HOLMES sagt: God Save the Queen (VI)

Der Tod Queen Elisabeths war ob ihres hohen Alters zwar abzusehen, überraschte dann aber dennoch das Vereinigte Königreich, das Commonwealth und die Welt. Ihre lange Regentschaft war geprägt von rar gewordenen Tugenden und einer beinahe stoischen Gelassenheit. 

In meiner aktuellen Kolumne betrauern Holmes und Watson eine andere Jahrhundertregentin. Die Parallelen zwischen Victoria und Elisabeth II. gehen dabei über ihr Geschlecht und ihre eminenten Regierungszeiten hinaus.

Holmes sagt (VI): God Save the Queen


An jenem Morgen im Januar 1901 war vieles anders. Zwar bot die Sicht aus unserem Fenster immer noch denselben Blick hinab durch die Eisblumen auf die zartbeschneite Baker Street. Aber das muntere Treiben des Vortages hatte ein jähes Ende gefunden. Die Passanten, welche ich durch die dünne Eisschicht des Fensterglases erspähen konnte, wirkten in sich gekehrt und hatten nur wenig mit den emsigen Bienchen gemein, die sonst die Straßen Londons bevölkerten. Mir schwante nichts Gutes. Schon vor Tagen las ich in der Evening News von der Sorge des Leibarztes der Königin um die Gesundheit Ihrer Majestät. Und plötzlich schien alles ganz schnell gegangen zu sein. Noch im Morgenmantel hielt ich Ausschau nach der Morgenzeitung, welche tatsächlich bereits auf dem Tisch lag. Das Porträt Victorias füllte die komplette Titelseite. So wurde aus meiner Vermutung Gewissheit: Jene Frau, die bereits auf dem englischen Thron saß, als ich das Licht der Welt erblickte, war von uns gegangen. Queen Victorias Regentschaft über Großbritannien und Irland, ihr Dasein als Herrscherin des Empire und als Kaiserin von Indien war nun vorüber. Von nun an war der Prince of Wales, Edward, unser neuer König. Die Fußstapfen, die er auszufüllen hatte, konnten nicht größer sein. Immerhin hatte seine Mutter eine Ära geprägt, in der unser geliebtes England zum Mittelpunkt der Welt avanciert war. Laut des begleitenden Nachrufs war sie am Vorabend in Anwesenheit ihrer inländischen und ausländischen Verwandtschaft friedlich eingeschlafen. Man munkelte, selbst der deutsche Kaiser – immerhin ihr Lieblingsenkel – sei vor Ort in Osborne House auf der Isle of Wight gewesen.

Entgegen seiner üblichen Gewohnheiten war Holmes noch nicht aufgestanden. Als er dies etwa eine halbe Stunde nach mir tat, hielt ich ihm die Gazette hin, worauf er die erste Seite aufmerksam betrachtete. Diese Momente des Schweigens brach er mit Worten in einem Timbre, das ich selten bei ihm gehört hatte: „Sollte es ein Leben jenseits des unseren geben, dann wünsche ich unserer Königin, dass sie dort einen Ehrenplatz erhalte. Es wäre schon eine charmante Vorstellung, möge diese offenbar liebende Witwe nach so vielen Jahren wiedervereint mit ihrem deutschen Prinzen die Ewigkeit verbringen.“

„Wirklich schön, Holmes“, erwiderte ich voller Rührung.

Holmes setzte sich an den Tisch und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Ich gesellte mich zu ihm und tat es ihm gleich.

„Es ist schon bezeichnend“, meinte Holmes, „Lange Jahre ihrer Regentschaft lebte sie in Zurückgezogenheit ob ihrer schier unmenschlichen Trauer. Trotz dessen war ihr die Zuneigung aller Untertanen gewiss. Sie entsprach zwar nicht nur wegen ihres Geschlechts keineswegs dem Idealbild eines Royals. Obwohl sie wenig mehr als fünf Fuß maß, schauten dennoch alle zu ihr auf. Sie strahlte eine Würde und Unbeugsamkeit aus, die ich als bewundernswert bezeichnen muss. Ja, Watson, mich berührt ihr Ableben und mir wird gewahr, dass mit ihr auch ein Zeitalter enden wird.“

„Dreiundsechzig Jahre im Dienst für das Land! Das muss ihr erst einmal jemand nachmachen“, warf ich ein.

„Gewiss, Watson, das wird schwierig. Aber irgendwann wird eine neue Victoria geboren und in jungen Jahren auf den Thron gezwungen. Auch sie wird Gelegenheit finden, mit Würde und Tugend die Krone zu verteidigen.“

„So sei es, Holmes. Sagen Sie: Sie sind der Königin doch einmal persönlich begegnet?“

„Ganz richtig, mein Freund. Es war vor nicht einmal sechs Jahren, als ich von meinem Bruder mit der Wiederbeschaffung geheimer Baupläne für ein Unterseebot ihrer Majestät beauftragt wurde.“ Ich nickte verständig.

„Sie bedankte sich persönlich bei Ihnen und überreichte Ihnen darauf eine smaragdbesetzte Krawattennadel. Sie haben mir nie gesagt, was sie an diesem Tage besprochen haben!“

„Wenn ich mich richtig entsinne, enthüllte ich Ihnen noch nicht einmal, dass es sich bei jener huldvollen Lady um die Queen gehandelt hat“, antwortete Holmes keck.

„Nun, es brauchte nicht unbedingt einen Meisterdetektiv um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wenige Wochen vorher waren Sie in Windsor, das weiß ich mit Gewissheit. Die Königin war zugegen, wie sie es beinahe immer war. Sie kehrten an jenem Tag mit dieser opulenten Krawattennadel heim. Da sie unmittelbar vorher nur einen derart staatstragenden Fall gelöst haben, liegt die Vermutung doch nahe, von wem Sie sie erhalten hatten.“

„Bravo, alter Junge!“, gratulierte mir Holmes. „Auf Ihre alten Tage wird aus Ihnen noch eine gewiefte Spürnase. Aber sei es drum. Mein Bruder telegraphierte mir nur fünf Tage nach Abschluss des Falles, ich hätte in der Woche darauf einen Termin auf Schloss Windsor wahrzunehmen. Widerspruch sei zwecklos, da mein Gastgeber darauf bestünde, mich persönlich kennenzulernen. Wenn auch ohne handfeste Beweise ausgestattet, mehrte sich in mir die Vermutung, dass es sich bei diesem Gastgeber wohl um die Königin oder zumindest um ein ranghohes Mitglied der königlichen Familie handeln müsse. Eine Woche später war es dann so weit und ich wurde gegen acht Uhr morgens von einer prachtvollen Kutsche abgeholt.“

„Das ist mir damals wohl entgangen“, meinte ich verwundert.

„Sie schliefen noch, Watson. In jener Zeit gebärdeten Sie sich noch als ausgesprochener Bohèmien. Schlafend lässt sich nun mal wenig beobachten. Jedenfalls wurde ich zu meiner größten Überraschung zur Frühstücksaudienz in einem fulminanten Saal erwartet. Die Königin schenkte mir einen milden Blick, und ich wurde augenblicklich gewahr, dass ich mich kaum der höfischen Verhaltensregeln, geschweige denn der korrekten Ausführung des Dieners – der Verneinung vor ihrer Majestät – entsinnen konnte. Offenbar stellte ich mich gut genug an, um nicht hochkant hinausgeworfen zu werden. Mir wurde der Platz rechts der Königin zugewiesen; vor uns eine erlesene Auswahl englischer und schottischer Delikatessen. Abgesehen von der Dienerschaft, die ein- und ausging und für meinen Geschmack einige Male zu oft erfragte, ob denn alles nach unserer Zufriedenheit sei, waren wir allein. Sie trug ein schwarzes Witwenkleid, dass vergleichsweise wenig ausladend war und sie nicht unter schwerem Stoff erstickte. Obwohl man ihrem Wesen eine gewisse Teilnahmslosigkeit hätte attestieren können, wirkten ihre Augen doch wach und ihr Duktus hatte etwas Scharfsinniges an sich. Drehten sich die Gesprächsthemen, welche sie diktierte, anfangs noch um Alltägliches, erfragte sie mit der Zeit doch immer mehr Einzelheiten unserer Fälle. Kurzum, Ihre Majestät entpuppte sich tatsächlich als große Liebhaberin meiner Arbeit und bewunderte mindestens ebenso sehr Ihre Schriften über unser Wirken. Sie bezeichnete sie wohl als Offenbarung, wenn ich mich korrekt erinnere.“

„Sie sind doch nicht ganz bei Sinnen, Holmes!“, rief ich ungläubig aus. „Da ist die Frau, die ich ob meiner Loyalität und meines Patriotismus über alle Maßen schätze und verehre – mein größter Fanaticus! Und Sie erzählen mir das erst, nachdem diese Frau gestorben ist?“ Mir kochte es in den Adern.

„Ruhig Blut, alter Junge. Wenn ich geahnt hätte, wie viel Ihnen dies bedeutet, dann hätte ich es Ihnen sicher schon eher gesagt. Damals dachte ich bei mir, dass Sie, erführen Sie vom Lob ihrer Majestät, sich noch mehr in Ihrer oft blumig abschweifenden Art der Niederschrift verlieren würden, als Sie es eh schon taten.“

„Und die Auffassung der Königin hat nicht etwa dazu beigetragen, dass Sie Ihre Meinung diesbezüglich überdenken?“

„Doch, doch, mein lieber Watson. Ist es Ihnen denn nicht selbst aufgefallen, dass meine Kritik in den letzten Jahren weitaus milder ausgefallen ist als in den Jahren zuvor?“

„Nun ja, schon möglich. Dennoch bin ich etwas vergrätzt ob Ihres Schweigens. Was hätte ich in Kenntnis der Bewunderung meiner Majestät nur alles fertig gebracht. Möglicherweise hätte ich mich endlich durchringen können, eigene literarische Versuche zu starten, statt immer nur von unseren Abenteuern zu berichten!“, rief ich reichlich dramatisch angesichts der vertanen Gelegenheit aus.

„Was hält Sie auf?“, warf Holmes sichtlich belustigt ein. „Es ist noch nicht zu spät, neue Ufer anzusegeln und das Lob der Königin gilt gewiss auch über ihren Tod hinaus. Was halten Sie von mittelalterlichen Rittergeschichten und Szenen mit gregorianischen Chorälen und früher Mehrstimmigkeit?“

„Wie soll ich denn bitte über gregorianische Musik schreiben und das mit Rittern unter einen Hut bekommen? Außerdem kann man Musik lediglich hören und nicht lesen.“

„Noten kann man doch lesen, oder nicht, Watson?“

„Nicht jeder besitzt Ihre Vorstellungskraft, Holmes. Nein, ich würde mich wohl eher an das alte Sprichwort halten, das da lautet: Schuster, bleib bei deinen Leisten!. Mit Detektivgeschichten kenne ich mich aus und was spräche schon dagegen, einen neuen Dupin, Lecoq oder gar Tabaret zu erschaffen? Vielleicht entringt sich mir gar ein Charakter, der auf Ihrem Wesen und ihren Fähigkeiten fußt?“ Holmes deutete das plötzliche Glühen in meinen Augen als Warnsignal.

„Unterstehen Sie sich, Watson!“

„Schon gut, mein lieber Holmes. Ich weiß ja, wie sehr Sie die Literarisierung Ihrer Person anwidert. Trotzdem haben Sie mich da auf eine Idee gebracht und es mag sein, dass ich irgendwann einmal zur Feder greife, ohne dafür eine Diagnose oder einen Bericht über Ihre Heldentaten zum Anlass zu haben.“

„Wenn ich auch der Ansicht bin, dass es an Detektivgeschichten kaum mangelt, sollten Sie das tun, guter Watson.“

„Aber genug von diesen Phantasien! Mich würde brennend interessieren, wie sich Ihr Treffen mit der Königin weiter gestaltet hat. Kamen Sie noch dazu, weitere Themen zu erörtern?“ fragte ich begierig.

„Gewiss, Watson. Unsere Unterredung zog sich bis in die frühen Nachmittagsstunden und berührte erst gegen Ende den eigentlichen Gegenstand, dessentwillen Sie mich einbestellt hatte. Wir sprachen über den Wert der Krone in einer instabilen Welt und auch über unsere literarischen Vorlieben – die im Übrigen keine wesentlichen Überschneidungen aufwiesen. Sie ließ sich sogar dazu herab, Ihre Zweifel anzusprechen bezüglich der Eignung ihres ältesten Sohnes, ihr dereinst auf den Thron nachzufolgen. Was das angeht, konnte ich jedoch dabei helfen, einige ihrer Einwände zu zerstreuen. Aus meiner Sicht bedeuten charakterliche Schwächen nicht zwangsläufig, dass sie sich abträglich auf die täglichen Pflichten auswirken müssen.“ Er sah mir direkt in die Augen. „Sehen Sie mich an, Watson. Man könnte mich bei oberflächlicher Betrachtung durchaus als misanthropischen Tagedieb bezeichnen. Auf meine Arbeitseinstellung hat sich diese Schwäche jedoch niemals evident ausgewirkt.“

„Die Königin umtrieben also tatsächlich Bedenken, ob sich Edward als Regent eignet? Das ist ja erstaunlich. Da lagen die Schmierblätter also richtig.“

„Wenn sie das taten, dann wohl nur aus Versehen, mein Freund. Wer zehnmal am Tage irgendetwas ungeprüft behauptet, läuft automatisch Gefahr, auch einmal richtig zu liegen.“ Ich schmunzelte.

„Mag sein, Holmes. Trotzdem muss ich sagen, dass ich tief beeindruckt bin, wenn ich bedenke, welche Ehre Ihnen damals zuteil wurde. Wahrscheinlich wäre ich zu nervös gewesen, um dieses Lebensereignis ausreichend würdigen zu können.“

„Sehen Sie, somit war es doch von Nutzen, dass ich dereinst allein in Windsor war“, sagte Holmes süffisant und blinzelte mir zu.

„Ich wäre trotzdem gern dabei gewesen. Wer hat schon die Gelegenheit zu einem derart intimen Austausch mit der größten Frau des letzten Jahrhunderts?“

„Durchaus empfand auch ich eine gewisse Ehrung, allerdings bemesse ich Menschen vielmehr an ihren Taten denn an ihrer gesellschaftlichen Stellung. Was die Taten angeht, fällt es schwer, über einen konstitutionellen Monarchen zu urteilen. Was mir jedoch sehr angenehm im Gedächtnis geblieben ist, war ihre anscheinend aufrichtige Zuneigung zu ihrem Land und den Menschen, die es bevölkern. Zudem erschien sie mir sehr pflichtbewusst und wohlüberlegt in ihren Urteilen. Was mir jedoch auch auffiel: Über all die Stunden hinweg aß sie beinahe nichts und das, obwohl der Tisch stets reich gedeckt war. Da aber auch nichts abgeräumt wurde und sie nach unserem Treffen im Saal verweilte, muss ich davon ausgehen, dass sie durchaus in Betracht zog, ihr Mahl nach unserer Unterredung fortzusetzen. Wenn man ihre Körperfülle bedenkt, liegt der Schluss nicht fern, dass sie für gewöhnlich große Mengen an Nahrung verzehrte, dies jedoch allein tat. Wohl deshalb, um sich nicht unnötig Blöße zu geben.“

„Holmes! Ihre Körperfülle hat über die letzten Jahre auch zugenommen. Das ist kein Grund, sich über jemandes Essgewohnheiten zu pikieren – erst recht nicht die unserer verstorbenen Königin.“

„Nichts läge mir ferner, Watson! Ich habe lediglich deduziert, was mir meine Beobachtungen nahegelegt haben.“

„Nun gut, Holmes. Wie kam es denn nun dazu, dass sie Ihnen diese Krawattennadel geschenkt hat?“

„Wenn ich ehrlich sein soll, war diese nicht ihre erste Wahl als Geschenk für mich.“

„Sie haben sich nicht ernsthaft erdreistet, ihr eigentliches Geschenk abzulehnen, Holmes?“, unterbrach ich ihn prompt.

„Doch, das könnte man so sehen, Watson. Aber bevor Ihnen jetzt noch Ihre Kaffeetasse aus den Händen fällt: Es war vielmehr ein immaterielles Geschenk, das ich jedoch respektvoll ausgeschlagen habe.“ Mir als getreuem Diener des Empire schwante Ungeheuerliches.

„Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass Sie den Ritterschlag verschmäht haben?“, warf ich erschüttert ein.

„In der Tat habe ich darauf verzichtet und Sie müssen mich deswegen nun auch nicht mit Sir Sherlock titulieren. ,Holmes‘ gefällt mir da doch um einiges besser. Aber genug gescherzt. Wissen Sie, ich denke immerzu über den aktuellen Zeitpunkt hinaus; und weil ich damals schon wusste, dass mich eines schönen Tages der Ruhestand ereilt, erschien mir diese Ehre eher lästig denn nützlich. Sie birgt gesellschaftliche Pflichten und steigert zudem die ohnehin aufdringliche öffentliche Aufmerksamkeit für meine Person. Dies beeinträchtigt meine Arbeit als Beratender Detektiv und mein zukünftiger Ruhestand wäre de facto alles andere als ruhig. Diese und andere Argumente trug ich der Königin vor.“ Ich starrte ihn an.

„Und wie lautete die Antwort?“

„Dass mein Bruder ihr bereits angekündigt hatte, wie meine Einstellung zu diesem Thema ist. Sie akzeptiere meine Entscheidung, würde es allerdings nicht hinnehmen, wenn ich nicht dieses besondere Schmuckstück entgegennähme.“ Holmes stöberte vorsichtig in der Schublade seines Schreibtisches und holte die besagte smaragdene Krawattennadel hervor. Er drehte sie vorsichtig vor seinen Augen, sie glitzerte im unruhigen Licht des Kamins.

„Wissen Sie, mein guter Watson, was es mit diesem erlesenen Schmuckstück auf sich hat?“ flüsterte Holmes.

„Sie stammt doch nicht etwa aus den Kronjuwelen, Holmes?“

„Nein, das nicht. Ihre Provenienz ist viel exklusiver.“

„Exklusiver als die Kronjuwelen? Spannen Sie mich nicht so auf die Folter!“ polterte ich.

„Sie stammt aus dem Besitz von Prinzgemahl Albert. Wenn man bedenkt, welch liebevolle Worte die Königin dereinst ihrem verstorbenen Gatten vorbehalten hatte, werden mir die gegenseitige, tiefempfundene Zuneigung und Dankbarkeit erst recht bewusst. Bis heute bewahre ich diese Nadel im Gefühl der Freundschaft für ihre ehemalige Besitzerin. Ihr Dahinscheiden geht mir somit äußerst nah. Victoria war eine Zierde für ihr Amt und das Empire wird ohne sie ärmer sein.“

Holmes sollte wenig später erneut den Ritterschlag ablehnen. Diesmal ersucht von König Edward VII., diesen höchsten aller Ehrentitel anzunehmen, die für die Bürger seiner Majestät erreichbar waren. Sherlock Holmes, der wie kaum ein Zweiter im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand, scheute sich vorm großen, unachtsamen Publikum mehr als vor jedem Ganoven auf den Straßen Londons. Schon am nächsten Tag erreichte uns eine Eilsendung. Als Holmes sie in Empfang nahm, riss er sogleich das Packpapier auf und enthüllte ein Portrait Victorias von etwa elf Zoll Größe. Sogleich griff er Hammer und Nagel, suchte sich eine geeignete Stelle in unserem Wohnzimmer und fand sie neben dem Portrait von Henry Ward Beecher. Mit einigen geübten Schlägen befestigte er die Memorabilie an der Wand.

Addendum: Queen Elisabeth II. (1926 – 2022)

Ebenso wie Queen Victoria ihre Ära prägte, ragte die kürzlich verstorbene Königin unter ihren Zeitgenossen heraus: Queen Elisabeth II. war die Ur-Urenkelin der Monarchin, deren Tod Holmes und Watson oben betrauern. Sowohl in den Zeitungen, als auch in Funk, Netz und Fernsehen wurde in den letzten Monaten viel über das einzigartige Leben von Queen Elisabeth berichtet. Hier soll nur herausgehoben werden, als welches raren Menschenschlags Ikone sie angesehen werden kann.

Elisabeth II. entsprach nicht dem Typus Mensch, welcher heuer so viel Beachtung erfährt – Menschen, die unentwegt polarisieren und provozieren. Ihre ganze Regentschaft war geprägt von stoischer Neutralität; ausgerichtet, zu verbinden, statt zu entzweien. Moderne Politiker dagegen versuchen im Kampf um kurzfristigen Erfolg immer häufiger, Gräben zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu vertiefen, anstatt diese zuzuschütten. Während der gesamten Herrschaftszeit ihrer Majestät stand sie scheinbar jenseits des Zeitgeistes und fern aller kurzweiligen trendigen Hypes des Informationszeitalters. Modern war sie sicher nicht und das war auch ihre große Stärke.

Die Krone ging Elisabeth II. über alles – oftmals auch über die Interessen ihrer Familie. So unschön dies auch aussehen mag, verteidigte sie so dennoch eine jahrhundertealte Institution, die es vermochte, Gemeinschaftsgefühl, Halt und Orientierung zu stiften, gerade in stürmischen Zeiten. Sie vermittelte den Briten eine positive Form des Patriotismus, der sich – wenn sie sich auch nie für die Gräuel der Kolonialzeit entschuldigte – eignete, die Völker des Commonwealth zu versöhnen. Die Königin war eine bescheidene und fromme Frau, – im erfreulichen Gegensatz zu manch anderen Zeitgenossen – deren Pflichtgefühl gegenüber ihrem Volk immer größer war als irgendeine Form der Geltungssucht. Ganze siebzig Jahre. Ihr ganzes Leben.

Somit bitte ich ein letztes Mal: God Save the Queen! Requiescat in pace, Elisabeth.



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