Die Bienen von Seebach

Die ‚Deutsche Sherlock Holmes Gesellschaft‘ gibt alljährlich eine kleine Anthologie heraus, die mit Kurzgeschichten deutschsprachiger Sherlockianer aufwartet. Innerhalb dieses Rahmens durfte ich eine Geschichte verfassen, die den großen Detektiv zusammen mit einen kaum minder bekannten Gottesmann auf Spurensuche durch den Schwarzwald schickt. Herausgekommen ist eine kurzweilige Detektivgeschichte, die sich auch für Kinder gut eignet, da sie völlig ohne Gewalt auskommt.

‚Die Bienen von Seebach‘ ist mir eine Herzensangelegenheit, denn sowohl die beiden Protagonisten als auch das kleine Örtchen Seebach im Nordschwarzwald haben einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen. 

Nachdem das kleine Buch und die begleitende Zeitschrift schnell vergriffen waren, sind einige wenige Exemplare nun wieder unter BSC IV 2022 + Anthologie erhältlich.

Die Bienen von Seebach


Eine furchtbare Hitze beherrschte den Sommer des Jahres 1911. Von Frankreich über Belgien bis in das östliche Böhmen hinein war es beinahe unerträglich heiß. Flüsse, einst ungebändigte Ströme, waren nur noch ein müdes Rinnsal. Mensch wie Nutzvieh mieden die erbarmungslose Sonne und versteckten sich in Häusern, Ställen und jeder noch so kleinen schattigen Furche.

Wie sehr vermisste er doch die kühlen Winde der Insel, von der er stammte! Gerade jetzt hatte man ihn nach Deutschland geschickt, ins nicht minder kältere Auge dieser Hitzewelle. Einzig die Kühle der Tannen des nördlichen Schwarzwaldes und die Höhenlage von über tausend Metern, konnten ihn davon abhalten, mitsamt seiner Kleider in den düsteren See zu springen, den er soeben umrundete. Zugegeben, auch die Warnungen des Gasthaus-Wirts des Berghotels trugen einen Teil dazu bei, den heißersehnten Sprung ins kühle Nass nicht zu wagen. Gerade erst hatte er ihm von den Sagen berichtet, die um den Karsee ranken. Einst sollten Nixen – Mümmlein genannt – des Tages den Bauern und Holzarbeitern zur Hand gegangen sein. Doch bei Sonnenuntergang, so lautete des Seekönigs Gebot, sollten sie wieder in ihr prächtiges Kristallschloss am Grunde des Sees zurückkehren. Ein Mümmlein jedoch verliebte sich in einen Knaben und verpasste beim Tanze mit ihm diese Frist. Diese Pflichtvergessenheit kam ihr teuer zu stehen. Auch weitere Sagen bekam er zu hören – so zum Beispiel zöge ein Gewitter auf, wenn man einen Stein in den See zu werfen sich erdreistete. Der große deutsche Dichter Eduard Mörike verewigte die Geister, die hier leben mögen, gar in seinem berühmten Wechselgesang. Auch Grimmelshausens Simplicissimus kam ein Stein arg zu stehen, den er in den See befördert hatte. Diese Geschichten waren dem englischen Wanderer allerdings nicht so sehr Warnung wie die schlichten Fakten über den See, welche ihm weit mehr einleuchteten als bloße Mystizismen. ‚Aberglaube ist wider den Glauben‘, pflegte er immer zu sagen und er glaubte an die Bedeutung dieser Worte. Die dunklen Wasser des Sees, die gähnende Tiefe von 20 Metern und die bedrohlichen Wasserwirbel mit ihrem unberechenbaren Sog wirkten bedrohlicher als alle Sagen von dämonischen Kräften. Er war sich nicht sicher, aber offenbar lebte nichts im See, weder Fische noch Wasserpflanzen. Nicht einmal Algen konnten hier scheinbar gedeihen. Die überprüfbaren Tatsachen reichten also schon ohne weiteres aus, ihm die Lust aufs kalte Nass zu verleiden.

Mittlerweile hatte er ein kleines Bootshaus links hinter sich gelassen und gelangte ans Ende seiner Seeumrundung. Als er am Berghotel vorübergegangen war, hielt er kurz inne, um sich zu vergewissern, ob er den etwa dreiviertelstündigen Marsch zum Berggipfel bei dieser Hitze wagen sollte; dann jedoch trat er mutig den Aufstieg an. Als ihm aber klar wurde, dass zumindest der erste Teil der Strecke einen grandiosen Blick über die Berge bis ins Rheintal eröffnete, verließ ihn sogleich wieder der Mut. Dieser atemberaubende Blick erlaubte es der Sonne, ihn in seinen schwarzen Kleidern erbarmungslos zu rösten, weit über den Garungsgrad eines guten englischen Steaks hinaus. Zum Tee wollte der erfahrene Wanderer gern wieder im Hotel am See sein. Nach etwa einer Viertelstunde wurde der steinige Wanderweg Gott sei Dank wieder von einem wahren Tannenmeer umspült, das mit der Luft von über 1100 Höhenmetern genug Abkühlung verschaffte für eine wirklich erholsame Rast. Er setzte sich auf einen Baumstumpf am Wegesrand, zog seine Wasserflasche aus dem Rock und trank etwas zu hastig Schluck um Schluck, bis sich seine Vernunft wieder meldete und ihm Einhalt gebot. Seit Beginn seines Aufstieges war ihm kein anderer Wanderer begegnet, es war herrlich einsam und idyllisch hier oben. Einige Greifvögel, Schwarzmilane wohl, zogen am klaren Himmel einsam ihre Bahn. Ob sie bei diesem Wetter wohl Beute machen würden, fragte er sich. Als er so seinen Gedanken nachhing, wurde seine Kontemplation plötzlich von einem dumpfen Knall, gestört – sowie einer delikaten Auswahl seltsam vertrauter Flüche.

„Das kam doch aus diesem Waldstück“, sagte er zu sich, „und Englisch war es auch! Wer flucht denn hier auf Englisch im tiefsten Schwarzwald?“

Dieser Frage wollte er umgehend nachgehen. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass hier jemand seiner Hilfe bedurfte. Er tapste also vorsichtig in den Wald hinein, was sich ob der teilweise steilen Hanglage als ziemliches Abenteuer entpuppte.

„Hallo! Ist hier jemand, der Hilfe braucht?“, rief er in den Wald hinein.

„Gewiss nicht die Art von Hilfe, die mir ein Mann Ihrer Profession bieten könnte“, hallte es aus kurzer Entfernung und in perfektem Englisch zurück.

Da erspähte er zwischen den Zweigen einen, großen Mann um die Sechzig, der mit seinem wilden, klaren Blick und dicken Handschuhen bekleidet den Eindruck eines missmutigen Sonderlings machte. Er kniete auf dem Waldboden, entledigte sich allerhand Schmutz und Tannennadeln, die sich im schütteren dunklen Haar und in seiner bäuerlichen Kleidung verfangen hatten. Dann richtete sich der Fremde auf, trat herzu und stellte sich vor.

„Seien Sie gegrüßt Father, Holmes ist mein Name und ich komme aus Sussex.“

„Es ist mir eine Freude, hier in der deutschen Gluthitze einen Landsmann wie Sie zu treffen, Mr. Holmes. Ich bin Father Brown aus Essex.“

„Ein katholischer Landpfarrer mit wachem Geist, wie ich sehe. Nur muss ich Ihnen sehr wohl sagen, dass ich Ihre Kluft als wenig geeignet betrachte, für Abkühlung zu sorgen.“

„Und Sie stammen tatsächlich aus Sussex, Mr. Holmes?“

„Nun, meine alte Heimat lag etwas nördlicher in good old England. Die Steilküsten Sussex‘ habe ich erst seit meinem Ruhestand zu meinen neuen Jagdgründen erkoren.“

„Vorher waren es die Straßen Londons, vornehmlich eine Straße mit Bezug auf einen alten Handwerksberuf, wenn ich nicht irre“, schmunzelte der rundliche Priester; und schließlich grinste er breit.

„Obwohl mein Nachname in England sicher rarer ist als Smith, Baker oder auch Brown, möchte ich Ihnen dennoch zu dieser Schlussfolgerung gratulieren, Father Brown. Allerdings mache ich nicht viel Aufhebens ob meiner alten Passion. Mittlerweile widme ich meine Freizeit anderen Themenfeldern.“

„So zum Beispiel der Erforschung der Gebirgstannen, nahe dem Gipfel der Hornisgrinde. Oder erforschen Sie die Gravitation? Wenn ich mir Ihren Absturz von eben ansehe, liegt vielleicht auch diese These nahe“, erwiderte der englische Pfarrer darauf keck. Holmes grinste.

„Für einen Geistlichen pflegen Sie ein recht forsches Auftreten.“

„Auch ein Mann Gottes bringt seinen ureigenen Charakter mit in den Beruf. Zudem fasziniert mich die Wissenschaft auf Äußerste, welche Sie begründet haben.“

„Ein Freund der Kriminalistik sind Sie also auch? Sie müssen wissen, dass die Wissenschaft der Beobachtung und Deduktion mehr Anwendungsbereiche kennt als bloß die der Verbrechensaufklärung.“

„Das ist mir durchaus bewusst, Mr. Holmes. Immerhin folgerten Sie eben erst durchaus Zutreffendes zu meiner Person und ich bin zurzeit, soweit ich mich seit heute Morgen entsinnen kann, nicht Teil eines kriminellen Komplotts.“

„Das wird sich noch zeigen“, erwiderte der emeritierte Meisterdetektiv süffisant. „Ich habe es mir zur Maxime gemacht, voreilige Schlüsse zum Feind einer jeden logischen Gedankenkette zu erklären. Für den Moment jedenfalls betrachte ich Sie, werter Father Brown, als willkommenen Faktor der Vertrautheit in der Fremde.“

„Das freut mich, Mr. Holmes. Aber nun erzählen Sie schon! Was machen Sie denn hier am Ende der Welt in Gesellschaft dieser Weißtannen?“

„Hören Sie es nicht?“ Er lauschte, doch da war wenig mehr als das Rauschen der Wipfel in der leichten Brise.

„Geben Tannen etwa Laute von sich?“

„Denken Sie doch an meine eben angeführte Maxime, Father!“

„Sie meinen jene über das Vermeiden von voreiligen Schlüssen? Nun dann, ich höre!“

In der Stille des Gebirgswaldes vernahm der Priester sogleich ein verdächtiges Summen. Waren das Wespen? Nein.

„Bienen! Ich höre Bienen, Mr. Holmes. Dort oben ist ein Nest dieser umtriebigen kleinen Biester. Ich hoffe, Sie wurden nicht gestochen.“

„Seit sieben Jahren betreibe ich nunmehr praktische Apidologie und in jener Zeit habe ich bestenfalls eine Hand voll Stiche abbekommen – im wahrsten Sinne des Wortes! Im Gegensatz zu Wespen – die übrigens der natürliche Feind der Biene sind – sterben Bienen, nachdem sie ein anderes Lebewesen gestochen haben. Beim Bienenstachel handelt es sich nämlich um einen essenziellen Körperteil, ohne den sie nicht weiterleben können. Eine Drohne überlegt sich gut, ob der Stich wirklich nötig ist, beispielsweise, um den Staat zu verteidigen. Sie müssen eine Biene schon aufs Äußerste reizen, damit sie Sie attackiert. Aber wo habe ich denn nur meine Pfeife?“, sagte Sherlock Holmes mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber.

„Sie haben bei dieser Trockenheit doch nicht etwa geraucht und dann noch im Wald?“, warf Brown voller Sorge ein.

Doch sein illustrer Gesprächspartner war viel zu sehr damit beschäftigt, jeden Busch im näheren Umfeld und jede Anhäufung von Tannennadeln zu examinieren. Plötzlich rief er freudig erregt auf und zog einen kleinen Blasebalg aus dem Unterholz.

„Da ist sie ja. Zum Glück war die Glut bereits erloschen, nicht auszudenken, wie schnell ein Feuer bei diesen Witterungsbedingungen außer Kontrolle geraten würde.“

„Eine Imkerpfeife ist das also! Sie wollten also dieses Bienenvolk da oben in der Tanne untersuchen bevor Ihnen die Schwerkraft einen Strich durch die Rechnung gemacht hat?“ Holmes zuckte mit den Schultern.

„Die Schwerkraft hat meine Lage nur noch verschlimmert. Ich hatte lediglich die Tragfähigkeit eines Astes überschätzt. Und um Ihre Frage aufzugreifen: Ja, ich war dabei, diesen Bienenstaat zu untersuchen. Ein badischer Kollege, mit dem ich in Briefkontakt stehe und der diese Gegend unlängst besucht hat, versicherte mir kürzlich, er habe in der Region von Seebach nahe dem Hochmoor der Hornisgrinde eine ungewöhnliche Ausprägung der Apis mellifera ligustica gesichtet. Die ist eigentlich in Italien endemisch.“ Holmes fuhrwerkte mit der Imkerpfeife vor der Nase des staunenden Priesters herum. „Diese Entdeckung brachte mich zur Hypothese, es könne sich dabei um einen Hybrid der hiesigen Gruppe der Apis mellifera mellifera und ihrer italienischen Schwestern handeln. Seit beinahe einer Woche suche ich bereits die Wälder dieser Region ab, auf der Suche nach besagtem Volk. Es geht um so viel, dass ich mittlerweile auch auf Bäume steige, wenn mich ein Verdacht hinaufführt.“

„Ein Fall von internationaler Tragweite, wie ich vermute?“, gab Brown belustigt zurück.

„Sie wissen noch nichts davon? Das wundert mich doch sehr. Ein Bienensterben ist in England im Gange, eine Katastrophe nie dagewesenen Ausmaßes!“, rief Holmes frustriert in den Wald.

„Ich entsinne mich an einen Zeitungsartikel vor einiger Zeit. Aber ist es denn so schlimm, wenn es weniger Honig gibt?“, gab Father Brown kleinlaut zurück.

„Sie belieben zu scherzen, Father? Sie machen sich keine Vorstellung, wie wichtig Bienen für unser Ökosystem sind. Das der gesamten Welt! Ob es sich nun um Zucht- oder Wildbienen handelt; Bienen spielen eine tragende Rolle bei der Bestäubung, nicht nur von Kornblumen und Lavendel. Unsere Nutzpflanzen werden zu großen Teilen von Bienen bestäubt, die ihren Nektar sammeln. Schauen Sie sich nur einmal die Situation hier in Seebach an. Würde hier ebenso ein Bienensterben vonstattengehen wie in England, wäre die Existenz der Bauern und damit das Wohlergehen der gesamten Bevölkerung in Gefahr. Nicht nur, dass die Landwirte Vieh halten, die Futterpflanzen zum Überleben benötigen, und dass Gemüse zum Eigenbedarf angebaut wird. Beinahe jeder Seebacher besitzt eine Vielzahl an Obstbäumen, welche beinahe vollständig auf die Bestäubung durch Bienen angewiesen sind. Somit dienen die Beuten, in denen sich hier beinahe alle Bauern ihre Bienenvölker halten, vielmehr der Fortexistenz des gesamten Ökosystems denn der simplen Honigproduktion. Sehen Sie das filigrane Gewebe unseres Ökosystems und wie eine Vielzahl unerwünschter Ereignisse logische Folge der Störung einer einzigen Masche sein kann?“ Der Priester rieb sich die Stirn.

„Nun beginne ich zu begreifen, warum sich ein Denker Ihres Ranges im Ruhestand einem solchen Thema zuwendet. Ich muss gestehen, dass mir die Tragweite eines Bienensterbens bisher nicht klar war. Wenn ich daran denke, dass die fleißigen Leute hier vielleicht nie wieder das köstliche Kirschwasser brennen könnten, dass mir im Hotel kredenzt wurde.“

„Es geht doch nicht mal im Ansatz nur um so etwas Banales wie Kirschwasser!“, murrte Sherlock Holmes ungeduldig.

„Ich weiß, guter Mr. Holmes. Ich finde es nur interessant, wie stark Sie sich persönlich engagieren und mit welchem Maß an Verbissenheit Sie sich bei all Ihren Lebensleistungen noch immer für echte Lösungen einsetzen.“

„Nicht mein Charakter oder meine Beweggründe sind Gegenstand dieser Krise, sondern die Sache, der ich mich nun zwangsläufig verpflichtet habe, Father.“

„Die Beweggründe der menschlichen Seele spielen immer eine Rolle, Mr. Holmes. Oftmals wird des Pudels Kern früher entdeckt von jenem Forscher, der ihn zu finden persönlich motiviert ist – weniger vom ebenso begabten Kollegen, der der Lösung des Sachverhalts nicht so viel Bedeutung beimisst.“

„Das mag sein, Father Brown. Ich werde meine heutige Exkursion jedenfalls abbrechen und mich nach einer kurzen Stärkung im Berghotel am Mummelsee wieder ins Dorf aufmachen und mich einstweilen wieder mit den Forschungen zu den Ursachen dieser Krise befassen. Außerdem gilt es noch, einen kleinen, aber zutiefst ärgerlichen Kriminalfall aufzuklären.“

„Ein Kriminalfall, sagen Sie?“ Die Stimme des katholischen Priesters vibrierte plötzlich vor Neugier. Dies entging Sherlock Holmes keineswegs.

„In alten Zeiten pflegte ich eine Vielzahl meiner Fälle Seit an Seit mit meinem Freund und Kollegen Dr. Watson zu bestreiten. Wie sieht es mit Ihrer Zeit aus? Haben Sie nicht vielleicht Lust, mich ein wenig zu begleiten und sozusagen die Stelle des Doktors einzunehmen? Was führt Sie eigentlich in diese entlegene Gegend?“

„Mit dem allergrößten Vergnügen werde ich Sie bei Ihren Ermittlungen unterstützen“, sprühte der Gottesmann über, „Sie müssen wissen, ich selbst bin schon mit der einen oder anderen kriminellen Verwicklung in Berührung gekommen. Was Ihre Frage zum Grund meiner Reise in den Schwarzwald betrifft: Auch ich sorge mich um ‚fleißige Bienen‘. Die meinen sind ebenso von einer Krankheit befallen und dadurch auf Abwege geraten. Die Arbeiter im ortsansässigen Steinbruch haben sich im Zuge der Gewerkschaftsbildung den Thesen des Sozialismus und Atheismus geöffnet. Der Bischof der hiesigen Diözese hat bei meinem ein Amtsgesuch eingereicht für die Entsendung eines fähigen jungen Priesters, um den jungen Burschen aufzuzeigen, dass die Zuwendung zu gewerkschaftlicher Organisation nicht gleich in eine Abwendung vom Glauben führt. Ich habe noch keine eigene Pfarrei zugeteilt bekommen, bin somit frei. Zusätzlich hat mir seine Exzellenz eine gewisse Fähigkeit attestiert, die Seelen meiner Mitmenschen zu erreichen. Er wählte mich aus, den Seebacher Bergarbeitern Gott wieder näherzubringen.“ Holmes hatte aufmerksam gelauscht.

„Der Grund Ihres Besuchs hier entspricht wohl ebenso wenig meinen Neigungen wie der meine den Ihren. Sei es drum, wenigstens verbindet uns mein kleiner Kriminalfall und ein englischer Gefährte kann in der Fremde niemals schaden. Wenn Sie in der übrigen Zeit Ihre Schäfchen zur Herde zurückführen möchten, halte ich Sie gewiss nicht auf. Machen wir uns auf den Weg!“

Der hitzige Zorn der Sonne war in der Zwischenzeit etwas verraucht. Sie ließ sich nun von einigen Wolken verdecken. Die beiden Gentlemen begannen – nachdem der eine seine Umhängetasche mit allerlei apidologischen Werkzeugen vollgestopft hatte – ihren Abstieg zum Berghotel am Mummelsee. Dort angekommen, zog sich Sherlock Holmes kurz in ein kleines Nebenzimmer zurück, um wenig später erfrischt und im angemessenen englischen Wanderzwirn wieder zu erscheinen. Nach dem Nachmittagstee ging es hinab ins Tal. Es war ein zauberhafter Pfad, der durch scheinbar undurchdringliche Nadelwälder führte, die hie und da nur von Aussichtspunkten unterbrochen wurden, die den Blick auf wunderbare grüne Bergpanoramen eröffneten. Zu großen Teilen folgte der Wanderpfad einem kleinen Gebirgsbach, den Sherlock Holmes als „Boosterbach“ bezeichnete. Nach beinahe anderthalb Stunden entspannten Wanderns erreichte das ungleiche Paar jenen kleinen Hof am Rande des Waldes, der Sherlock Holmes seit nunmehr zehn Tagen als Herberge und wissenschaftliches Labor diente. Die Wirtsfamilie hatte ihm eine ganze Etage im Nebenhaus über der Schnapsbrennerei zur Verfügung gestellt. Allerlei Chemiker-Gerätschaften blubberten und dampften vor sich hin.

„Dies ist aber nicht das Dorf, Mr. Holmes“, sagte der Priester.

„Im Prinzip schon. Die Gemeinde Seebach erstreckt sich über beinahe 20 Quadratkilometer. Selbst der Mummelsee und der Bergrücken des Gipfels der Hornisgrinde – den Sie aufgrund Ihres Zusammentreffens mit meiner Person nun leider noch nicht genießen durften – gehören zur Gemeinde. Hier befinden wir uns auf etwa 600 Metern Höhe im Ortsteil Grimmerswald. Das eigentliche Dorf findet sich allerdings gut eine halbe Stunde weiter unten im Tal, wo die Acher fließt.“

„Ja, dort war ich schon und durfte im Gasthaus Hirsch ein hervorragendes Mahl genießen.“ Holmes schmunzelte.

„Father, In Ihrer Fixierung auf gastronomische Genüsse gleichen Sie in beängstigender Weise dem alten Watson.“

„Er weiß also auch die feinen Dinge des Lebens zu schätzen? Das ist schön, denn das eine schließt das andere nicht zwangsläufig aus. Was aber in meinen Augen bedauerlich ist, ist das Fehlen einer Kirche für die hiesige Gemeinde.“

„Das ist mir gar nicht aufgefallen“, erwiderte Holmes verdutzt.

„Mit Ihrer berühmten Beobachtungsgabe ist es in bestimmten Bereichen offenbar nicht allzu gut gestellt“, entgegnete Father Brown keck. Holmes blickte irritiert.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass Sie wirklich ein Gottesmann sein sollen.“

„Aus voller Überzeugung, mein guter Mr. Holmes. Der Glaube an den Herrn widerspricht in keiner Weise einem Geist, dessen Leitfaden die Empirie ist. Der einen oder anderen humoristischen Anwandlung kann ich im Übrigen auch niemals widerstehen.“

„Wenn alle Priester Ihrem Beispiel glichen, stünde es vielleicht anders um die Bergarbeiter im Seebacher Steinbruch“, antwortete der große Detektiv trocken.

„Sie schmeicheln mir, Mr. Holmes. Aber hier liegt es wohl eher daran, dass die Arbeiter gar keinen ortsansässigen Seelsorger haben, der sich um ihre geistlichen Bedürfnisse kümmert. Die Seebacher Schäfchen werden vom Pfarrer der Nachbargemeinde in Ottenhöfen betreut. Die Wege sind lang, womit viele den Sonntagsmessen lieber ganz fernbleiben. In diese Lücke setzten nun die atheistischen Prediger ihre Triebe des Zweifels. Ich bemühe mich zumindest um Errichtung einer Notkirche, solange die Mittel für einen eigenen Kirchenbau noch nicht zur Verfügung stehen. Zudem trägt sich der Erzbischof mit dem Gedanken, einen christlichen Arbeiterverein zu gründen und den sozialistisch motivierten Gewerkschaften etwas entgegenzusetzen.“

„Da haben Sie sich ja einiges vorgenommen, Father Brown. Wenngleich ich mit institutioneller Religion auch nicht allzu viel anfangen kann, wünsche ich Ihnen dennoch Erfolg. Wenn es jemandem gelingen kann, diese große Aufgabe zu bewältigen, dann Ihnen.“ Der Gottesmann neigte kurz den Kopf.

„Haben Sie Dank, Mr. Holmes. Aber nun erzählen Sie mir doch von den Forschungen, die Sie hier betreiben und vor allem vom Kriminalfall, der Sie im Moment beschäftigt!“ Holmes deutete vage in sein improvisiertes Laboratorium.

„Wie Sie sehen, konnte ich mir in den letzten Tagen ein kleines Labor herrichten. Schon in Sussex stieß ich auf eine mögliche Erklärung für das Bienensterben, welches unser heimisches Ökosystem bedroht. Mit dem Mikroskop konnte ich in den Luftröhren einiger Arbeiterbienen kleine Organismen entdecken, die beinahe den gesamten Innendurchmesser der Trachea einnahmen. Für Bakterien haben sie die falsche Form, zudem waren sie viel zu groß. Ich vermute, dass es sich um eine Milbenart handelt, welche die Atemwege der Bienen befällt. Seit Monaten bin ich auf der Suche nach resistenten Bienenarten, bisher jedoch ohne Erfolg. Was die italienische Apis mellifera ligustica angeht, hege ich gewisse Hoffnungen; jedoch würde es mir sehr helfen, eine natürliche Kreuzung in den Bergen zu finden. Wenn ich dann wieder in England bin, setze ich eine isolierte Probe meiner Bienen dieser Milbe aus und prüfe, ob sie sich als resistent erweisen. Sollte es mir jedoch nicht gelingen, besagter Kreuzung habhaft zu werden, hat mir ein erstaunlich gescheiter Landwirt und Waldbesitzer aus Grimmerswald vier Königinnen der Apis mellifera ligustica versprochen – samt Gefolge!“ Holmes lachte. „Nennen Sie es Intuition, aber ich bin guter Dinge, dass diese südeuropäische Art uns der Lösung dieses Schlamassels erheblich näherbringen wird.“

„Und wo liegt dann das Problem oder besser gesagt der Kriminalfall in dieser Sache verborgen?“

„Es hat eine Entführung stattgefunden, Father“, sagte Holmes verschwörerisch. Brown erschrak.

„Wer wurde denn entführt, um Himmels Willen?“

„Die vier Königinnen!“ rief der Detektiv.

„Was Sie nicht sagen, Mr. Holmes“, Irritation lag in der Stimme des Priesters. „Von wo? Und wie?“

„Vom Hofe des Herrn Schnurr. Er hatte mir die Königinnen nebst Gefolge gestern Mittag in vier dafür präparierte Lochboxen samt Nahrung drapiert und seine Bienenbeuten lediglich einige Minuten außer Acht gelassen. Ich wollte noch am selben Tage zum Bahnhof nach Ottenhöfen fahren, um sie von dort aus mit der Achertalbahn und über den Express gen Calais direkt nach Sussex schicken zu lassen. Mein Nachbar hätte sie dann in Beuten angesiedelt, damit die Bienen sich bis zu meiner Ankunft hätten akklimatisieren können.“

„Und innerhalb dieses kurzen Zeitraums wurden die Boxen entwendet? Gibt es denn Hinweise auf den oder die Täter?“

„Herr Schnurr berichtete mir von eigenartigem Hufgetrappel.“

Brown hob eine Augenbraue. Das Ganze wurde immer merkwürdiger. „Inwiefern war es eigenartig?“ Holmes Blick verlor sich, fing sich an einem Gedanken.

„Es hörte sich an, als stamme es von einem Esel. Im Ort besitzt nur niemand einen Esel, soweit er weiß. Allerdings war er sicher, dass es sich um nur ein Tier gehandelt hat, was die Zahl der möglichen Täter auf höchstens zwei reduziert. Eine größere Zahl an Entführern ist allerdings auch mehr als unwahrscheinlich, die Opfer zu exotisch.“

„Sonst gibt es bisher nichts zu berichten?“

„Natürlich habe ich den Hof auf Spuren untersucht. Der staubtrockene Untergrund machte eine penible Examinierung jedoch fast unmöglich. Übersäht von Hufeisenspuren, Schuhabdrücke von Herrn Schnurr und seiner Familie deuteten sich auch hie und da an.“ Dem frischgebackenen Kriminalassistenten klappte der Mund auf.

„Entschuldigen Sie, Mr. Holmes. Wie wollen Sie denn wissen, welche Spuren zu welchen Menschen gehören?“

„Ich habe mir natürlich sämtliche Schuhe zeigen lassen, die innerhalb der Familie in Benutzung sind. Das gehört zu meiner Methode.“

„Und sonst nichts von Belang?“

„Ein Detail fiel mir ins Auge. Ich konnte im steinigen Boden erkennen, wo Herr Schnurr die Beuten feinsäuberlich aufgestellt hat, je zwei übereinander. Weggenommen wurden sie aber recht hastig. Über eine Distanz von etwa einen halben Fuß wurden beide gezerrt, bis sie den Boden nicht mehr berührten.“

„Dieses Detail könnte sich sehr wohl noch als nützlich erweisen. Wie geht es nun weiter?“

„Sie führen in Ihrem Handgepäck Reisetoilette und Wechselkleidung mit?“

„Gewiss, Mr. Holmes. Heute nochmal zu meinem Hotel zu klettern übersteigt ein wenig meine Übung – sie reicht meist nur für die Stufen bis zum Ambo.“

„Gut. Dann machen Sie es sich doch in dem Zimmer da drüben gemütlich, ein Bett dürfte sich auch darin finden, wenn ich mich recht entsinne. Danach lade ich Sie zu einer Fahrt mit der kleinen Kutsche ein, die mir gütiger Weise vom Fuhrbetrieb Bohnert zur Verfügung gestellt wurde – zum Ort des Verbrechens. Es sind nur wenige Minuten Fahrt von hier.“

„Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Mr. Holmes. Ich werde eilen, mich wieder bei Ihnen einzufinden.“

Etwa eine halbe Stunde später – Father Brown hatte sich noch etwas erfrischt – bestiegen die beiden ihr Fuhrwerk, das in der Regel offenbar eher dem Getreide- und Obsttransport diente. Entlang des steil bergab mäandernden Weges bot sich den beiden Engländern eine märchenhafte Kulisse. Von Zeit zu Zeit erblickten sie kleine Gehöfte mit Ziegen, Schafen und Rindern sowie kleinen Kartoffel- und Topinambur-Äckern. Das sonnendurchflutete Panorama mit Kammet und Schlossberg – wie Brown anhand seiner kleinen Wanderkarte zu erkennen meinte – machte das friedliche Idyll perfekt.

„Wissen Sie bereits“, fragte Holmes seinen geistlichen Begleiter, „dass die Landwirte aus den Topinamburknollen einen hervorragenden Brand herstellen?“

Brown grinste. „Ich dachte, das Zeug verfüttern sie an die Pferde?“

„Das auch, aber Sie sollten auch dringend noch einen Rossler probieren. Wenn Sie dem Kirschwasser zugeneigt sind, werden Sie sicher auch den Schnaps zu schätzen wissen, der aus den Knollen der Topinamburpflanze gebrannt wird. Beinahe jeder Hof hier hat seine eigene Brennerei und Sie werden diesen Brand nirgendwo anders in der Welt finden.“ Holmes klang beinahe andächtig.

„Schon gut, Mr. Holmes, wenn Sie so dafür werben, werde ich ihn bei nächster Gelegenheit verköstigen.“

„Gut so!“ Plötzlich richtete er sich auf. „Ach, sehen Sie, wir sind schon da. Der Hof des Herrn Schnurr. So heißen hier übrigens einige. An meinem ersten Tag in Seebach hatte ich einige Mühe, den richtigen Hof ausfindig zu machen.“

Angekommen auf dem Gehöft des Landwirts und Forstbesitzers eilte Holmes direkt zum Tatort. Die zwei ungleichen Gebäude ließ er schnell zur Mitte hinter sich und gelangte so zur Streuobstwiese seines Bekannten. Mittig führte ein ausgetrockneter Pfad zu den fünf Bienenbeuten, gemütlich eingebettet im Zentrum eines Hains aus zwei Dutzend Kirsch- und Zwetschgenbäumen. Brown folgte Holmes, so gut er konnte, doch fiel es ihm schwer, Schritt zu halten – obwohl er halb so alt war. Vom Gutsbesitzer fehlte noch jede Spur. Als der Priester sich schließlich bei Holmes und den Bienen eingefunden hatte, lag der emeritierte Meisterermittler bereits bäuchlings auf den Boden und examinierte ihn mit Lupe und Zollmaß.

„Sehen Sie, Father, hier standen die Lochboxen. Fußspuren lassen sich, wie Sie sehen können, kaum ermitteln oder besser gesagt unterscheiden. Die Schleifspuren erkennen Sie aber? Hier, nehmen Sie meine Lupe.“

Sichtlich überfordert mit dem ungezügelten Elan seines Landsmanns, mühte sich Brown, überhaupt irgendetwas anderes als Steine, Schmutz, einen einsamen Käfer und Erdreich an der Graskante auszumachen.

„Hier werde ich Ihnen wohl einfach glauben müssen, Mr. Holmes. Offenbar sind Ihre Augen besser als die meinen“, sagte Brown verlegen. „Mich würde es dagegen sehr interessieren, ein paar Worte mit dem Landwirt und den anderen Mitgliedern der Familie wechseln zu können“, ergänzte er.

„Sicher lässt sich das einrichten. Sehen Sie doch, hier kommt schon der Hofbesitzer.“

Ein Mann mittleren Alters näherte sich vom Feld hinter den Obstbäumen her den beiden Gentlemen. Er steckte in Arbeitskluft, schwitzte ordentlich und begrüßte sie herzlich mit den wenigen Worten Englisch, die er bis dahin von Holmes aufgeschnappt hatte.

„Herr Schnurr, das ist Pfarrer Brown aus Essex. Er befindet sich zwar im kirchlichen Auftrag in Seebach, steht mir jedoch in diesem kleinen Fall freundlicherweise beratend zur Seite“, sagte Holmes – in so makellosem Deutsch, dass der Bienenwirt große Augen machte.

„Om Mändi het´s oogfonge mit de Hitz, un heiß isches witergonge. Sogar unser Katz het Schwierigkeite ghet, Hochwürden.“

„Wie bitte?“, fragte Father Brown, völlig ratlos.

„Er spricht von den seit Montag herrschenden, außergewöhnlichen klimatischen Bedingungen, welche zur Zeit diese Region heimsuchen. Und von der Unfähigkeit der hiesigen Fauna, mit den Auswirkungen umzugehen. Father, Sie müssen wissen, dass die hier gepflegte Mundart recht ungewöhnlich ist. Zumindest für das ungeübte Ohr.“ Holmes klopfte seinem Begleiter auf die Schulter. „Das Alemannische unterscheidet sich doch stark vom Hochdeutschen. Glücklicherweise verstehe ich das meiste, wenn ich es auch selbst nicht sprechen kann. Es ist ein beeindruckender Schlag Menschen, der diese malerische Gegend bewohnt. Wie ein germanisches Dorf, das sich einst den Einflüssen des Imperium Romanum widersetzte, bewahren die ‚Indigenen‘ des Achertals ihre uralte Kultur vorm Verlust. Trotzdessen bewahren sie sich eine gewinnende und aufgeschlossene Art“, gab Sherlock Holmes mit einiger Bewunderung in seiner Stimme zu verstehen.

„Soso, Mr. Holmes. Sie sind also ein Bewunderer der ortsansässigen Bevölkerung. Das ehrt Sie; gerade, weil man meinen könnte, Sie seien Weltmännischeres gewohnt. Aber auch in mir sehen Sie durchaus einen Freund der frommen und fleißigen Seebacher.“

Sherlock Holmes, Father Brown und der redselige Landwirt begaben sich ins Haus und nahmen auf einer weich gepolsterten Holzbank in der Küche Platz – dem gesellschaftlichen Zentrum der Familie. Herr Schnurr erzählte vom Tag des Geschehens. Holmes verlangte eine Aufzählung aller Besucher des vorangegangenen Tages und ob sich etwas Ungewöhnliches ereignet hätte. Zudem interessierte er sich für das Hufgetrappel und ob es sich tatsächlich um Eselshufe gehandelt haben könne. Der Bauer teilte diese Ansicht, zudem berichtete er von zwei Kunden, die in aller Frühe Eier und Honig erworben hätten, jedoch zu Fuß unterwegs gewesen seien. Sein zwölfjähriger Bub empfing – da gerade schulfrei war – vormittags einige Freunde zum Spielen, die wären jedoch bereits eine Stunde vor der Tat wieder aufgebrochen. Weder Pferd noch Esel hätte Schnurr bis dahin erblickt. Auch seine eigenen beiden Füchse hätten den gesamten Tag im Stall verbracht. Brown, der selbst des Deutschen einigermaßen mächtig war und sich so langsam in den badischen Dialekt hineingehört hatte, fragte nach den Berufen der beiden Besucher – der eine war Bürgermeister der Gemeinde, der Steinsetzer Bruder; die andere war eine ältliche Witwe, die den Nachbarhof bewirtschaftete. Zu beiden pflegte Schnurr eine seit Jahren währende, respektvolle Bekanntschaft. Die drei Herren diskutierten Stunde um Stunde.

„Alles in allem sind wir nicht viel weitergekommen“, meinte Holmes, als sie sich wieder auf dem Kutschbock eingerichtet hatten und langsam gen Dorfkern fuhren.

„Da bin ich mir gar nicht so sicher, Mr. Holmes. Die entscheidende Wendung in diesem Fall liegt zwar bestimmt noch vor uns, dennoch ahne ich, dass der himmlische Herr uns schon einige Ansatzpunkte für unsere Untersuchung zur Hand gereicht hat.“

„Ich verlasse mich dann doch lieber auf meinen Verstand, denn auf Zufälle, welche man im Nachhinein als göttliche Fügung fehlinterpretiert.“

„Kennen Sie denn die ursächliche Kraft eines jeden Ereignisses, das Ihnen als Zufall erscheint, Mr. Holmes? Wie können Sie dann sicher sein, dass der eine oder andere scheinbare Zufall in Wirklichkeit nicht einer Intervention des Schöpfers gleichkommt?“

„Der Punkt geht an Sie, Father“, lachte Holmes seinen neuen Bekannten an.

In der Zwischenzeit hatten die beiden das Tal erreicht. Links und rechts von ihnen wurde die Hauptstraße von einigen zweistöckigen Häusern gesäumt, abwechselnd gedeckt mit Ziegel- und Strohdächern. In der Ferne wieherten Pferde, als Holmes einen jungen Burschen begrüßte, der ihm aufgeregt zuwinkte.

„Das war Herr Schnurr Junior. Er verbringt viel Zeit hier unten im Pferdehof, bei seinen Freunden aus der Schule. Zudem ist er wohl ein Verehrer der blumigen Fallberichte meines Freundes Watson.“

„Was Sie nicht sagen, Mr. Holmes. Ihr Ruhm eilt Ihnen scheinbar überall voraus.“ Holmes seufzte dramatisch.

„Eine Bürde ist das, mein Wertester. In London halfen mir zuletzt nicht einmal mehr die gerissensten Scharaden, um unerkannt zu bleiben. Zu oft war mein Gesicht in den Zeitungen zu sehen. Dies war auch ein Grund für meinen Rückzug ins Leben des Privatiers.“

„Und zum Zwecke der inhärenten Geruhsamkeit wenden Sie nun eine ökologische Krise in England ab und setzen sich in eine Kutsche im fernen Schwarzwald, um mit einem katholischen Priester ein paar entlaufene Bienen einzufangen“, entgegnete Brown munter.

„Sie haben wohl für alles einen Kommentar auf Lager, was?“ feixte Holmes.

„Auf vieles, Mr. Holmes. Aber jetzt lassen Sie uns die Pferde festbinden und dann, wie ich hoffe, ein vorzügliches Mahl im Gasthaus Krone einnehmen.“

Die beiden britischen Gentlemen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, ließen es sich an diesen Abend gutgehen. Nur vereinzelt sprachen sie über den Fall, der sie heute zueinander geführt hatte. Ihre Themen streiften die politischen Wirren der Zeit und gesellschaftliche Nöte, die gerade in den großen Städten um sich griffen. Beide teilten die Ansicht, dass eine breit angelegte Bildungskampagne dazu beitragen könnte, allen Bürgern gleichberechtigte Chancen im Leben zu ermöglichen.

„Wissen Sie, dass die Bürger Seebachs sich unlängst zwischen dem Bau einer Kirche oder dem einer Schule entscheiden mussten?“, fragte Brown.

„Nun, offensichtlich haben sie die klügere Wahl getroffen“, meinte Holmes knapp.

„Das meine ich auch, Mr. Holmes. Die Schule war erst einmal wichtiger. Jedoch macht sich das Fehlen eines Gotteshauses bei einer frommen Bevölkerung auf vielfältige Weise bemerkbar. Den Leuten hier fehlt ein Fundament in ihrem Leben. Im Nachbarort fühlen sie sich wie Fremde, wie Bittsteller, die um die Gnade des Höchsten bei ihren Mitmenschen zu betteln haben. Viele hier arbeiten hart, um sich und die ihren zu ernähren. Sie würden es vielleicht mit einer kulturellen Neigung vergleichen, eine Kirche zu besuchen. So stellen Sie sich einmal vor, Ihnen würde der Besuch von Konzerten oder Museen verwehrt. So empfinden die Menschen hier auch. Nur, dass ihre kulturelle Neigung gleichzeitig auch heilsbringend für ihr Seelenleben ist.“

„Sie unterschätzen ein wenig meine Berührungspunkte bei Glaube und Religiosität. Sicher, Religion spielt in meinen Leben keine übergeordnete Rolle. Dennoch besuchte ich zu Collegezeiten ebenso anglikanische Gottesdienste. Ich befasse mich seit einigen Jahren zudem ausgiebig mit Theologie und Exegese. Die Philosophie mahnt jeden von uns, sich selbst nicht für die Krone der Schöpfung zu halten. Dass dieses Streben nach einer jenseitigen Kraft jedoch einer exklusiven Kultstätte bedarf, leuchtet mir, ich sage es offen, nicht recht ein.“

„Nun, das hat etwas mit dem Geistlichen zu tun, nicht mit dem Geist des Menschen. Der Gottesdienst oder die Heilige Messe sind mystische Symbole, die Gott im Leben der Menschen leibhaftig machen.“

„Eine Art Semiotik?“ Brown nickte.

„In gewisser Weise, ja. Nur versprechen Liturgie und vor allem die Eucharistie den Gläubigen noch etwas Höheres, das über reine Symbolkraft hinausgeht.“

„Hier sprechen Sie von der Wandlung, Father.“ Holmes‘ Stimme war zum Flüsterton herabgesunken.

„Ganz genau. Was sagt uns denn die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut? Nun, es kommt zum Ausdruck, dass es Dinge im Himmel und auf Erden gibt, die jenseits unserer Wahrnehmung liegen. Wir können sie weder sehen, noch anderweitig greifen. Trotzdem sind sie real. Obwohl ein Christ an diese Wahrheit glaubt, benutzt er dennoch Steine, Mörtel und Balken, um seine Kirche zu erbauen, anstatt sich vorzustellen, eine alte Scheune sei eine Kathedrale. Sehen Sie, es geht beides. Der Glaube ist die Hoffnung auf unendliche Mannigfaltigkeit im Universum, auf einen verborgenen Sinn, der sich erst dann erschließt, wenn man ihn sucht.“ Holmes sann über das Gesagte nach und befasste sich derweil anmutig mit der Nachspeise, einem großen Stück Schwarzwälder Kirschtorte, die ihm der Priester anempfohlen hatte.

„Ich gebe Ihnen recht, Father, diese Torte gleicht einem Traum. Erinnern Sie sich noch daran, dass auch Sie mir versprachen, eine hiesige Köstlichkeit probieren zu wollen?“

„Diesen Branntwein, der aus Pferdefutter hergestellt wird, meinen Sie?“

„Genau diesen, wenn auch eine solche Beschreibung der Exzellenz dieses Produkts keinesfalls gerecht wird. Ober, bringen Sie uns doch eine Flasche Rossler und zwei Gläser“, rief Holmes dem Herrn am Tresen zu.

Kurz darauf wurde Ihnen eine Flasche gebracht. Holmes goss die kristallklare Spirituose in die Gläser. Brown schnupperte argwöhnisch am Glas und rümpfte bereits die Nase.

„Das riecht wie purer Alkohol ohne Geschmack. Sind Sie sicher, dass hier nicht einfach die Früchte vergessen wurden und man kurzerhand Ethanol in die Flaschen gefüllt hat?“

„Probieren Sie doch lieber, als sich in Ihren Vorurteilen zu verstricken“, wies Holmes ihn augenzwinkernd an.

„Bei allen Heiligen, wie stark ist das denn?“, keuchte Brown nach dem ersten zaghaften Schluck; sichtlich bemüht, nicht vom Stuhl zu kippen. Sein Tischnachbar studierte das Flaschenetikett.

„Ich glaube, dieser liegt bei 50 % vol. Es gibt noch stärkere, aber ich meine, dieser tut‘s auch“, sagte er aufgeräumt. Brown nickte. „Abgesehen von der Tatsache, dass ich etwas in Sorge um meine inneren Organe bin, goutiert er mir doch tatsächlich sehr. Eine Note Enzian meine ich herauszuschmecken.“

„Nicht wahr? Genehmigen wir uns ein letztes Glas und dann fahren wir in mein zeitweiliges Heim in der Ferne. Morgen kommen wir der Lösung der ärgerlichen Sache vielleicht schon näher, guter Father.“

„Gewiss, mein guter Holmes.“

Aus dem ‚letzten Glas‘ wurde dann doch noch die ganze Flasche, was dazu führte, dass die beiden reichlich Mühe hatten, den Pferden am späten Abend den rechten Weg zu Holmes‘ Unterkunft zu weisen. Beseelt vom Geist aus der Flasche sangen die beiden Edelmänner auf dem Weg hinauf britische Seemannslieder und retteten mehrfach den König, wahlweise auch die Königin.

Am nächsten Morgen – der Hahn krähte hier wortwörtlich – schleppte sich Father Brown mühsam in das Badezimmer des kleinen Appartements oberhalb der Schnapsbrennerei. Der Schädel dröhnte ihm ein bassintensives Solostück von den Sünden des Vortages. Als er das Wohn- und Esszimmer betrat, saß Holmes bereits munter bei Kaffee und Toast am Tisch und reichte seinem neuen geistlichen Berater ein kleines Zettelchen. Es war mit unverständlichen Formeln und schwer leserlichen Skizzen bekritzelt. Brown setzte sich und sog den Frühstücksduft ein.

„Sehen Sie sich das an, Father. Mir ist heute Nacht ein kleiner Durchbruch gelungen.“

„Was die verschwundenen Bienen angeht, Holmes?“, gähnte Brown sein Gegenüber an.

„Sie vertragen wohl nur Messwein, mein Bester?“, schmunzelte der große Denker. „Nein, natürlich geht es mir um das Bienensterben in unserer Heimat. Es ist tatsächlich eine Milbe, die sich in den Tracheen der Bienen einnistet. Ob diese Tiere nun selbst verantwortlich für diese Misere sind oder den Viren oder Bakterien lediglich als Wirt dienen, vermag ich noch nicht zu sagen. Klar ist aber: Besiegen wir die Milben, sei es auch nur durch eine resistente Züchtung, dann beseitigen wir auch unser Problem. Mir irrlichterten bereits weitaus komplexere Erklärungsmodelle durch den Kopf. Manchmal erweist sich jedoch die naheliegende Lösung als die korrekte.“

„Zebras, Mr. Holmes. Es verhält sich wie mit den Zebras.“ Holmes starrte über den Frühstückstisch.

„Bitte was?“

„Kennen Sie nicht diesen Spruch: Wenn man Hufgetrappel hört, sollte man zuerst an Pferde denken, anstatt gleich von Zebras auszugehen?“

Holmes sprang auf, ließ alles stehen und liegen und hieß seinen neuen Freund, ihm zu folgen. Draußen angekommen tränkte er die Pferde – was er besser am Vorabend getan hätte – und erklomm sogleich den Kutschbock. Von diesem ungebremsten Elan war der Geistliche wie erschlagen. Mühselig kroch er neben Holmes. Wenn er bedachte, dass er gut und gern halb so alt war wie sein illustrer Begleiter, fragte er sich doch, ob er es nicht einmal mit Sport versuchen solle. Zudem hatte dieser Holmes die andere Hälfte der Schnapsflasche geleert. Dem Herbergswirt, der gerade auf dem Weg zum Schafstall war, fiel Father Browns berghoher Kater offenbar auch auf.

„Mit´m Rusch muesch umgi kinne“, rief er ihm im dazu passenden Bariton hinterher.

Holmes jagte die Gäule gen Westen. An diesem Morgen wirkten die Felder und Wiesen des Nordschwarzwaldes gleich noch schöner als an den Tagen zuvor. In der Nacht hatte es geregnet und an den Gipfeln der waldbedeckten Berge hingen noch immer die Fetzen jener Wolken, welche die ersehnte Abkühlung gebracht hatten. Im milden Licht des Morgens erstrahlte alles in saftigem Grün. Auf den Gehöften rund um den Busterbach – Brown hatte gestern noch seine Karte befragt und Holmes mitgeteilt, dass es ohnehin unwahrscheinlich gewesen wäre, dass ein Bach im Schwarzwald einen englischen Namen wie Booster tragen würde – regte sich wieder das Leben. Bäuerinnen fütterten ihre Hühner, ihre Männer machten sich auf, die Felder zu bewirtschaften. Als das Duo sich dem Tal näherte, hörte man bereits die Sägen und Äxte der Sägemühle am Grimmerswaldbach am Holz beißen und nagen. Wenig später erreichten sie jenes Dörfchen, aus dem sie gestern Abend aus bekannten Gründen beinahe nicht mehr hinausgefunden hätten. Father Brown ging zunächst davon aus, Holmes wolle Herrn Schnurr noch einen Besuch abstatten, da ihm vielleicht eine Idee bezüglich der entwendeten Bienen gekommen sei. Nachfragen diesbezüglich ignorierte der gelehrte Detektiv jedoch gänzlich. Brown konnte sich anhand der Aufzeichnungen über die Fälle des Sherlock Holmes, die er bereits als Kind gelesen hatte, aber zum Glück gut daran erinnern, wie diese Charaktereigenschaft Holmes‘ Biograph immerzu Kopfschmerzen bereitet hatte. Er müsste es also kaum persönlich nehmen. Kopfschmerzen hatte er sowieso schon.

Holmes hielt direkt an jener Stelle, an der sie am gestrigen Tag Holmes kleinen Fan getroffen hatten, den Sohn des Herrn Schnurr. Die beiden sprachen bei der Dame des Hauses vor, die soeben mit frisch gewaschener Wäsche auf dem Weg zu den Leinen war.

„Guten Tag, die Dame. Mein Name ist Sherlock Holmes und das ist Pfarrer Brown. Wir sind Gäste hier in Seebach und würden gern mit den Kindern des Hauses sprechen.“

Die freundliche, wenn auch reichlich irritierte junge Frau Bohnert konnte ihren unerwarteten Besuchern jedoch nicht weiterhelfen. Ihre drei Buben seien bereits in der Schule, der kleine Leo vom Hofe der Schnurrs hätte sie vor einer halben Stunde abgeholt. Ihr Lehrer Herr Schmälzle könne es überhaupt nicht leiden, wenn sie zu spät kämen, und dann wäre da ja noch diese Frau Fischer, sie verlange gar von den Kindern, dass sie nach Schulschluss noch aufräumten.

Holmes zeigte sich ein wenig enttäuscht, ließ sich aber nicht vom Wege abbringen. Er fragte Frau Bohnert, ob sie Bienen hielten. Dies verneinte sie, es würde sich nicht lohnen, da die Bienen der anderen Gehöfte genug für die Bestäubung ihrer wenigen Obstbäume täten.

„Nun weiß ich bereits durch Ihren werten Herrn Gatten, dass sie allerhand Zugpferde ihr Eigen nennen dürfen. Halten Sie aber auch Ponys?“ forschte Holmes nach.

„Jo, für de Strizies.“

„Wie meinen Sie, meine Teuerste?“

„Für die Kinder“, erwiderte die Dame im besten Hochdeutsch, das ihr möglich war.

„Heureka, Father! Ich habe es!“, rief Holmes erregt.

Er ließ sich von der Frau die Erlaubnis geben, sich den Hof näher ansehen zu dürfen. Brown und Holmes examinierten nun also jede kleine Ecke des Gestüts.

„Wenn Sie die Ponys suchen, sind wir hier sicher falsch, mein guter Holmes. Außerdem hätten Sie die gute Frau Bohnert doch einfach fragen können.“

„Ich suche keine Ponys, sondern meine Bienen.“

„Ich verstehe. Und wie kamen Sie auf die Ponys?“

„Durch Sie, mein lieber Father. Ihre Zebras wiesen mir den Weg.“

„Jetzt leuchtet es mir ein“, rief Brown ob des eigenen unbeabsichtigten Geistesblitzes. „Es war kein Esel, den Herr Schnurr hörte, sondern ein Pony.“

„Ganz richtig und es liegt ja auch nahe, an Esel zu denken anstatt an Ponys, wenn man Landwirt ist. Die Ponys, die es hier gibt, werden laut Frau Bohnert zur Freude der Kinder gehalten. Nicht, um Lasten zu bewegen. Ein Bauer denkt da praktischer. Für ihn war der Esel das Zebra aus Ihrer Analogie, wo es doch naheliegender war, an ein Pony zu denken. Rührte das Hufgetrappel also vom Reittier der oder des Täters, dann liegt der Verdacht nahe, dass es sich um die Kinder handelt. Wo liegt nun aber die Verbindung vom Hause Schnurr zum Hause Bohnert?“, fragte Holmes seinen neuen Freund überaus suggestiv.

„Bei den Kindern“, erwiderte Brown darauf stolz.

„Ganz richtig. Die besten Freunde des kleinen Leo sind die drei Söhne der angenehmen jungen Frau, welche wir gerade befragen durften. Nur über das Motiv bin ich mir noch nicht ganz im Klaren.“

„Hier kann ich Ihnen vermutlich aushelfen, Holmes.“

„Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar“, sagte Holmes erwartungsvoll.

„So, wie ich Sie gestern für einen verirrten Baumkundler hielt, weil mir aufgrund meiner diffusen Abneigung gegenüber Bienen die Augen vor dem Offensichtlichen verschlossen waren, fällt es Ihnen aufgrund Ihrer Aversion vor Ihrer Bekanntheit schwer, auf des Rätsels Lösung zu kommen.“

„Jetzt bin ich aber gespannt“, sagte Holmes und ließ sogar derweil von seiner Suche ab, um dem Priester zu lauschen.

„Da Ihnen Ihre Berühmtheit ein Dorn im Auge ist, haben Sie sich bestimmt noch nie damit befasst, zu welchen Taten die Verehrung für eine Person andere treiben kann. Der kleine Leo wusste gewiss davon, dass sein Vater Ihnen ganz bestimmte Bienen versprochen hatte. Er erzählte später sicher auch seinen Freunden vom illustren Besucher aus England, vielleicht gab er ihnen sogar einige Geschichten Ihres Freundes Dr. Watson zu lesen. Das weckte unzweifelhaft die Begeisterung jener Kinder für die Kriminalistik im Allgemeinen und Ihre Ermittlungsmethoden im Speziellen. Ob Leo nun selbst darauf kam oder ihn seine Freunde darauf brachten, sei hier dahingestellt. Klar scheint nur, dass sie einen Plan entwickelten, den großen Detektiv Sherlock Holmes einmal herauszufordern. Leo lenkte seinen Vater gewiss ab, um seinen Komplizen die Gelegenheit zu geben, die Bienenboxen zu entwenden. Dass sie dies mithilfe eines Ponys aus dem eigenen Stall taten, wissen wir ja bereits.“

„Sie sehen mich sprachlos“, entgegnete ein sichtlich perplexer Holmes. „Ich bin es nicht gewohnt, in diesen Bahnen zu denken. Sich derart auf die charakterlichen Elemente eines Falls einzulassen erschien mir zumeist als hinderlich.“

„Nun, diese charakterlichen Elemente, wie sie sie nennen, bieten mir für gewöhnlich die tiefsten Einblicke in die Bedürfnisse meiner Mitmenschen. Diese Bedürfnisse führen dann zu Absichten, die wiederum in Taten vielfältigster Art münden. Dies ist die Methode, nach der ich meine Ermittlungen zu führen pflege und von Zeit zu Zeit führt sie mich auch zum Erfolg.“

„Meine Hochachtung, Hochwürden! Sie haben soeben selbst einen neuen Bewunderer gewonnen. Vielleicht sollte ich ab und an meine Scheuklappen abnehmen, um somit schneller das Pony zu erblicken, wenn ich an Esel denke.“

Es kam so, wie erwartet. Holmes entdeckte wenig später seine Lochboxen hinter einen großen Hortensienstrauch am Rande des Grundstücks. Die Bienen waren wohlauf und hatten noch mehr als genug Nahrung, um die Fahrt den Rhein hinauf und über den Ärmelkanal überstehen zu können. Sherlock Holmes machte sich sogleich auf den Weg nach Ottenhöfen, um die Bienen auf ihre überfällige Reise zu schicken. Father Brown legte inzwischen zu Fuß den kurzen Weg ins Dorf zurück und holte in einem Gasthaus das ausgefallene Frühstück nach.

Für den Nachmittag hatten sich Holmes und er wieder am Pferdehof verabredet, um den kleinen Spitzbuben ihre Aufwartung zu machen. Die drei Söhne des Hofes kamen wenig später in Begleitung ihres Freundes aus der Schule und staunten nicht schlecht, als sie ihr Idol in Begleitung eines Priesters sahen. „Nun, die Herren, haben Sie diesem Mann Gottes etwas zu beichten?“, sagte Holmes süffisant und zeigte dabei auf Brown, der so viel Würde als möglich in seine priesterliche Erscheinung legte. Auf diese Ansprache hin sprudelte es aus den vier Burschen geradezu heraus. Mit einem gewissen Maß an Stolz ob ihrer Unverfrorenheit bestätigten Sie Holmes‘ und Browns Rekonstruktion der Ereignisse. Leo hatte seinen Vater tatsächlich unter einem Vorwand ins Haus gerufen, um seinen Freunden den Weg zu bahnen. Zwei ritten auf das vereinbarte Zeichen hin vom Felde her auf einen Pony ein, wobei der Dritte ‚Schmiere‘ stand. Am Ende des Berichts tadelte Holmes die Jungs für ihre Tat, um sie direkt danach ob ihres Einfallsreichtums zu loben. Zudem gab er ihnen Ratschläge, wie ihr Plan beim nächsten Mal funktionieren könne. Der Mutter redete Brown die Backpfeifen gegen ihre Söhne aus. Im Anschluss machten sich die beiden ungleichen Ermittler wieder auf den Weg zu Holmes‘ Klause.

„War es wirklich nötig, den Kindern auch noch Ratschläge für künftige Schurkereien auf dem Silbertablett zu servieren, Holmes?“, fragte ihn Brown während der Kutschfahrt.

„Man sollte Kinder niemals in ihrer Kreativität einschränken, besonders, wenn diese mit einem gewissen Maß an Intelligenz einhergeht. Wenn ich daran denke, wie viele solcher Schurkereien ich in meiner Kindheit vollbracht habe.“ Father Brown lachte.

„Wie oft sind Sie denn aufgeflogen?“

„Niemals! Darum ja meine Ratschläge an die Burschen. Sie müssen noch ein wenig an den Details feilen.“ Brown lachte noch einmal und es echote im Tannenwald.

„Sie sind unverbesserlich, guter Holmes. Was steht denn heute noch auf unserer Agenda?“

„Nun, Father, bei mir wartet noch ein wenig Detektivarbeit bezüglich der Atemorgane englischer Bienen. Wollen Sie mir dabei zur Hand gehen? Vielleicht kommt Ihnen ja noch eine Erleuchtung hinsichtlich der Beweggründe der verdammten Milben? Später findet sich sicher noch eine Flasche Rossler in der Brennerei, die unter unseren Zimmern befindlich ist.“

„Um Gottes willen, diesmal begnüge ich mich aber mit einigen wenigen Gläsern. Mir schwirrt immer noch der Kopf von gestern.“

„So sei es, Father Brown.“

Sherlock Holmes und Father Brown blieben noch knapp zwei Wochen in Seebach. Der Father kehrte am nächsten Tag wieder in sein Hotel am Mummelsee zurück und bemühte sich fortan wieder intensiver um die Seelen der Bergarbeiter im nahen Steinbruch. Holmes ging hin und wieder auf Exkursion, um der ominösen Unterart der italienischen Honigbienen habhaft zu werden – leider ohne Erfolg. Seine Forschungen zum englischen Bienensterben führte er weiter – später auch in der Heimat. Zusammen mit einem deutschen Mönch, welcher in einem englischen Benediktinerkloster in Buckfast apidologische Forschungen betrieb, gelang ihm einige Jahre später der erhoffte Durchbruch. Auf den Ruhm für seinen Beitrag an dieser Leistung verzichtete er – ganz wie es ihm entsprach – jedoch gänzlich.

Aller paar Tage trafen die beiden Ermittler sich jedoch auf einen Rossler in Holmes‘ Herberge oder am Mummelsee. Am vorletzten Tag ihres Aufenthalts bewerkstelligten sie sogar noch den Aufstieg zu Hornisgrinde. Im Hochmoor des langgestreckten Bergrückens fanden beide, was ihnen entsprach: Der emeritierte Detektiv entdeckte zahlreiche seltene Insekten, Brown zeigte sich begeistert von der Aussicht und erfreute sich an der Flora des Moors. Die Hitze der Anfangszeit war mittlerweile verflogen und der mystische Schwarzwald zeigte eindrucksvoll, warum sich so viele Sagen um ihn rankten. Beide verloren trotz ihrer zutiefst britischen Seele ein Stück weit ihr Herz an diesen Ort mit seinen dunklen Wäldern, den hohen Bergen und noch höheren Prozenten in den lokalen Spirituosen. Am meisten sollten den beiden allerdings die herzlichen Menschen in Erinnerung bleiben, die diese malerische Gegend zu etwas ganz Besonderem machten.

Der katholische Priester und der emeritierte Meisterermittler hielten ihren Kontakt, solange Holmes lebte. Wenigstens einmal im Jahr besuchten sie sich gegenseitig in Sussex oder Essex – importierter Topinamburschnaps durfte dabei ebenso wenig fehlen wie die Diskussion über philosophische Sachverhalte. Oft fiel dabei die Rede auf die Tage ihres Kennenlernens in den grünen, ursprünglichen, alterslosen Tiefen des schönen Schwarzwaldes.

Mein Dank gilt aufs herzlichste der Gemeindeverwaltung von Seebach und Bürgermeister Reinhard Schmälzle, der mich mit Geduld und großer Freundlichkeit mit allerlei Informationen über die Historie Seebachs versorgt hat. Zudem möchte ich der Redaktion des `Achertäler Heimatboten´ um Frau Angelika Neumann und Herrn Otmar Schnurr danken, denen ich meine alemannischen Reden verdanke. Zudem gilt mein immerwährender Dank der unermüdlichen Anna-Sophie Naumann und ihren Künsten als Lektorin.
Für diese Geschichte habe ich für die Region typische Namen gewählt. Übereinstimmungen mit real existierenden Personen sind schlimmstenfalls unbewusst zustande gekommen.

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