich hoffe sehr, dass er sich als tragfähig erweisen wird und die Demokratie, welcher Gattung auch immer, als stabiles Fundament unseres Königreichs. Wichtiger jedoch als die konkrete Staatsform ist die charakterliche Eignung der führenden Staatsmänner eines Landes. Was mich beinahe zwangsläufig zu einem geistigen Nachfolger des Perikles führt – Marcus Tullius Cicero.

Die römische Republik barg zwar nur wenige Elemente, die man heute als demokratisch bezeichnen würde. Der große Denker und Orator Cicero jedoch dachte demokratisch. Das wird deutlich, wenn man sich mit seinen Schriften befasst. Was noch gewichtiger ist –“ Mycroft Holmes hatte sich weit nach vorn gelehnt und fixiert mich „– er prägte einen Gedanken, der noch heute jedem Staatsmann, gar jeden Politiker als Maxime gelten sollte: Salus publica suprema lex – Das allgemeine Wohl sei das höchste Gesetz. Ursprünglich lautete es wohl: Salus populi suprema lex esto. Das Wörtchen publica gefällt mir jedoch besser als populi, was für hier für das Volk steht, da wir hier wiederum definieren müssten, was genau unter einem Volk zu verstehen ist. Eingedenk dieser Maxime muss sich ein Staatsmann oder auch ein Mitglied der öffentlichen Verwaltung immerzu fragen: Dient das, was ich will, dem allgemeinen Wohl? was steht dagegen? Habe ich jedes noch so konträre Argument gründlich abgewogen und kann ich meine Entscheidung nachher verantworten? Die Krisen vieler Jahrhunderte, menschliche Hinterfragung und nicht zuletzt auch die Kernwerte des Humanismus und der Aufklärung werfen heute ein anderes Licht auf diese Maxime – völkerübergreifend.

Hält sich der Staatsdiener an jene Prämissen, erliegt er nicht der Versuchung zur Selbstdarstellung. Voraussetzung dafür ist jedoch ein geistig autarker Bürger. Jene, die sich scheinbar gern von den charmant anmutenden, in der Praxis allerdings untauglichen Ideen der Blender innerhalb unserer Demokratie verführen lassen, sind die Achillesferse dieses Systems. Man könnte also die Ansicht vertreten, dass eine profunde Allgemeinbildung nebst moralischer Reife Fundament einer funktionierenden Demokratie sein sollten. Je weitsichtiger die Bürger, desto ausdauernder und grundlegender können politische Reformen angelegt werden. Begreifen die Bürger mehrheitlich die Notwendigkeit tiefgreifender, zuweilen auch schmerzhafter Innovationen, können diese erst sinnstiftend angegangen werden. Fürchtet der Abgeordnete jedoch seine Abwahl, wird er jene notwendigen Schritte erst gar nicht tun. Somit verdichtet sich erfolgreiche Politik auf diese beiden Faktoren: geistig mündige Bürger und vor allem Staatsdiener, die nach der Maxime Salus publica suprema lex handeln. Der zweite Punkt meiner Argumentation gilt übrigens in jedem denkbaren Herrschaftssystem; ob nun Parlament, König oder Kaiser die maßgebende Kraft stellen. Moral und Charakter sind gewichtigere Gesichtspunkte einer der Allgemeinheit dienlichen Staatsführung gegenüber den Nuancen der Konstitution.“ Mycroft Holmes schwieg. Meine Zigarre war auf ein Häuflein Asche reduziert.

„Ich gestehe, Ihre Darlegungen leuchten mir durchaus ein. Es ist schon beeindruckend, wie vielschichtig mache Dinge sind, wenn man sie erst im objektiven, metaphysischen Licht betrachtet. Oft bleibt nicht mehr viel von den ursprünglichen Ansichten zum Thema übrig.“

„Dieses Phänomen dürfte Ihnen ja durch meinen Bruder bereits vertraut sein, Doktor Watson. Aber um auf Ihr ursprüngliches Problem zurückzukommen: Versäumen Sie bitte nicht die notwendige Revision Ihrer Praxis, um sie Ihren Prämissen anzupassen. So, wie es ein neuer Premierminister tun sollte, übernimmt er die Amtsgeschäfte seines Vorgängers. Prüfen Sie Ihre Mitarbeiter, Ihren Vertreter; jedes Rädchen im Uhrwerk, ob sie dem Wohle Ihrer Patienten dienen oder nicht. Wenn Sie diesen Rat beherzigen, wird Ihre Praxis florieren und sich Ihre Erschöpfung in Wohlgefallen auflösen.“

Mycroft Holmes hatte die abschließenden Worte mit so viel Güte und Freundlichkeit ausgesprochne, dass ich ihm die kühne Einmischung in meine Belange geflissentlich nachsah. Deswegen befolgte ich seinen Rat, schloss meine Praxis für eine Woche der Inventur und arbeitete alle überfälligen Veränderungen ab. Der Erfolg dieser Maßnahmen gab ihm schließlich recht. Mein Vertreter zum Beispiel rechnete meinen Patienten in meiner Abwesenheit ärztliche Leistungen ab, die er nicht erbrachte oder die schlicht unnötig waren. Obwohl er meinem Vorgänger bereits viele Jahre Vertretungsdienste geleistet hatte, trennte ich mich von ihm. Auch das Erfassungssystem meiner Vorzimmerdame erwies sich als ausgesprochen unzureichend. Nach einer recht pedantischen Umstrukturierung behielten wir stets Überblick über meine Patienten und ihre Erkrankungen.

Zum Ende unseres Gesprächs erhob Mr. Mycroft Holmes sich – es bereitete ihm sichtlich Mühe – ging zum Schreibtisch und reichte mir einen kleinen Umschlag. Auf dem Kuvert stand mein Name. Ich öffnete es und erkannte die Handschrift meines ehemaligen Wohngenossen Sherlock Holmes: Den Weg in die Baker Street können Sie sich nun sparen. Gern geschehen!


Was mir damals sauer aufgestoßen war, erwies sich im Nachhinein als großer Segen. Holmes wollte mir durch seinen Bruder Hilfe zuteilwerden lassen. Später verriet er mir, dass er durch eigene Recherchen in Erfahrung gebracht hatte, welche gewaltigen Probleme die Praxis schon zu Zeiten meines Vorgängers belasteten. In gewisser Weise erwies sich diese ungewöhnliche Geste als eine Art verspätetes Hochzeitsgeschenk von Holmes an mich und Mary. Fortan hatte ich tatsächlich weit mehr Zeit für meine wundervolle Frau und es war uns möglich, die wenigen gemeinsamen Jahre, die uns vergönnt waren, erquicklich zu nutzen.

Was Mycroft Holmes angeht, so hat er mich an diesem Tage mit seinen Einsichten in die Staatstheorie tief beeindruckt. Wenn man bedenkt, dass dieser brillante Exkurs lediglich Analogie war, um mich von den Maximen einer effektiven Unternehmensführung zu überzeugen, verdeutlichen sich darin die eminenten geistigen Fähigkeiten des Mannes, den Sherlock Holmes öfter als größten Geist der Gegenwart bezeichnete. Seine Worte hallen in meinem Gedächtnis bis heute nach. Mittlerweile dürfen sich beinahe alle Bürger Seiner Majestät direkt und indirekt an den demokratischen Prozessen unseres Landes beteiligen. Und vor jeder Unterhauswahl, die seither stattgefunden hat, befleißigte ich mich in Fragen der konkreten Inhalte aller Kandidaten und ihrer moralischen und charakterlichen Leitlinien – unabhängig ihrer gesellschaftlichen Stellung. Wenn viele diesem Beispiel folgen würden, könnte es vielleicht etwas werden mit dem großen neumodischen Experiment, genannt „Demokratie“.




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