Parallelwelt - Ein Leben als Zeuge Jehovas

Wie ist es sein Leben als Zeuge Jehovas zu verbringen? Wie fühlt sich der Alltag innerhalb dieser Sondergemeinschaft an? Um diese Fragen möglichst realitätsnah zu beantworten, habe ich aus den Lebensberichten fünf ehemaliger und eines noch aktiven Zeugen Jehovas einen Bericht verfasst. Erschienen ist dieser Text im Ewald & Ewald, den 'Niederreihnischen Blättern für Weisheit und Kunst'. 

Addendum: Den Opfern und Hinterbliebenen der Schreckenstat von Hamburg wünsche ich allen Segen. Möge der Herr die Opfer aufnehmen in sein ewiges Reich und ihren Angehörigen damit Hoffnung schenken.


Parallelwelt

Ein Leben als Zeuge Jehovas

Prolog

Der folgende Bericht folgt in weiten Teilen jenen formalen Strukturen, wie sie für ein Interview typisch sind: Eine Frage des Interviewers gibt den Befragten Gelegenheit, auf diese zu antworten, indem er aus seinen Erinnerungen berichtet. Die Antworten, die so zustande kommen, sind auf ihre Richtigkeit hin überprüft – soweit dies möglich ist – und die hier beschriebenen Ereignisse haben sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen. Nur sind sie nicht einer Person allein widerfahren. Der hier zu Wort kommende fiktive Befragte dient als Hybrid von sechs real existierenden anonymisierter Personen. Aus den Erfahrungen dieses Sextetts beziehen die Antworten des Befragten ihre Nahrung.

Neben diesem Frage-Antwort-Spiel findet sich immer dort, wo sich eine Vertiefung anbietet, ein Infokasten, der näher über das aktuelle Thema aufklärt. Diese Infokästen sollen zum einen Aufschluss über die Religionsgemeinschaft geben und zum anderen kritisch hinterfragen sowie Vergleiche zu anderen christlichen Denominationen ermöglichen.

Ziel dieser literarisch ungewöhnlichen exemplarischen Exkursion durch viele Lebensjahrzehnte bei den Zeugen Jehovas ist es, ein realistisches Bild vom Leben in dieser religiösen Sondergemeinschaft zu zeichnen. Dieses Bild soll themenfremden Menschen nähere Einblicke gestatten und gegenwärtigen sowie ehemaligen Mitgliedern eine Reflektionshilfe sein.

Das Kind von Zeugen Jehovas

Ich weiß bereits, dass Sie von Kindesbeinen an der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehörten. Sind Ihre Eltern ebenfalls innerhalb dieser Religion aufgewachsen oder wurden sie missioniert? Wenn Letzteres zutrifft: Wie ging das vonstatten?

Ich wuchs als Kind zweier Zeugen Jehovas auf. Meine Eltern ließen sich kurz vor meiner Geburt taufen, schlossen sich also im Erwachsenenalter bewusst dieser Gruppe an. Durch angeheiratete Verwandtschaft gab es später noch mehr Zeugen in unserer Familie, allerdings spielten diese bei der Bekehrung meiner Eltern keine Rolle.

Mein Vater und meine Mutter stammen aus der ehemaligen DDR. Dort wurden die Zeugen Jehovas bereits im August 1950 verboten. Die Missionierung – intern Predigtdienst genannt – erfolgte in der DDR nicht, wie wir das heute kennen, von Haus zu Haus und in den Fußgängerzonen der Städte. Man nannte es „informelles Zeugnisgeben“. Am Arbeitsplatz und bei sozialen Veranstaltungen wurden von den Brüdern und Schwestern – wie sie sich untereinander nennen – Gelegenheiten ergriffen, dezent von ihrem Glauben zu berichten. Stieß dies auf Widerhall, wurden diese Gespräche im Geheimen vertieft und auf die Umstände des Interessierten angepasst. Anschließend wurden Publikationen der Gemeinschaft besprochen und der Interessent so peu à peu in die gewünschten Überzeugungen eingeführt. So geschah es auch bei meinem Vater. Er ist ein intelligenter Mann, der von einem gescheiten Bruder an die Glaubenslehre herangeführt wurde. Dies führte so weit, dass er sich einige Jahre nach seinem ersten Kontakt mit ihm taufen lies. Meine Mutter folgte seinem Beispiel wohl eher aus ehelicher Verbundenheit denn aus eigener Überzeugung. Auch wenn er das heute eher leugnet, vermute ich, dass mein Vater über die ersten Jahre hinweg durchaus überzeugt war von der „Wahrheit“, wie die Zeugen Jehovas ihre Glaubenslehre bezeichnen; mit wenig exegetischem Spielraum für die Gläubigen. Diese Dogmen waren in Zeiten des Sozialismus auch eine absolut einzigartige Sache. Es war ein alternativer Weg, der von individualistischen Charakteren beschritten wurde, denen die Diktatur ein Dorn im Auge war. Mein Vater stand schon vor dieser Zeit oftmals auf Kriegsfuß mit den Oberen des Systems. Sein Abneigungen gegen die Willkür jener Zeit führten ihn in einen Konflikt, aus der er anscheinend nur durch eine Taufe zum Zeugen Jehovas wieder herausfinden konnte. Diese Entscheidung war es auch, die ihm eine beinahe zweijährige Gefängnisstrafe einbrachte. Diese Strafe war Resultat seiner Kriegsdienstverweigerung, eine Folge der strikten pazifistischen Überzeugungen innerhalb der Religionsgemeinschaft. Dies geschah allerdings noch einige Jahre vor meiner Geburt, womit ich diese schwere Zeit nicht selbst miterleben musste.

• INFO:
Während der sowjetischen Besatzungszeit (1945-49) konnten die Zeugen Jehovas – bis auf kurzfristige Einschränkungen – weitgehend frei agieren. Dies war vor allem der Tatsache geschuldet, dass sie als äußerst anständige Bürger galten, welche den Gesetzen und Weisungen der Herrschenden, gemäß Mtth. 22,15-22, widerstandslos folgten. Schnell erkannte die Staatsführung jedoch, dass dem Kaiser nur gegeben wird, was nicht im Widerspruch mit den eigenen Überzeugungen steht. Die Brüder und Schwestern verhielten sich politisch absolut neutral, verweigerten also die Teilnahme an Wahlen oder den Beitritt zu politischen Organisationen und bestritten einen streng pazifistischen Lebensweg. Die anfangs als „Opfer des Faschismus“ Anerkannten wurden schließlich zu Staatsfeinden erklärt. Dies hing neben vorab Erwähntem vor allem damit zusammen, dass diese Gemeinschaft das Monopol des Staates in weltanschaulichen Fragen nicht anerkannte. Die Verwurzelung der Zeugen Jehovas in den Vereinigten Staaten spielte der DDR-Propaganda nur noch in die Hände1.


Inwiefern unterscheidet sich die Kindheit unter Zeugen Jehovas von derjenigen eines anderen Kindes? Von welchem Punkt an haben Sie bemerkt, dass Ihre Lebensweise sich von der der meisten unterscheidet?

Das kommt gewiss auf die Art und Weise an, wie man eine erfüllte Kindheit im Normalfall definiert. Die meisten Kinder von Zeugen Jehovas erfahren ebenso viel Liebe und Zuwendung von ihren Eltern wie andere Kinder. Es gibt Ausflüge, Spiele, es wird gemeinsam gelernt. Je älter man wird, desto stärker fallen allerdings Unterschiede ins Auge, die man vorher nicht wahrgenommen hat. Erst zu Beginn der Schulzeit fiel mir auf, dass meine Mitschüler das Jahr über Feste feierten, die mir unbekannt waren. Ich kannte Geburtstage nicht und durfte auch nicht gratulieren. Ostern, Weihnachten und die dazugehörigen Geschenke waren mir ebenso fremd. Die Beteiligung an irgendeiner Aktivität, die in unmittelbaren oder auch nur mittelbaren Zusammenhang mit einem dieser Feste stand, war mir verboten. Das führte unweigerlich zu meiner Ausgrenzung. Ich nahm fortan eine Sonderrolle ein. Um diese Peinlichkeit nicht zu verschlimmern, erfand ich allerlei weithergeholte Erklärungen für mein Fernbleiben. Ich fühlte mich isoliert und zu einer Unaufrichtigkeit genötigt, die mir nicht entsprach. Freundschaften zu schließen war mir unter diesen Umständen beinahe unmöglich.

Mit zunehmenden Alter verstärkte sich meine Einbindung in die Aktivitäten unserer heimischen Gemeinde – die so genannte Versammlung. Zahlreiche Zusammenkünfte, tägliche publikationsgebundene Bibellektüre und die Teilnahme an den Predigtdienstaktivitäten der Eltern – was ja nach dem Fall der Mauer wieder möglich war – standen für mich auf der Tagesordnung. Gerade beim Predigtdienst plagte mich allem voran die Angst, von Klassenkameraden gesehen zu werden. Als ich meinem einzigen Schulfreund irgendwann doch die Wahrheit über meine Religionszugehörigkeit offenbarte – bis dahin hatte ich ihm von kuriosen Familienbräuchen erzählt, die uns beispielsweise das Feiern des Weihnachtsfestes unmöglich machten – brach dieser schließlich mit mir und bezeichnete mich als Jünger des Teufels.

Mir wurde früh vermittelt, dass „Verfolgung“ Kennzeichen der wahren Christen sei und ich mich glücklich schätzen solle, wenn ich im Namen Jehovas Opfer von Gespött und Widerstand würde. Bei dieser Gelegenheit sollte aber erwähnt werden, dass meine Eltern mir noch recht großen Spielraum gewährt haben. Gerade als ich älter wurde, ließen sie mir oftmals die Wahl, den Königreichssaal – wie dort die Kirchen genannt werden – zu besuchen oder aber nicht. Gerade im frühen Jugendalter machte ich von den Möglichkeiten dieser Freiheit oftmals Gebrauch und blieb daheim. Später sollte sich dies jedoch ändern.

• INFO:
Oftmals hört man Berichte – teils von prominenter Stelle – die ein düsteres Bild von Jugend und Kindheit innerhalb der Fänge einer Sekte zeichnen. Jeder Mensch empfindet anders, womit diesen Erfahrungen und den daraus resultierenden Empfindungen nicht widersprochen werden sollte. Teil der Wahrheit ist es aber auch, dass Zeugen Jehovas per se keine schlechten Eltern sind. Die meisten lieben ihre Kinder und wollen nur das Beste für sie. Die Organisation der Zeugen Jehovas arbeitet allerdings vielmehr mit „Strafandrohungen“ denn mit der Liebe Gottes, um die Kinder anzuleiten, den Regeln der Gemeinschaft zu folgen. Interne Publikationen und Leitschriften wie Fragen junger Leute – praktische Antworten oder Mein Buch mit biblischen Geschichten illustrieren oft einen strafenden und brutalen Gott, der Feuer vom Himmel regnen lässt und jeden noch so kleinen unreinen Gedanken oder Zweifel straft und Vergebung erst nach dem jüngsten Gericht walten lässt. So türmt sich der Sündenberg bereits in jungen Jahren zu erdrückender Höhe.


Warum änderte sich Ihre Einstellung zum Besuch der Versammlungen und wie sahen Ihre ersten Schritte dort aus?

Immer wenn ich nach einigen Wochen der Absenz die Versammlung wieder besuchte, wurde ich mit viel Empathie und Herzlichkeit empfangen. Die Jugendlichen zeigten Interesse an mir und die Älteren lobten mich ob meiner Bildung. Ein solches Maß an Aufmerksamkeit und Freundlichkeit war mir bis dahin gänzlich fremd. Daheim und in der Schule hatte ich mit großen Problemen zu kämpfen, meine Mutter war schwer krank, mein Vater war ausgelastet mit der Sorge um sie und durch seine Arbeit. Damals war ich noch in der ungeeigneten Schule, ich war häufig abgelenkt und desinteressiert, beschäftigte mich lieber mit eigenen Projekten. Kurzum, ich war ein Einzelgänger mit vielen Ängsten und Problemen. Die Freundlichkeit, die mir in der Versammlung zuteil wurde, bot hier eine erfreuliche Abwechslung. Zudem zeigten mir die Ältesten – wie dort die „Priester“ genannt werden – auch schon früh einen lohnenden Karriereweg auf, der mir bei ausreichendem Engagement innerhalb der Gemeinde offenstehen könnte. Offengesagt, ich fühlte mich geschmeichelt. Ich trug das Gefühl in mir, einen Ort für meine Charismen gefunden zu haben.

So ging ich aus freien Stücken den Weg, wie er bei den Zeugen Jehovas für einen Jugendlichen vorgezeichnet ist. Ich meldete mich als Ungetaufter Verkündiger, intensivierte meine Predigttätigkeit und übernahm Leseaufgaben bei den wöchentlichen Zusammenkünften im Königreichssaal. Um beurteilen zu können, ob ich mich Jehova mit ganzer Seele verschrieb, arbeitete ich mit einem Ältesten verschiedene Fragen aus einem eigens für diesen Zweck verlegten Buch durch. Meine Antworten auf diese „Tauffragen“ ermöglichten mir, mich mit 16 Jahren taufen zu lassen. Im Kongresssaal gab es ein eigens für diesen Zweck angelegtes Wasserbecken, indem man einmal komplett untergetaucht wurde. Ansprachen wurden gehalten, ein großes Fest für mich und meine „Mittäuflinge“ abgehalten. Ich habe dieses Ereignis als eine angenehme Sache in Erinnerung behalten. Die meisten der Täuflinge dieses Tages waren etwa in meinem Alter, wenige waren erst als Erwachsene bekehrt worden und ließen sich jetzt mit 30 oder 40 taufen.

Kurz darauf zog ich daheim aus und warf mich ins Leben eines Zeugen Jehovas. Meine schulischen Leistungen verbesserten sich, so dass ich meinen Bildungsweg auf dem Gymnasium fortsetzten konnte. Mein Privatleben war allerdings vollständig von den Aufgaben in der Versammlung ausgefüllt. Für außenstehende Freunde oder Hobbys war kaum Zeit. Ich ging dieses Leben an, wie es für mich üblich war und vertiefte mich in die Inhalte der Publikationen und des persönlichen Bibelstudiums mit äußerster Akribie. Mit Anfang 20 hielt ich bereits kurze Vorträge in der Theokratischen Predigtdienstschule – eine Zusammenkunft, welche der Schulung der Brüder und Schwestern dient – und nahm den Pionierdienst auf, bei dem man sich verpflichtet, monatlich etwa 70 Stunden für den Predigtdienst aufzuwenden.

• INFO:
Die Zeugen Jehovas sind streng hierarchisch organisiert. An der Spitze der weltweiten Gemeinschaft steht die so genannte Leitende Körperschaft, ein Gremium bestehend aus durchschnittlich acht Männern, denen sämtliche Führungsaufgaben der Religionsgemeinschaft obliegen. Allein sie sind berechtigt, Exegese zu betreiben und Satzungen zu erlassen. Zum Zwecke der Publikation, Schulung und allgemeiner Organisation nutzten sie mit der Watch Tower Society (Wachtturmgesellschaft) einen global agierenden Konzern und dessen Tochtergesellschaften. Zudem gliedert sich die Gemeinschaft weltweit in verschiedene Zonen, welche wiederum von den Zonenaufsehern und deren Zweigkomitees geleitet werden. Diesen unterstehen die Bezirksaufseher und diesen wiederum die Kreisaufseher, welche jeweils mit der Betreuung von knapp zwei Dutzend Gemeinden (Versammlungen) betraut sind, die im Halbjahrestakt besucht werden. Das Herz der Glaubensgemeinschaft stellt allerdings die Versammlung dar. Eine Versammlung besteht für gewöhnlich aus etwa 70 bis 120 Verkündigern (getaufte und ungetaufte Verkündiger). Nur die Männer werden dort mit Lehr- und Jurisdiktionsaufgaben betraut. Männer, die sich dem Credo entsprechend vorbildlich und moralisch einwandfrei verhalten, die Lehre der Organisation verstehen und akzeptieren, ausreichend im Predigtdienst aktiv sind und eine gewisse Lehrbefähigung mitbringen, eignen sich innerhalb der Versammlung für die Ernennung zum Ältesten oder Dienstamtgehilfen (Diakon). Älteste leiten die Gemeinde, die Dienstamtgehilfen unterstützen sie bei ihren Aufgaben. Älteste halten Lehrvorträge, schulen die Gemeinde für den Predigtdienst und entscheiden über Gemeinschaftsentzüge (=vollständiger Ausschluss aus der Gemeinschaft). Die Ältesten sind der Apparat der Organisation, mit dem jeder Verkündiger interagiert und dem er auch rechenschaftspflichtig ist. Die Ältestenschaft einer jeden Versammlung kennt wiederum verschiedene Ämter:

Vorsitzführender Koordinatorsteht der Ältestenschaft vor und vertritt die Versammlung nach Außen (früher Vorsitzführender Aufseher).
Sekretärfungiert als erster Stellvertreter des Koordinators und führt die Finanzen sowie die Dokumentation der Versammlung.
Dienstaufseherbildet zusammen mit Koordinator und Sekretär das vollständig weisungsbefugte Dienstkomitee und trägt die Verantwortung über die Predigttätigkeit.
Leiter der Theokratischen Predigtdienstschule auch Schulaufseher genannt, obliegt die Leitung über die wöchentlich stattfindende gleichnamige Lehrzusammenkunft.
Wachtturmstudienleiterleitet das wöchentliche „Studium“ des Wachtturms für die gesamte Versammlung, stellt Fragen und erläutert wichtige Punkte.
Gruppenleitermehrere Älteste, die die Predigt- und Studienmodalitäten einer kleineren Gruppe der Gemeinde beaufsichtigen.

Aufwärts auf der Karriereleiter

Da Sie bereits so früh sehr viel Zeit in die Belange Ihrer Gemeinde investiert haben, stellen sich doch mehrere Fragen. Wie viel Zeit blieb Ihnen noch für das Privatleben? Wie erging es Ihnen schulisch bzw. beruflich? Wurden Ihnen aufgrund Ihres Engagements neue Vorrechte in der Versammlung eingeräumt?

Mein Privatleben fand, jenseits von Studium und Beruf, kaum statt. Bestenfalls las ich mal ein Buch oder schaute mir eine Serie oder einen Film im Fernsehen an. Auch das Private wurde von der Versammlung und meinen Brüdern und Schwestern ganz und gar eingenommen. So fand ich recht schnell eine Frau, die ich lieben lernte und gründete mit ihr eine Familie. Anfänglich mussten wir uns jedoch einiger Widerstände erwehren. Mehrmals wurden wir verdächtigt, bereits vor der Eheschließung sexuell aktiv zu sein – was nicht zutraf. Aufgrund dieses Verdachts fand sich des Öfteren ein Auto mit zwei Ältesten vor meiner Wohnung, um das Kommen und Gehen meiner Verlobten zu beobachten. Überhaupt hätten wir uns laut den Regeln der Organisation ohne weitere Person nicht im selben Zimmer aufhalten dürfen.

Nach der Geburt unserer Tochter schloss ich auch mein Studium ab, trotz der Widerstände meiner Ältestenschaft und des Kreisaufsehers. Der Besuch einer Hochschule wird von der Leitenden Körperschaft als mindestens stark problematisch bewertet. Mir sind einige Mitschnitte von Vorträgen und Artikel aus dem ERWACHET!-Magazin gezeigt worden, um mich davon zu überzeugen, dass es sich bei Universitäten um Tempel der Sünde handelt. Dieser Argumentation folgend kam mir damals erstmals der Gedanke, dass es in Wahrheit die umfassende Bildung war, vor der man sich fürchtete. Wenn ich daran denke, wie viele Bücher nicht gelesen werden durften und welche Filme indiziert wurden, erhärtete sich dieser Verdacht in mir nur noch zusätzlich. Die Drogen- und Sexorgien, vor denen ich damals gewarnt wurde, habe ich jedenfalls nie erlebt – vielleicht wurde ich ja einfach nicht dazu eingeladen. Die „Sünde“, derer ich mich beinahe über den gesamten Zeitraum meiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft schuldig gemacht habe, bestand in meiner ständigen Befassung mit Themen, die von der Leitenden Körperschaft untersagt waren. Ich las Harry Potter, befasste mich mit katholischer Liturgie und betrieb für mich allein eine Exegese der Heiligen Schrift, zu der ich auch externe Quellen heranzog. Bei mir steht sogar heute noch ein Buch über den Satanismus im Regal, nicht, weil ich dieser äußerst materialistischen Philosophie jemals angehangen hätte, einfach aus dem Interesse an Gott und der Welt.

Trotz meiner Beschäftigung mit diesen und anderen Geistesgegenständen blieb ich den Zeugen Jehovas treues Mitglied und Pionier. Meine Arbeit, die mir schon kurz nach dem Studium maximale Flexibilität ermöglichte, gestattete mir, voll in der Versammlung aufzugehen. Mit gerade 24 Jahren ernannte mich die Ältestenschaft in Absprache mit dem Kreisaufseher zum Dienstamtgehilfen. Dies brachte mir einige neue Aufgaben. Ich organisierte fortan stellvertretend für einen erkrankten Ältesten Predigtdiensttreffen und leitete ebenso vertretungsweise Bibelstudiengruppen. Auch mein erster Öffentlicher Vortrag lies nicht lange auf sich warten – eine 45-minütige Ansprache vor einer fremden Versammlung über ein bestimmtes, klar vorgegebenes Thema. Es ging, so glaube ich, um biblische Prophetie und wie diese sich angesichts historischer Ereignisse erfüllt hätte. Ich erinnere mich gut, wie ich nach dem Vortrag von einem Ältesten getadelt wurde, ich hätte zu viele externe Quellen verwendet. Ich antwortete, die Wahrheit bräuchte sich vor Tatsachen doch nicht zu fürchten. Trotz dieser Warnungen – als die ich derlei Begebenheiten heute werte – reizten mich, ich muss es gestehen, die Aufstiegsmöglichkeiten in der Hierarchie der Zeugen Jehovas. Es gab sehr wohl Aspekte, darunter der Umgang mit verstoßenen Brüdern und Schwestern, die mir sauer aufstießen. Meinen Teil beizutragen, die Situation zu verbessern; Probleme durch Empathie und Verstand in den Griff zu bekommen, motivierte mich aber nur zusätzlich in meinen Ambitionen.

Etwa zweieinhalb Jahre nach meiner Ernennung zum Dienstamtgehilfen war es dann schon so weit und man erhob mich als einen der jüngsten Brüder im Kreis zum Ältesten. Ich erinnere mich gut daran, dass ich an dem Tag der Bekanntgabe mit Stolz und Wehmut den Applaus der Versammlung entgegennahm. Mein Vater war zwar erschienen, hatte sich in den letzten Jahren jedoch stark von der Gemeinde entfernt. Meine Mutter war mittlerweile zu krank, um zugegen zu sein. In dem Tempo, mit dem ich mich dem Gott des Alten Bundes zu nähern schien, hatten sie sich von ihm entfernt. Mein Vater riet mir damals oft, etwas Geschwindigkeit aus meinen Bestrebungen herauszunehmen: „Wer viel erhält, von dem wird auch viel verlangt“, sagte er immer. Er selbst strebte nie nach den Ämtern, wenn er sich auch hervorragend geeignet hätte ob seiner Intelligenz und Menschenkenntnis. Nun übernahm ich jedoch eine Studiengruppe der Versammlung und wurde regelmäßig als Vortragsredner angefordert. Die Vorträge lagen mir besonders am Herzen und ich verstand es mit der Zeit immer besser, die strengen Vorgaben der Leitenden Körperschaft so weit zu dehnen wie irgend möglich. Als dann unser alteingesessener Schulaufseher verstarb, wurde ich gefragt, ob ich dessen Aufgabe übernehmen könnte. Dies kam mir insofern entgegen, als ich in der Lehrtätigkeit durchaus meine Heimat gefunden hatte. Nun trimmte ich also die gesamte Versammlung auf maximale Effizienz im Predigtdienst: Welche Fragen sollte man an der Haustür stellen oder wie erkenne ich existenzielle Krisen bei meinen Mitmenschen? Gerade diese Krisen dienen oft als Hebel bei der Präsentation der Jenseitshoffnung, die Jehovas Zeugen proklamieren. Auch Rhetorik und der Umgang mit der Bibel waren Themen in der Theokratischen Predigtdienstschule. Ich bewertete die Vorträge meiner Mitbrüder und die Aufführungen der Schwestern, erteilte Rat und Lob. Neben diesen Aufgaben diente ich immer noch als Pionier und investierte über 800 Stunden im Jahr in meine persönliche Predigttätigkeit.

Unsere Tochter wuchs somit unter weitaus strafferen und strengeren Bedingungen auf, als ich selbst. Unsere Lebensführung war ganz auf die Belange unserer Religion ausgerichtet. Voller Eifer widmeten wir uns dem Predigen und dem „Studium“ der Wachtturm-Publikationen. Als ich mit Mitte 30 meinen geliebten Posten als Schulaufseher aufgeben sollte, um dafür das Amt des Dienstaufsehers zu übernehmen, war ich jedoch wie vor den Kopf gestoßen. Obwohl ich seit anderthalb Jahrzehnten als Pionier diente, war mir der „Haus zu Haus-Dienst“ doch immer etwas unangenehm gewesen. Anderen die Begeisterung an der Sache zu vermitteln fiel mir schwer, empfand ich es doch selbst eher als reine Pflicht. Das war mir dieser Dienst tatsächlich. Ich sah es, wie die Publikationen es uns vermittelten: als Versuch, die Menschen vor der ewigen Verdammnis zu retten. Als Zeuge Jehovas glaubt man, nur die Mitbrüder- und Schwestern würden am Tag des Gerichts Gottes – Harmagedon – überleben. Da dieser Tag quasi zu jeder Zeit kurz bevorstand, bestehe Dringlichkeit, die Menschen zu warnen. Trotz meiner Bedenken nahm ich den Posten an. Fortan war ich noch intensiver in die Tätigkeit der Ältestenschaft eingebunden und es blieb weniger Zeit für meine Vorträge.

So vergingen die Jahre. Meine Tochter wuchs heran und absolvierte eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin. Meine Frau stand bereits seit Jahren im Hilfspionierdienst – mit 40 bis 50 Stunden Aufwand im Monat. Wir lebten bescheiden, da angesichts unserer Prioritätensetzung natürlich keine finanziellen Kraftakte möglich waren. Eines Abends klingelte unser Telefon. Meine Frau hob ab und reichte mir den Hörer. Der Kreisaufseher war am anderen Ende und offerierte mir ein Angebot, dass ich – ironischerweise ganz wie im Film „Der Pate", den ich natürlich auch nicht hätte sehen dürfen – nicht ablehnen konnte. Er suchte einen Stellvertreter, der über mehrere Wochen im Jahr und im Krankheitsfall seine Aufgaben übernehmen könnte. Er hätte dabei sofort an mich gedacht und obwohl ich im Normalfall schon fast zu alt sei für diesen Weg sei idealerweise meine Tochter doch schon fast aus dem Haus und meine Frau arbeite nicht. Über meine Befähigungen mache er sich keine Sorgen und nächste Woche beginne in Selters (Taunus) – der Zentrale von Jehovas Zeugen für Mitteleuropa – ein Lehrgang, um alles Nötige zu erfahren. Für mich war klar, dass das Amt des stellvertretenden Kreisaufsehers oft nur der erste Schritt hin zum Vollzeitdienst darstellte. Irgendwann würde man mich fragen, ob ich Kreisaufseher werden wolle und mir einen Kreis weit weg von meiner Heimat offerieren. Ich nahm mir vor, sollte dieser Moment kommen, Nein zu sagen und auf das Verständnis meiner Mitbrüder zu hoffen. Der Gedanke, unsere Heimat und unsere Tochter hinter uns zu lassen, behagte weder mir noch meiner Frau.

INFO:
Das Leben als Zeuge Jehovas bringt allerlei Reglementierungen mit sich, die beinahe jede Facette des täglichen Lebens durchdringen. Den Brüdern und Schwestern der Religionsgemeinschaft ist es zum Beispiel das Rauchen untersagt, Zuwiderhandlungen bringen ein Rechtskomitee mit sich. In einem Rechtskomitee hat sich der „Sünder“ drei Ältesten zu erklären. Sollten diese Männer der Auffassung sein, dass echte Reue vorliegt, entziehen sie dem Betreffenden nur sämtliche Vorrechte und verkünden anschließend in einer öffentlichen Zusammenkunft, dass sich mit Bruder X oder Schwester Y ein Rechtskomitee befasst hätte. Sollten die Ältesten nicht von der Reue sowie von den Beteuerungen der Umkehr des Zeugen überzeugt sein, wird dieser aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dies hat zur Folge, dass er weder die Zusammenkünfte der Versammlung besuchen darf, noch irgendjemand das Gespräch mit ihm suchen soll. Es ist sogar untersagt, den Ausgeschlossenen zu grüßen, sollte es zu einer zufälligen Begegnung kommen. Diese drakonische Maßnahme betrifft auch die Verwandten des Ausgeschlossenen, sollten diese nicht im selben Haushalt leben. Für viele Betroffene führt dies zu einer vollständigen Isolation von allen sozialen Verbindungen, welche viele nach einigen Jahren (hier ist eine Prüfung der Ältesten erforderlich) wieder zur Rückkehr bewegt. Weitere „Sünden“, die die Einberufung eines Rechtskomitees erfordern und einen Gemeinschaftsentzug nach sich ziehen können, sind u.a.: vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr (jedweder Art), Drogenkonsum, übermäßiger Alkoholkonsum, der Besuch von Gottesdiensten anderer Kirchen, ein interkonfessionelles Gebet, die Anstellung bei einem kirchlichen Arbeitgeber, Mord, Totschlag, ein Selbstmordversuch sowie „dreistes, zügelloses Verhalten“. Des Weiteren kann ein Mitglied ein Rechtskomitee erwarten, wenn es: Ein christliches oder heidnisches Fest begeht (Weihnachten, Ostern, Silvester usf.), wenn es trotz Ermahnungen einen extremen Mangel an Körperhygiene erkennen lässt, sich mit Spiritismus oder Okkultismus befasst, regelmäßig Glücksspiele spielt, des Öfteren zu gewalttätigen Wutausbrüchen neigt oder aber den Boxsport betreibt. Auch Teilnahme an einer demokratischen Wahl oder gar die Kandidatur für ein Amt (ob staatlich oder als Elternvertreter in der Schule) können ein Rechtskomitee nach sich ziehen. Wer bewusst Nahrungsmittel verzehrt, die das Blut von Tieren enthalten oder in eine Bluttransfusion einwilligt, begeht einen „Rechtsbruch“. Die schwerste denkbare Sünde stellt für Jehovas Zeugen jedoch der öffentliche Widerspruch gegen Lehren ihrer Organisation dar. Sollte ein Bruder oder eine Schwester mit anderen über ihre Zweifel an der Exegese der Leitenden Körperschaft sprechen oder gar aktiv Schriften gegen die Auffassungen der Organisation verbreiten, wird von einer „unverzeihlichen Sünde“ gesprochen und der Ausschluss als „Abtrünniger“ ist gewiss2.

Die „Gedächtnisgruft“

Sie waren innerhalb der Hierarchie der Zeugen Jehovas also rasch aufgestiegen und nahmen einen der vordersten Plätze ein. Trotzdem sitzen Sie mir heute gegenüber. Wie kam es dazu?

Die ersten fundamentalen Zweifel an meiner damaligen Religionsgemeinschaft kamen mir bereits knapp zwei Jahre nach meiner Ernennung zum Ältesten. Zu dieser Zeit und viele weitere Male darauf war ich verpflichtet, mit jeweils zwei Mitältesten ein Rechtskomitee zu bilden. In diesen Verhandlungen wurden über die „Sünden“ meiner Mitbrüder- und Schwestern befunden. Wir drei entschieden über die „geistliche Zukunft“ eines Menschen, wir sollten richten „an Gottes statt“. Ein Schuldspruch hatte häufig drastische Folgen. Der Ausschluss konnte dazu führen, dass diese Menschen sämtliche soziale Kontakte verloren. Zudem war es für viele Betroffene und auch für uns Älteste ein zuweilen peinlicher und entwürdigender Vorgang. Ich erinnere mich an eine junge Frau von gerade 19 Jahren, die von meinem Bruder aufgefordert worden war, ihren außerehelichen Geschlechtsakt chronologisch und detailreich zu beschreiben. Auch sollte sie darlegen, welche Gefühle sie in jedem maßgeblichen Moment hatte. Ich empfand dies als eine Art Voyeurismus – welcher der Wahrheitsfindung kaum zuträglich war. Außerdem war jedem empathischen Menschen klar, wie verunsichert und verletzt die junge Schwester war, drei eigentlich fremden Männern diese Intimitäten zu offenbaren. So gut wie niemanden, der mir in den duzenden Verhandlungen gegenübersaß, hätte ich aus meinem Gewissen heraus für schuldig befunden. Wer war ich überhaupt, dies beurteilen zu wollen? Doch die Vorgaben der Leitenden Körperschaft ließen mir hier so gut wie keinen Spielraum. Wo es möglich war, bemühte ich mich, Empathie walten zu lassen, Strafmaßnahmen abzumildern und Verständnis für die Lebensumstände der Einzelnen zu äußern. Innerhalb der Ältestenschaft wurde mir dadurch der Spitzname „Sanfter Bruder“ verliehen. Wurde ein Bruder oder eine Schwester „nur“ zurechtgewiesen, wird dies in der Versammlung ohne die Nennung weiterer Details bekanntgegeben. Die betroffene Person verliert in solch einem Fall alle früheren Vorrechte: Älteste büßen so ihr Amt ein, Pioniere ebenso. Auch die aktive Beteiligung an den Zusammenkünften – beispielsweise das Antwortgeben im „Frage und Antwort-Spiel“ des Wachtturmstudiums – fällt damit aus. Nach einem oder zwei Jahren wird die Sache erneut geprüft und sollte die Ältestenschaft beständige Reue und echte Demut erkennen, kommen die verlorenen Rechte und Ämter peu à peu zurück. Alles in allem gleicht dieses Procedere einer gewaltigen öffentlichen Demütigung. Gerüchte geraten in Umlauf, Getuschel und böse Blicke inklusive. Nach wenigen Wochen wissen – trotz Verschwiegenheitsbekundungen – alle über die Details der „Unrechtstat“ Bescheid.

Wenn in der Komiteeverhandlung jedoch befunden wird, der Missetäter zeige keine ausreichende Reue ob seiner Taten oder verweigere sogar eine wesentliche Verhaltensänderung, kommt es zum Gemeinschaftsentzug. Auch das wird vor der Versammlung bekanntgegeben. Von nun an darf diese Person weder die Zusammenkünfte seiner oder irgendeiner anderen Versammlung der Zeugen Jehovas besuchen, noch irgendeine Art von verbaler oder geistlicher Gemeinschaft mit den acht Millionen Zeugen Jehovas rund um den Globus pflegen. Dies schließt die eigene Familie – sollte man volljährig sein – mit ein. Sofern sich dieser Mensch vorher an die Empfehlungen der Religionsgemeinschaft gehalten und keine tieferen Beziehungen mit Menschen anderen Glaubens und Weltanschauung gepflegt hat, bricht ihm mit einem Mal beinahe die gesamte Existenz weg. Tiefe Hoffnungslosigkeit und damit verbunden depressive Verstimmungen folgen dieser Maßnahme oftmals auf dem Fuße. Viele kennen nur diese Welt, eine künstlichen Parallelwelt, die kaum mit der realen Welt zusammenpasst. Auch hier kommt es nach ein oder zwei Jahren zu einer Prüfung durch die Ältesten. Nicht selten kehren Menschen, die auf diese Art „gezüchtigt“ wurden – wie es im Sprachgebrauch der Wachtturmgesellschaft heißt – voller Reue in den Schoss „der Wahrheit“ zurück. Oftmals sind sie danach massiv traumatisiert. Vormals Gebrandmarkte stehen plötzlich Personen gegenüber, die sie die letzten Jahre über vollständig ignoriert haben, ihnen nicht einmal einen Gruß entboten haben. Mitbrüder und Mitschwestern überschütten sie plötzlich mit Zuneigung und Freundlichkeit. Die meisten empfinden wohl aufrichtig Freude über die Rückkehr des „verlorenen Schafs“. Empfindet aber der Zurückgekehrte ebenso? Gewiss, oft ist das der Fall. Ausgeschlossenen stürzen ohne fremde Hilfe oftmals in einen dunklen Abgrund, in eine Leere, die von den ehemaligen Mitbrüdern wieder gefüllt wird. Das jahrelange angeleitete Studium von Publikationen dieser Religionsgemeinschaft, Vorträge und die persönlichen Interaktionen mit den Mitbrüdern und Schwestern führen zu der Überzeugung, Ungerechtigkeiten wie diese als etwas Gottgewolltes zu begreifen. Die Traumata befallen die Seele jedoch insgeheim und wirken nach, ob dies dem Zurückgekehrten nun gleich bewusst wird oder nicht.

Das Gewissen eines Zeugen Jehovas wird über Jahre und Jahrzehnte hinweg manipuliert. Somit empfindet er Gewissensbisse und sogar Reue bei unpassendsten Gelegenheiten: Etwa, wenn er sich fragt, ob eine Passage der Heiligen Schrift wirklich so zu interpretieren ist, wie es im Wachtturm oder in der Neue-Welt-Übersetzung (NWÜ)3 steht.

Zuerst fiel mir dieser Umstand auf, als ich mich im Rahmen meiner persönlichen Bibelbetrachtungen und bewaffnet mit einer zweisprachigen Ausgabe der Heiligen Schrift an das Johannesevangelium wagte. Ich saß gerade über dem fünften Kapitel, als mir ein Wort in die Augen sprang, das ich als gelernter Zeuge schon gut kannte, darüber nachzudenken mir allerdings nie in den Sinn gekommen war: Gedächtnisgruft. Mein griechisch-deutscher Paralleltext gab Johannes 5,28 wieder mit: „Verwundert euch des nicht. Denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören ...“. In der NWÜ hingegen war zu lesen: „Wundert euch nicht darüber, denn die Stunde kommt, in der alle, die in den Gedächtnisgrüften sind, seine Stimme hören ...“. Ich ahnte bereits, dass es sich bei diesem seltsamen Konstrukt wohl vielmehr um ein Kunstwort, denn um eine wortgetreue Übersetzung handeln müsse. Das griechische Wort, das einmal mit Grab und ein anderes Mal mit Gedächtnisgruft übersetzt worden war, wurde mir als μνημεῖον (mnēmeion) angezeigt. Ich fand keine andere Implikation denn Grab oder Grabmal. Auch in der Einheitsübersetzung, der Lutherbibel und der Guten Nachricht wurde μνημεῖον immerzu mit Grab übersetzt. Ich fragte mich natürlich, warum sich die Übersetzer der NWÜ entschieden, das eigentlich eindeutig mit Grab übersetzte μνημεῖον durch Gedächtnisgruft zu ersetzten? An diesem Punkt hätte die muntere Spurensuche für die meisten erst angefangen. Ich jedoch hielt hier inne, ganz der Überzeugung ich hätte schon jetzt zu tief gegraben, mich schon jetzt sündig verhalten. Schamlos hatte ich die Exegese der Leitenden Körperschaft hinterfragt und mich zudem erdreistet, Absicht dahinter zu vermuten. Ich fühlte mich wie ein Kind, das mit den Händen in der Keksdose ertappt wurde. Nur stand für mich scheinbar mehr auf dem Spiel als der Tadel der Eltern. Das ewige Leben und die Gemeinschaft mit beinahe allen Menschen, die mir etwas bedeuteten, konnten verloren gehen durch ein Wort, dass als Katalysator weiterer Zweifel dienen könnte. Was, wenn ich die Gemeinschaft mit meiner Frau oder meiner Tochter einbüßen würde? Wie oft vernahm ich schon die Warnungen aus den Publikationen, sich nicht irgendwelchen Zweifeln hinzugeben? Wie oft hatte ich selbst bereits andere davor gewarnt und den Teufel als Urheber aller Zweifel an der Leitenden Körperschaft bezeichnet? Ich ließ meine kleine Recherchearbeit also derweil hinter mir. Später sollte mich dieses Wort – Sinnbild einer Methode – wieder einholen.

INFO:
Die Leitende Körperschaft rekrutiert sich aus Männern der sogenannten Klasse der Geistgesalbten – auch treuer und verständiger Sklave genannt4. Die Menschen, welche sich dieser hervorgehobenen Klasse unter den Verkündigern zurechnen, nehmen an, vom Geist Gottes gesalbt worden zu sein und hoffen damit auf eine himmlische Auferstehung5. Von den etwa achteinhalb Millionen Zeugen weltweit sind etwa 20.000 Verkündiger auch Geistgesalbte. Einzig sie dürfen beim jährlichen Gedächtnismahl von Brot und Wein nehmen. Alle Übrigen bleiben als große Volksmenge6 lediglich Publikum, wenn die Symbole für den Leib und das Blut des Herrn dargereicht werden. Ausschließlich aus der Gruppe männlicher Ältester innerhalb der Geistgesalbten bezieht die Leitende Körperschaft ihre Mitglieder. Diese besteht zurzeit aus acht Personen:

Gerrit Lösch (seit 1994) , Mark Stephen Lett (1999), Samuel Frederick Herd (1999), David H. Splane (1999), Anthony Morris III (2005), Geoffrey W. Jackson (2005) , D. Mark Sanderson (2012), Kenneth E. Cook Jr. (2018).

Das Dienstalter hat einen bedeutenden Einfluss auf die interne Rangordnung der Mitglieder. Zudem ist das oberste geistliche und weltliche Gremium der Religionsgemeinschaft in einzelne Komitees aufgeteilt, von denen Gerrit Lösch das ranghöchste führt. Die Leitende Körperschaft bestimmt über Lehre, Jurisdiktion, Verlagswesen und die Organisation der Predigttätigkeit vollständig autark und ohne Rechenschaftspflicht gegenüber anderen Gremien.

Das Rechtskomitee

Wie nahm Ihr Weggang von den Zeugen Jehovas seinen Lauf, wenn Sie sich, wie gerade gehört, zuerst selbst Denkverbote aussprachen?

Mir ging dieses Exempel nicht mehr aus dem Kopf. Unbewusst wurde ich kritischer beim Lesen von Wachtturm und ERWACHET! sowie der vielen weiteren Schriften, mit denen wir es wöchentlich zu tun hatten. Mittlerweile war ich seit knapp zwei Jahren als stellvertretender Kreisaufseher eingesetzt. Das beinhaltete die Pflicht des halbjährlichen Kreisaufseher-Besuchs etwa jeden zweiten bis dritten Monat ein bis zwei Wochen in anderen Versammlungen. Der Besuch des Kreisaufsehers ist ein regelmäßiger Höhepunkt im Alltag einer Versammlung. Man hält enthusiastische Reden, geht vermehrt in den Predigtdienst, Älteste werden ernannt und überhaupt sind alle sehr aufgeregt. Ich hatte mich als guter Redner etabliert und verstand es, die Versammlungen immer wieder zu motivieren und treu in den Lehren der Wachtturmgesellschaft zu vereinen. Innerhalb dieser Atmosphäre fiel mir nun besonders auf, dass sich ein dunkler Schatten auf mich gelegt hatte. Absolutes Vertrauen in „Gottes wahre Organisation auf Erden“ zu vermitteln fällt schwer, wenn in einem selbst Zweifel keimen. Ich spürte immer stärker, dass ich mich den Fragen, die in mir aufkeimten, nicht ewig verschließen konnte. Unerträglich war auch der Hochmut, mit dem sich die Leitende Körperschaft als Hüterin der einzigen Wahrheit über Gottes Wege gerierte, dass wenige Gegenbeweise bereits ausgereicht hätten, mein Kartenhaus gänzlich zum Einsturz zu bringen. Jedoch kam etwas dazwischen, das meine Gedanken von jenen Fragen ablenkte, eine Sache, die auch alle Aufmerksamkeit meiner Frau beanspruchte: Es ging um meine Tochter.

Sie war mittlerweile seit einiger Zeit fest bei ihrem Ausbildungsbetrieb angestellt und hatte auch Spaß an ihrer Arbeit als Zahnmedizinsche Fachangestellte. Das Betriebsklima war gut und sowohl ihr Chef als auch ihre Kollegen respektierten ihren Glauben, soweit ihnen dies möglich war. Sie wohnte noch bei uns und wenn auch schon Pläne im Raum standen, dies zu ändern, erfreute uns ihre Präsenz doch sehr. Seit einigen Wochen wirkte sie jedoch zunehmend ruhelos. Sie traf sich oft mit ihren Freundinnen aus der Versammlung und vergaß immer häufiger Verpflichtungen in Haushalt und Gemeinde. Da sie aus meiner Sicht, nie ernsthaft eine „schwierige Phase“ in ihrer Jugend durchlebt hatte, ging ich davon aus, sie hätte ein Anrecht, jetzt mit Mitte 20 auch einmal konfus zu sein und fragte nicht weiter nach.

Eines Abends, es war schon gegen halb elf, kam sie tränenüberströmt durch die Tür und fiel ihrer Mutter in die Arme. Völlig konsterniert berichtete sie uns von der Ursache ihres Kummers; doch nahm sie uns das Versprechen ab, nichts von alldem nach Außen zu tragen. Was ich dann hörte, ließ augenblicklich eine Welt in mir zusammenbrechen. Meine Tochter unterhielt seit Wochen eine diskrete sexuelle Beziehung zu ihrem Chef. An jenem Tag hatte er die Beziehung beendet, da er von Anfang an der Meinung gewesen sei, dass es unpassend war, eine so junge Frau zu verführen, zudem noch seine Angestellte. Obwohl er unverheiratet sei, halte er es nicht für angemessen, hier weiterzugehen. Als ich den Erzählungen meiner Tochter lauschte und ihren Reuebekenntnissen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Weder sie selbst noch meine Frau und ich zeigten in diesem Moment gesteigertes Interesse an ihren Gefühlen. Sie machte gerade eine emotionale Achterbahnfahrt durch und dachte, so wie wir, beinahe ausschließlich nur an die Sündhaftigkeit ihres Verhaltens und an die möglichen Konsequenzen. So sehr waren wir alle bereits in unserer Parallelwelt gefangen, dass uns eine der instinktivsten Sachen auf der Welt nicht in den Sinn kam: unserer tief verletzten Tochter Trost und Geborgenheit zu spenden. Ich rappelte mich also auf, ging zu ihr, umarmte sie und sagte ihr, dass ich sie liebe. Meine Frau tat es mir gleich und versicherte mir später, dies wäre auch ihr erster Impuls gewesen; sie hätte ihn jedoch verdrängt. Es sei ja unangemessen und ich würde es sicherlich genau so sehen. Unsere Tochter versicherte uns, dass das Rechtskomitee, das sie nun erwarte, zu viel für sie wäre. Sie flehte uns erneut an, die ganze Sache für uns zu behalten, bis sie bereit für die Offenbarung vor der übrigen Ältestenschaft wäre. Ich glaubte ihr jedes Wort, denn sie hatte mir noch nie zuvor Anlass gegeben, daran zu zweifeln. Ich wusste, irgendwann würde sie sich ihrem Verhalten stellen, denn dazu hatten wir sie als gehorsame Zeugen Jehovas erzogen.

In der Zwischenzeit – es vergingen einige Monate – funktionierten wir nur noch. Meine Frau zwang sich regelrecht zum Ponierdienst, den sie mittlerweile ebenso begonnen hatte. Ich lehnte zweimal hintereinander den Diensteinsatz als Kreisaufseher ab, da ich mich völlig außer Stande fühlte, irgendjemanden zu ermuntern oder gar maßzuregeln. Überall beschränkte ich mich auf das Nötigste und versagte, wo ich nur konnte, meine Bereitschaft, weitere Aufgaben zu übernehmen. Ich begründete dies mit gesundheitlichen Problemen, was gewiss auch der Wahrheit entsprach; nicht nur ob der Tatsache, dass die Psyche ebenso erkranken kann wie der Körper, sondern auch, weil dieser elende Druck, die Reue und die Gewissheit der baldigen „Enttarnung“, buchstäblich körperliche Spuren hinterließen. Ich aß kaum noch etwas, konnte kaum schlafen, litt unter Kopfschmerzen und mir war ständig unwohl. Meiner Tochter sowie meiner Frau erging es nicht besser.

Dann schließlich war es soweit und unsere Tochter ließ uns wissen, dass sie gerade den Koordinator der Versammlung angerufen und um ein dringendes Gespräch nach der heutigen Dienstzusammenkunft gebeten hätte. In erster Linie war ich in Gedanken nur bei meiner Tochter. Wie sie sich fühlen musste, konnte ich mir gut vorstellen. Aber auch für meine Frau und mich sollte mit diesem Tag eine Zeit enden, in der alles von vornherein gegeben schien. Uns erwarteten scharfe Konsequenzen. Ebenso fühlte ich aber auch ein Gefühl der Befreiung aufkommen. Mit dieser Lüge nicht mehr leben zu müssen, würde eine gewaltige Last von uns nehmen.

An diesem Tage war ich mit einem Schulungspunkt an der Reihe, der verdeutlichen sollte, warum Zeugen Jehovas nicht an eine unsterbliche Seele glauben. Das Wort „Gedächtnisgruft“ kam auch auf und mich beschlich ein Gefühl, dass mit diesem Wort die Probleme ihren Lauf genommen hatten. Vielleicht hatten meine verborgenen Zweifel dazu beigetragen, die „geistliche Gesundheit“ meiner Familie zu gefährden? Oder schloss sich hier nur ein Kreis? Was ich genau wusste, war, dass dies meine letzte Amtshandlung als Ältester der Zeugen Jehovas für lange Zeit gewesen sein sollte.

Während des Gesprächs mit dem Koordinator der Ältestenschaft, das unsere Tochter führen musste, warteten wir vor dem Konferenzzimmer, beteten, schwiegen uns an, sahen, wie hastig ein zweiter Ältester hinzugerufen wurde, und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Später wurden wir noch hineingerufen. Vor allem ich wurde gefragt, wie ich als Familienoberhaupt zulassen konnte, dass es zu dieser schweren Sünde meiner Tochter kam und darüber hinaus, weswegen ich mich an der Vertuschungsaktion beteiligt habe. Meine Antwort, aus Liebe und Verständnis heraus gehandelt zu haben, galt wenig, wie ich erwartet hatte. Es fiel mir auch auf, dass meine Mitältesten sichtlich unsicher waren, wie sie mit mir und meiner Familie umgehen sollten. Der Koordinator rangierte zwar in der Hierarchie der Versammlung über mir, als stellvertretender Kreisaufseher war ich letztendlich aber sein Vorgesetzter. Das wurde ihm schließlich auch gewahr und er kündigte an, Rücksprache mit dem Zweigbüro – der Zentrale der Zeugen Jehovas für Deutschland und Mitteleuropa in Selters/Taunus – halten zu wollen, was mich und meine Frau angeht. Meine Tochter wurde allerdings darüber informiert, dass ein Rechtskomitee gebildet würde und sie bald über den Termin informiert werde. Genau dieses Vorgehen hatte ich erwartet, immerhin kannte ich die Vorgehensweisen der Ältesten in solchen Situationen genau.

Meine Tochter erhielt wenig später den Termin für ihre Komiteeverhandlung. Der Vorsitzende des Komitees war eben erwähnter Koordinator. In der Zusammenkunft, die einen Tag vor der Verhandlung stattfand, suchte ich das Gespräch mit meinem Kollegen und ließ mir versichern, dass meiner Tochter die Offenbarung intimer und demütigender Details erspart bleiben sollen. Dieser eindringlichen Bitte wurde laut ihrer Aussage auch weitestgehend Folge geleistet. Der Ausgang ihrer Verhandlung war, so meint sie herausgehört zu haben, eine sehr knappe Angelegenheit. Ein Ausschluss stand im Raum, da eben mehrere Monate lang gewartet worden war, die „Missetat“ einzugestehen. Zudem hätte sie sowohl ihre Mutter als auch mich zu Komplizen gemacht. Eine Woche später wurde in der Dienstzusammenkunft bekanntgegeben, dass sich ein Rechtskomitee mit ihr befasst habe. Fortan war sie nicht mehr berechtigt, sich in den Zusammenkünften zu äußern, hörbares Beten war ihr untersagt. Der Umgang mit ihr musste von Seiten der Brüder und Schwestern eingeschränkt werden. Die Gerüchteküche brodelte, wie man so unschön sagt. Es war für sie ein Tag der Demütigung, der ihrer ohnehin verletzten Seele arg zusetzte.

Mir wurde am selben Tag mitgeteilt, dass das Zweigkomitee noch über mich und meine Frau beraten würde und noch offen sei, ob sich ein Rechtskomitee mit uns befassen muss. Einige Tage später wurde mir telefonisch mitgeteilt, dass keine Komiteeverhandlung angezeigt wäre, wir jedoch vor der nächsten Dienstzusammenkunft einen Termin wahrnehmen sollen, um über das weitere Vorgehen in Kenntnis gesetzt zu werden. Zuerst wurde meine Frau hineingerufen. Ihr wurde mitgeteilt, dass sie gern weiter das monatliche Stundenziel eines Pioniers erfüllen dürfe, aber von jenem Amt enthoben werde. Als ich an der Reihe war, wusste ich bereits in groben Zügen, was mich erwarten würde. Sowohl mein Ältestenamt als auch meine Tätigkeit als Pionier wahren Geschichte. Damit endeten auch meine Vorrechte als Dienstaufseher und stellvertretender Kreisaufseher. Zudem wurde mir ebenso wie meiner Tochter das Recht entzogen, mich in den Zusammenkünften zu äußern. Ich wurde zum „Bezeichneten“ erklärt, was anderen einen näheren und freundschaftlichen Umgang mit mir untersagte. Meine Strafe sei größer ausgefallen als die meiner Frau, da ich als Haupt meiner Familie versagt hätte und in Anbetracht meiner Stellung auch als Vorbild für die Versammlungen im Kreis eine Enttäuschung sei. In einem Jahr werde die Situation neu geprüft.

Auch wenn es die Verfahrensregeln nominell gestatten, gegen die „Züchtigungsmaßnahmen“ einer Ältestenschaft oder eines Rechtskomitees vorzugehen, bietet dieser Weg doch wenig Aussicht auf Erfolg. Somit akzeptierten wir die Entscheidung meiner Mitbrüder und des Zweigkomitees. Fortan besuchten wir die Zusammenkünfte unserer Versammlung und schwiegen uns zu großen Teilen aus. Meine Frau gab von Zeit zu Zeit Antworten beim Wachtturmstudium, schlug allerdings Einladungen zum Kaffee oder zum Abendessen aus, welche sie regelmäßig erhielt. Es war schon seltsam, zu sehen, wie meine Tochter und ich weitgehend ignoriert wurden und man mit meiner Frau „heile Welt“ spielte. Vor mir hatten die meisten Mitbrüder immerhin einen gewissen Respekt. Oftmals kam mir zu Ohren, dass nur meine Tochter mich in diesen Schlamassel hineingezogen hätte, als ob ihre geistliche Gesundheit und ihr Leben nichts zählen würden. Dies zeigte mir zum einen, dass es hier ein gewaltiges Ungleichgewicht zwischen Ältesten und Nichtältesten, genauso zwischen Männern und Frauen gab, und zum anderen, dass sich die Hintergründe unserer Bezeichnung sehrwohl herumgesprochen haben. Ich wünschte mir das katholische Beichtgeheimnis herbei.

Die Wahrheit

Wie gingen Sie und Ihre Familie mit dieser Situation um? Immerhin hatten Sie all das verloren, worauf Sie so lange hingearbeitet hatten. Mehrte Ihre Lage die Zweifel, die bereits aufgekommen waren oder stand Ihnen der Sinn zuerst mehr nach Versöhnung mit Ihrer Religionsgemeinschaft?

Wenn der Teufel einmal einen Fuß in der Tür hat, dann setzt er darauf an jedem Schwachpunkt an – so hörte ich es schon als Kind. Offenbar traf dies auch auf mich zu. Im Laufe der nächsten Monate hatte ich immerhin Zeit, mich mit der Gedächtnisgruft zu befassen. Ich wusste bereits, dass es für diese Übersetzung des griechischen μνημεῖον wenig Anlass gab. Überall sonst wurde das Substantiv an dieser Stelle mit Grab oder auch Grabmal übersetzt. Die englische Version der NWÜ übersetzte es mit memorial tomb, was schon deutliche Ähnlichkeit mit der deutschen Gedächtnisgruft hat. Wenngleich sich das griechische μνημεῖον auch von „Erinnern“ ableitet, kann es in diesem Kontext doch nur für Grab stehen. Auch wenn Gräber durchaus etwas mit Erinnerung gemein haben, stellt sich die Frage: Warum nur hatte das Übersetzungskomitee der Wachtturmgesellschaft dieses Wort hier eingesetzt, wenn Grab doch viel naheliegender gewesen wäre? Als ich mir diese Frage stellte, wurde mir die Antwort darauf auch schon gewahr. Sie wollten mit diesem Kniff ihre Lehre der „Nichtexistenz“ nach dem Tode stützen. Nach der Lehre der Zeugen hört ein Mensch nach seinem Tode auf zu existieren. Eine Art „Sicherungskopie“ – wie ich es lange nannte – bleibt aber bei Gott abgespeichert und wird eintausend Jahre nach dem jüngsten Gericht (Armageddon) wieder abgerufen. Somit gibt es für die Zeugen Jehovas eine „Auferstehung light“, nämlich die einer Kopie aus dem Gedächtnis Gottes, an die unsterbliche Seele glauben sie jedoch nicht.

Es müsste doch noch weitere Bibelstellen geben, welche von der direkten Fortexistenz nach dem Tode berichten, dachte ich bei mir. So ging ich auf die Suche und diese Suche brachte mich zu Lukas 23,43: „Und er sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir heute: Du wirst mit mir im Paradies sein“, hieß es dort in der NWÜ. Jeder bibelfeste Christ wird sogleich wissen, wer hier bei welcher Gelegenheit zu wem sprach. Es war Jesus, der dem Verbrecher am Kreuz neben ihm zusicherte, dass ihn noch heute die himmlische Existenz erwarte. Doch der Text der NWÜ gab das nicht her, denn das Komma vor dem „heute“ fehlte schlechthin. Alle Bibelübersetzungen, die ich zu Rate zog, führten dieses Komma oder nutzten eine Sprache, die eindeutig aufzeigte, dass dem Leidensgenossen des Herrn die direkte Aufnahme in den Himmel bevorstand. In der NWÜ jedoch wurde der Eindruck vermittelt, dass er irgendwann erst mit Christus im Paradies sein würde.

Für mich schien deutlich durch, dass die Zeugen sich bemühten, die biblische Überlieferung der eigenen Lehre anzupassen. Die Tatsache, dass sich mit dem Weglassen eines Kommas oder mit der Einführung eines artverwandten Kunstwortes Derartiges bewerkstelligen lies, kam den „Bibelübersetzern“ offenbar sehr zupass. Zudem fielen mir bei meinen Recherchen noch zahlreiche Bibelpassagen ins Auge, die in der Literatur der Religionsgemeinschaft völlig anders – den eigenen Lehren zuträglich – interpretiert und selektiv entweder wörtlich oder übertragen verstanden wurden. Auch der Name Gottes, der im neuen Testament gar nicht mehr vorkommt, wurde in der Annahme, Gott wolle dies so, dort eingefügt, wo eigentlich θεός (theos) für Gott zu lesen ist. Ich erkannte einen Rösselsprung nach dem anderen. So lies sich letztendlich beinahe alles rechtfertigen, was der Leitenden Körperschaft als Dogma angenehm war.

Mittlerweile – es waren einige Monate vergangen – fühlte ich mich frei, meine Recherchen zu vertiefen. Noch immer führte ich diese eher im Verborgenen durch, weihte meine Frau und meine Tochter also nur teilweise und Außenstehende überhaupt nicht ein. Trotzdem empfand ich ein zunehmendes Maß an Auftrieb und Genugtuung, da sich das Puzzle langsam vervollständigte. Meine Nachforschungen führten mich auch zu fragwürdigen Praktiken der Wachtturmgesellschaft (WTG), was politische Neutralität angeht – eine „Tugend“, welche die Leitungsebene von ihren Mitgliedern strengstens fordert. Ich stieß auf die für mich unfassbare Nachricht, dass die WTG von 1991 bis 2001 als NGO bei den Vereinten Nationen registriert war. Dabei fiel mir ein, vor einer ganzen Weile in einem Brief des Zweigbüros an alle Ältestenschaften etwas dazu gelesen zu haben. Ich entsann mich, dass die Mitgliedschaft dort einerseits geleugnet wurde, um dann wenig später einzugestehen, man hätte nur die Bibliothek der Vereinten Nationen nutzen wollen. Die Vereinten Nationen sind für die Zeugen allerdings die Verkörperung des scharlachroten wilden Tiers mit sieben Köpfen aus der Offenbarung des Johannes7, das sich in der Schlacht von Armageddon gegen die Streitkräfte Gottes wenden soll. Und die Zeugen akzeptieren also eine Assoziierung mit dieser „Verkörperung des Bösen“, um Zugang zu einer Bibliothek zu erhalten, wenn gleichzeitig tausende Brüder, ob ihrer politischen Neutralität und ihres Pazifismus inhaftiert und gequält wurden – wie es sich in der DDR und in Staaten wie Russland oder in asiatischen Ländern zutrug? Von einem zweiten Exempel möchte ich noch berichten: 1989 wurde religiösen Organisationen in Mexiko jeder Immobilienbesitz verboten. Daraufhin veranlasste die Leitende Körperschaft, den mexikanischen Zweig als kulturelle Organisation anzumelden. Fortan verzichtete man lieber darauf, in den Versammlungen Gebete zu sprechen, zu singen, sowie im Predigtdienst die Bibel zu gebrauchen. Im Wachtturm wurde der Eindruck vermittelt, dies wäre vom Gesetz her verboten gewesen. Natürlich war dies nicht der Fall. Lediglich der Immobilienbesitz hätte aufgegeben werden müssen, um die freie Religionsausübung zu gewährleisten. Die Leitung verleugnete dagegen lieber ihren Glauben, als auf diese Pfründe zu verzichten. Wenn die moralische Messlatte von den Oberen nicht so unermesslich hoch angelegt worden wäre, es hätte mich nicht derart schockiert. Im Selbstverständnis der Zeugen spielt die Annahme, allen anderen Religionen in Lehre und Tat weit überlegen zu ein, jedoch eine herausragende Rolle. Die Tatsachen strafen diese Überzeugung jedoch Lügen. Noch vieles bliebe zu sagen, doch fehlt es an der Zeit, sämtliche Ungereimtheiten innerhalb dieser Religionsgemeinschaft zur Sprache zu bringen.

In der Zwischenzeit kam uns zu Ohren, dass die Ältestenschaft bald über Fortbestand oder Aufhebung unserer Sanktionen beraten würde. Mir war schnell klar, dass ich in Anbetracht der Ergebnisse meiner Nachforschungen keine Ambitionen mehr hatte, als Ältester zu dienen. Klarer war mir nur, dass ich grundsätzlich verpflichtet war, den Ältesten meine „Verfehlungen“ – das Befassen mit „abtrünnigen Schriften“ sowie Zweifel an den Lehren der Zeugen – zu melden. Seltsamerweise fühlte ich mich mittlerweile nicht mehr schuldig ob meiner Recherchen. Meine eigene Gewissensbildung hatte eingesetzt und ich fühlte mich allmählich bereit, den nächsten, endgültigen Schritt zu erwägen. Nur was meine Familie anging, wurde mir Angst und Bange. Ich musste sie über meine Zweifel informieren – wenn es auch nicht mehr nur Zweifel waren. Wie würden sie reagieren? So sehr war ich im letzten Jahr mit mir selbst beschäftigt, dass ich nicht einzuschätzen vermochte, wie sie auf meine Offenbarung eingehen würden. Schließlich fasste ich aber Mut und legte meiner Frau und meiner Tochter meine Aufzeichnungen vor. Feinsäuberlich hatte ich Fragen erarbeitet, anhand interner und externer Quellen beantwortet und schließlich Schlüsse daraus gezogen. Beide legten ihr Exemplar des 12-seitigen Textes nicht sofort weg, im Gegenteil, sie lasen es aufmerksam, nahmen sich von Zeit zu Zeit sogar eine Bibel oder einen Sammelband des Wachtturm zur Hand. Meine Anspannung verflog allmählich und zustimmende Gesten und vorsichtiges Lächeln überzeugten mich, richtig gehandelt zu haben. Als meine Frau und meine Tochter ihre Lektüre beendet hatten, umarmten mich beide und gaben mir verbal und nonverbal zu verstehen, ähnlicher Meinung zu sein. Beide hatten sich in letzter Zeit auch mit den gleichen Themen beschäftigt – wenn auch nicht so systematisch wie ich. Beide hatten Angst, mich einzuweihen, da sie befürchteten, ich käme zu anderen Schlüssen. Wieder einmal wurde mir klar, dass wir nie gelernt hatten, wirklich offen miteinander zu sein. Die destruktive Gemeinschaft, in welcher wir unser ganzes bisheriges Leben zugebracht hatten, wirkte wie ein Mühlstein, den wir nun loswerden wollten.

Wir nahmen also meinen Text, verfassten noch ein kurzes Anschreiben dazu, das unseren gemeinsamen Entschluss zum Ausdruck brachte, uns als Familie von der Religionsgemeinschaft loszulösen. Als Begründung führten wir die Vorgehensweisen bei „Verfehlungen“ an, welche wir am eigenen Leibe erfahren mussten. Zudem wiesen wir auf aus unserer Sicht inhumane Praktiken hin, die uns eine weitere Zugehörigkeit in dieser Organisation unmöglich machten – Verweigerung von lebensnotwendigen Bluttransfusionen, Umgang mit sexueller Gewalt usf. Der Rest könne dem anliegendem Text entnommen werden. Wir schickten diese Briefe auch zahlreichen Freunden bei den Zeugen. Die Reaktionen darauf blieben entweder aus oder waren vernichtend. Einige Briefe erhielten wir – unser Ausschluss war mittlerweile bekannt gegeben worden – ungeöffnet zurück, manche waren geöffnet und mit der kleinen Notiz versehen, man dürfe Derartiges nicht lesen. In einem Fall wurde uns mitgeteilt, man teile unsere Schlüsse, nehme aber an, dass die Leitende Körperschaft schon wisse, was sie tut. Die Indoktrinierten waren außer Stande, dem Dogma Widerstand zu leisten. Wir kannten dieses Unvermögen; diese erlernte Unmündigkeit, nur zu gut. Mit kaum jemanden, der sich früher unser Bruder oder unsere Schwester nannte, hatten wir bisher wieder Kontakt. Meine Eltern lösten sich wenig später selbst von der Organisation, wenn auch aus vornehmlich anderen Gründen. Meine Frau hatte da weniger Glück, ihre Eltern und ihr Bruder meiden uns seit jenen Tagen kategorisch. Unser neues Leben konnte also beginnen! Wenn auch seine Erringung großer Opfer bedurfte. In zäher Langsamkeit schlossen wir neue Bekanntschaften, auch Freundschaften. Wir schlossen uns einer großen christlichen Konfession an und lernten so einen liebenden und gütigen Gott und damit auch den Glauben ganz neu kennen: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“8.

INFO:
Die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift (NWÜ) entstand in den 1960er Jahren auf Betreiben der Leitenden Körperschaft und deren weltlichem Organ, der Watchtower Bible and Tract Society (Wachtturmgesellschaft [WTG]). Verantwortlich zeichnet ein anonymes Übersetzungskomitee. Nach Raymond Franz – dem bisher einzigen ehemaligen Mitglied der Leitenden Körperschaft, das ausgeschlossen wurde – war dessen Onkel Frederick Franz Hauptverantwortlicher dieses Komitees9. Frederick Franz war wohl auch der einzige „Übersetzer“ mit passablen Kenntnissen der hebräischen und griechischen Sprachen10. Später sollte er Präsident der WTG und Vorsitzender Aufseher der Leitenden Körperschaft werden. Scheinbar bestand die Übersetzungsarbeit darin, sich an den Vorbildern der Schlachter- und der Elberfelder-Bibel zu orientieren. Einzelne Passagen, welche den bestehenden Lehren der Religionsgemeinschaft ganz oder teilweise widersprachen, wurden entsprechend der Doktrin angepasst. Die deutsche Fassung wurde nicht etwa aus den überlieferten Texten übersetzt, sondern aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Neben den oben beschriebenen selektiven Eingriffen, die Stil und Inhalt gleichfalls betreffen, fällt besonders die häufige Verwendung der Variante des hebräischen Gottesnamens JHWH (Jod-He-Waw-He) ins Auge, wenn im Griechischen von θεός, also Gott, gesprochen wird. Zudem ist von einem Pfahl die Rede, wenn es um das Kreuz (σταυρός [stauros]) geht, an dem der Herr sich hingegeben hat.


Nach diesem umfassenden Blick auf Ihr Leben bei den Zeugen Jehovas stellen sich abschließend noch folgende Fragen: Blicken Sie nach all der Zeit noch zurück und was denken Sie mit heutigem Abstand von Ihrer ehemaligen Religion?

Einerseits erfüllt es mich mit Stolz, den Absprung aus eigener Kraft geschafft zu haben. Andererseits habe ich aber auch Gewissensbisse, wenn ich bedenke, dass ich meiner Tochter dieses enge Korsett ihrer Kindheit zugemutet habe. Zum Glück scheint sie keine ernsten seelischen Schäden davongetragen zu haben. Sie hat jedoch ihre große Angst vor Gewittern behalten. Die Publikationen der Zeugen – darunter Kinderbücher – sparten selten an Illustrationen des jüngsten Gerichts, die Feuer zeigten, das von Himmel regnet und Blitze, die alles in Schutt und Asche legen.

Ich kann nur warnen, sich den Zeugen Jehovas anzunähern oder gar anzuschließen. Die Herzlichkeit, welche man dort anfangs erleben kann, ist einstudiert und nicht Resultat einer positiven christlichen Haltung. Sollte man bereits Teil dieser Organisation sein und sich lösen wollen, gibt es Anlaufstellen, die zum entscheidenden Schritt verhelfen können und nachher ebenso Halt und Orientierung bieten. Gewiss, nicht alles war schlecht in meinem früheren Leben. Ich kannte viele aufrichtige und herzlich zugewandte Menschen. Ich will keinem meiner ehemaligen Glaubensgeschwister ihren aufrichtigen Wunsch absprechen, Gottgewolltes zu tun. Manchmal fordern uns der Glaube und auch die Ehrfurcht vor Gott durchaus, auf Gewolltes zu verzichten oder Unangenehmes zu tun. Das Christsein sollte die Menschen allerdings von den harten Reglementierungen des Alten Testaments erlösen, da wir durch den Glauben und durch Werke gerettet werden, nicht durch immer wieder gewährte blanke Furcht vor Gott oder den Züchtigungen seiner selbsternannten irdischen Stellvertretung. Eine Gemeinschaft, die dies impliziert, kann kaum gottgewollt sein. Des Weiteren degradieren die Zeugen Jehovas unseren Heiland Jesus Christus zu einem Schatten dessen, was er ist. Für sie ist er lediglich die erste Schöpfung Gottes. Die Trinitätslehre – logischer Konsens beinahe aller christlichen Bekenntnisse – wird von ihnen verworfen. Der Heilige Geist ist hier nur eine unsichtbare Kraft, unpersönlich und vom Vater losgelöst. Überall dort, wo man sich vom übrigen Christentum gründlich abgrenzen konnte, ist dies geschehen. Rückblickend betrachtet erscheint diese religiöse Sondergemeinschaft wie ein nicht sonderlich gelungener Versuch, „alles anders zu machen“. Dabei ist eine destruktive und lebenskontrollierende Gruppe von Endzeitpropheten von eigenen Gnaden entstanden. Die Leitende Körperschaft passt von Zeit zu Zeit ihre Doktrin an – zumindest in Nuancen. Nachher will sie nichts mehr davon wissen, vorher anders über den Sachverhalt gedacht zu haben. „Neues Licht“ ist in diesen Zusammenhang nichts anderes als eine elegantere Formulierung von „wir tun mal so, als ob uns Gott gesagt hat, was dies und das wirklich zu bedeuten hat“. Die Methode des Rösselsprungs – also der Versuch, jede gewünschte Doktrin mithilfe einer aus dem Kontext gezogenen Bibelstelle zu untermauern – wird anhand eines Beispiels recht deutlich, dass ich seither gern verwende: In Ex. 21, 17 steht geschrieben, dass jeder der einen Fluch gegen seine Eltern ausspricht, getötet werden muss. Aus wie vielen Individuen würde unsere Menschheitsfamilie bestehen, würde man diesen Text wörtlich und ohne Kontext anwenden? Diese Passage stammt bspw. aus dem Alten Bund. Schenkt man dem Kontext keine Beachtung, gerät man schnell auf Abwege. Würden die Zeugen eine Lehre aufstellen wollen, die jedwede Flüche gegen die eigenen Eltern verböte, sie würden gewiss diesen Text zur Untermauerung verwenden, obwohl er für Christen bestenfalls einen metaphorischen Gehalt hat, denn natürlich ist es nicht richtig, die eigenen Eltern zu verfluchen. Dafür aber getötet zu werden entspricht sicher noch weniger dem Willen von Mutter und Vater. Außerdem hat Christus durch sein Opfer den Mosaischen Bund erfüllt und die meisten Gebote mit ihm durch das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe ersetzt.

Ich wünsche mir für meine ehemaligen Glaubensgeschwister, dass sie ausgehen aus der fremdverschuldeten Unmündigkeit, der sie unterworfen wurden; dass sie die Freiheit kennenlernen mögen, die der Glauben uns schenken kann. Sie sollen den liebenden und gnädigen Gott erkennen und ebenso lieben lernen, statt in der Angst vor der ewigen Nichtexistenz zu verharren. Gott kann so viel mehr sein, als es die eindimensionale Lesart der Zeugen uns weismachen will: Der Vater, der uns erschaffen hat und erhält; Jesus Christus, der uns Erlösung anbietet und unter uns wandelte und der Heilige Geist, welcher unsere Charismen stärkt und unser Flehen nach Weisheit erhört. Ich wünschte, dass ich selbst meiner Familie diesen Gott in seinen drei Hypostasen früher hätte näherbringen können. Aus Furcht vor den Konsequenzen und vor meinem Urteil hielten sie ihre Zweifel bis zum Schluss zurück, denn jedermann innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft ist dringend angehalten, jede „Verfehlung“ und jeden Zweifel direkt zu melden – da das ewige Leben davon anhängt. Jeder Zeuge wirkt zugleich als Spion der Organisation, jeder bewacht jeden. Freie Rede ist in diesem Umfeld schlicht unmöglich.

Die Zeugen Jehovas werden so schnell nicht vergehen, egal wie viele ihrer Prophezeiungen sich als falsch erweisen oder wie viele ihrer Winkelzüge öffentlich werden. Wenn meine Lebensgeschichte aber dabei helfen sollte, nur einen einzigen Menschen vor den Fängen dieser destruktiven Gemeinschaft zu bewahren oder einem Zeugen die letzten Argumente für den Ausstieg zu reichen, dann hat es sich gelohnt darüber zu berichten. Vielleicht denkt sich gerade jemand: „Genau so ist es!“


1 Vgl. Die Zeugen Jehovas in der DDR. Beispiele für Verfolgung und Repressionen von Religionsgemeinschaften: https://www.adenauercampus.de/ddrtutorium/religion-und-kirche/zeugen-jehovas
2 Vgl. Wachtturm- Bibel- und Traktatgesellschaft (Hrsg.). Hütet die Herde Gottes. Selters/Taunus 2012, S. 58 ff.
3 Die in den 60er Jahren des XX. Jahrhunderts entstandene Bibelübersetzung von Jehovas Zeugen.
4 Mtth. 24,45; Mk. 13,3 f.
5 Apoc. 14,1; 7, 4 ff. wird hier die Zahlen betreffend wörtlich verstanden. In Bezug auf die Benennung der Stämme Israels wird jedoch nichts buchstabengetreu aufgefasst.
6 Apoc. 7,9 spricht von einer „großen Volksmenge, die niemand zählen konnte“. Obwohl sie laut Wortlaut vor dem Thron des Lamms stehen, verorten die Zeugen Jehovas sie auf der Erde.
7 Apoc.. 17,9 f.
8 Joh. 8,32
9 Des Weiteren gehörten, laut R. Franz, Albert Schroeder, Nathan Knorr und George Gangas dem Komitee an.
10 Vgl. Franz, Raymond: Der Gewissenskonflikt. III. Auflage, Claudius, München 1996, S. 55



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