HOLMES sagt: Krieg und Frieden (V)

Im europäischen Osten tobt gegenwärtig ein Krieg. Ängste keimen auf, die in der westlichen Welt längst vergessen zu sein schienen. Abgesehen von der recht eindeutig zu beantwortenden Schuldfrage, stellen sich doch die meisten viel grundsätzlichere Fragen: Wie kommt es zu Kriegen und weshalb haben manche Staatsführer immer noch nicht begriffen, dass Krieg zu führen etwas mit Versagen zu tun hat? 

Diesen und ähnlichen Fragen widme ich mich im neusten Teil meiner „Viktorianischen Kolumne“, die man im Konvolut mit vielen anderen geistreichen Texten im aktuellen „Baker Street Chronicle“ auch als Printversion bestellen kann: BSC III 2022

Holmes sagt: Krieg und Frieden 


Im viel zu heißen, zähflüssigen Frühsommer des Jahres 1882 versetzte mich eine Charaktereigenschaft meines Wohngenossen zunehmend in Rage. Beinahe jeden Morgen trug sich ein Spiel zu, dass man mit Fug und Recht auch als „Küchentischkrieg“ hätte bezeichnen können. Dieser Kampf, der zwischen Holmes und mir ausgefochten wurde, war einer um die Morgenzeitung und trotz meiner militärischen Expertise zog ich zumeist den Kürzeren. Dies lag einerseits an meinem späten Aufstehen und zum anderen an Holmes geradezu obsessiver Studienmanier. Hatte er die Zeitung erst in seinen Klauen, gab er sie oft am Mittag, manchmal gar erst nachmittags wieder heraus. Zudem schnitt er sich häufig einzelne Passagen, Annoncen oder auch ganze Artikel heraus, die ich – die Rückseite inbegriffen – dann niemals zu Gesicht bekommen sollte. Die Folge dieses Zwists waren dann oftmals missmutige Monologe meinerseits, was mein Wohngenosse bestenfalls am Rande zur Kenntnis nahm. An manchen Tagen riss mir die Hutschnur und ich versuchte ihm die Zeitung nach stundenlangen Abwarten einfach aus der Hand zu reißen, was mir angesichts Holmes‘ katzenhafter Reflexe eigentlich nie gelang. 

Auch an diesem Tage verhielt es sich so. Diesmal schien Sherlock Holmes jedoch ganz vertieft in einen Artikel versunken und er murmelte grimmig vor sich hin. 

„Was tuscheln Sie denn so voller Unmut, Holmes?“, fragte ich, etwas lauter, als unser Abstand am Esstisch es verlangt hätte. 

„Wie bitte?“, rief Holmes, sichtlich erschrocken. 

„Mein guter Holmes, Sie zeigen sich bereits seit einigen Minuten aufs Äußerste erregt ob Ihres Lesestoffs.“ 

„Haben Sie das tatsächlich bemerkt, Watson?“, erwiderte Holmes keck. 

„In der Tat. Was zieht Sie denn heute so in den Bann?“ 

„Dieser Bericht über Seymours Besetzung von Alexandria natürlich. Haben Sie den Artikel denn nicht bemerkt, Watson?“ 

„Nicht bemerkt, Holmes?“, bellte ich. „Sie bieten mir doch seit Monaten keine Gelegenheit, die Morgenzeitung zu lesen, bevor die Nachrichten darin schon dank jener der Abendausgabe obsolet geworden sind!“ 

„Wirklich? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen, guter Watson“, gab Holmes zurück, scheinbar getroffen. 

„Was, denken Sie denn, trieb mich zu solcherlei Verzweiflungstaten, wie Ihnen gar die Zeitung aus den Händen reißen zu wollen?“ 

„Ach, Sie wollten dann wirklich selbst darin lesen?“, meinte er irritiert. 

„Ja meinen Sie denn, ich erlaube mir einen Jux, wenn ich Ihnen beinahe gewaltsam die Gazette wegzunehmen trachte?“ 

„Ehrlich gesagt, meinte ich das tatsächlich. Was weiß ich denn, was die Menschen als humorvolle Geste unter Freunden verstehen? Derlei Dinge berühren nicht eben den Bereich meiner Expertisen.“ 

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Manchmal frage ich mich, wo Sie mit Ihren Gedanken sind, Holmes. Sie können sich doch bestimmt vorstellen, dass auch ich Interesse daran habe, die Zeitung zu lesen, solange die darin abgedruckten Nachrichten noch frisch sind – zumal ich Ihnen dies auch schon des Öfteren kundgetan habe.“ 

„Nun, Watson, die tägliche Lektüre der Times und zuweilen anderer Gazetten ist für mich, den Kriminologen, von zentraler Notwendigkeit. Ich finde dort das Fundament meiner Arbeit. Dabei interessieren mich die in großen Lettern gedruckten Nachrichten von nationalem oder internationalem Interesse oft weit weniger, als die Berichte über scheinbar banale Delikte oder die zuweilen zutiefst absurden Annoncen in den Seufzerspalten. In diesen findet der geübte Analytiker jene Fäden, die er mit intellektuellem Vergnügen zu deduktiven Ketten knüpft, was ihm schier das Herz überlaufen lässt.“ 

„In Ordnung, Holmes. Wenngleich ich immer noch nicht so ganz nachvollziehen kann, was Ihnen die trivialen Geschichten oftmals geistig verwirrter Damen und Herren zu geben vermögen, muss ich Ihren Enthusiasmus dafür doch respektieren. Warum respektieren Sie aber meinen Wunsch nicht, auch ein wenig Zeit für jene Gegenstände meines Interesses erübrigen zu wollen?“ 

„Sie müssen entschuldigen, dass ich Ihren Monologen offenbar nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt habe. Wenn ich beim Studium der Tagespresse bin, neige ich dazu, alles Periphere um mich herum auszuschalten.“ 

„Peripheres wie mich?“ Ich war ein wenig gekränkt. Holmes lächelte. 

„Mein guter Watson, seien Sie bitte nicht pikiert. Wenn mein Geist sich einer Sache voll und ganz angenommen hat, könnte unglücklicherweise selbst ein Hausbrand meiner Aufmerksamkeit entgehen. Außerdem dachte ich bis heute, Sie hätten Ihr eigenes Exemplar der Morgenzeitung und würden nur um meine Aufmerksamkeit werben.“ 

Ich rieb meine Nasenwurzel. „Holmes, Sie machen es nur schlimmer damit. Ich bin doch keine Bulldogge.“ 

„Schon gut, schon gut,“ beschwichtigte er mich, „nichts für ungut. Ich werde mich in Zukunft bemühen, Ihnen Ihren Zugang zur weiten Welt und den heißersehnten Sportergebnissen nicht gänzlich zu verwehren.“ Ich nickte diplomatisch. 

„Das ist immerhin ein Anfang, Holmes. Aber jetzt sagen Sie doch, was hat Sie denn am Bericht über die Besetzung Alexandrias so missmutig gestimmt? Und um der Wahrheit Genüge zu tun: ich wusste bisher nur, dass eine englische und eine französische Flotte vor Alexandria festgemacht hat. Und wenn Sie wissen wollen, warum ich über die weiteren Ereignisse im Unklaren bin, können Sie sich diese Frage gern ersparen.“ 

„Gewiss, Watson, gewiss. Ihnen war am Abend häufig nicht danach, die morgendliche Lektüre nachzuholen. Unter einer gewissen Lethargie leiden wir ja alle einmal.“ 

„Holmes!“ 

„Schon gut, Watson. Also, was Ihre eigentliche Frage betrifft, kann ich nur sagen: Jener Artikel, der meinen Zorn so erregt hat, war außerordentlich gut geschrieben. Der Autor beherrscht unsere Sprache außergewöhnlich gut. Was aber den Inhalt betrifft, muss ich gestehen, dass er mir all jenes Übel vergegenwärtigt hat, dass unsere Menschheitsfamilie seit Zeitgedenken martert.“ 

„Ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung, Holmes. Diesen Urabi sogar zum Pascha zu ernennen und sich damit dem kriminellen Druck zu ergeben, den er mit seiner Söldnerarmee erzeugt hat, ist wirklich eine Schande und hat die Unruhen und den Widerstand innerhalb der ägyptischen Bevölkerung gegen die zivilisierte Welt noch befeuert.“ 

„Sie wissen, ich schätze Sie über alle Maßen, zudem respektiere ich Ihren Dienst für unser schönes Land. Dennoch muss ich Ihnen leider sagen: Sie geben gerade nur Humbug von sich!“ 

„Ich habe mich wohl verhört, mein Freund?“, rief ich voller Wut. 

„Nein, dass haben Sie nicht. Aber es ist gar nicht böse gemeint. Viele sehen die Sache so wie Sie, der Autor inbegriffen. Es ist leicht, ein Ereignis nur vom augenblicklichen Standpunkt aus zu betrachten, dabei aber die vielen kleinen Verästelungen zu übersehen, die zum tragischen Endpunkt geführt haben. Kriegerische Auseinandersetzungen stellen letztlich immer ein Versagen bei allen Beteiligten dar, einen klügeren und für alle Seiten tragbaren Weg hin zur Bewältigung der maßgeblichen Komplikationen zu finden. Je mehr Parteien beteiligt sind, desto komplexer erweist sich der Lösungsweg. Je vielschichtiger die einzelnen Probleme, umso länger zieht sich der Prozess. Es ist vielmehr Aufgabe der beteiligten Politiker und Diplomaten, jene Verwicklungen, die im schlimmsten Fall zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen könnten, vorzeitig zu identifizieren und zu lösen. Oftmals werden in unserer Gesellschaft jene bejubelt, die aus falsch verstandenem, voreiligem Mut zu den Waffen greifen. Nicht diejenigen, die in Klugheit bemüht sind, diesen Schritt zu verhindern.“ 

Ich staunte nicht schlecht. „Sie offenbaren sich mir also als Pazifist, Holmes?“ 

„Aber natürlich, Watson! Wer von klarem Verstand auf dieser schönen Welt würde in sich denn keinen Pazifisten erkennen? Sollten wir unseren kleinen Zeitungsdisput mit Langschwertern oder Revolvern lösen, weil wir nicht imstande waren, darüber zu sprechen, wie wir es gerade getan haben? Hätten wir beide Kinder, wünschten wir Ihnen nicht eine friedliche Existenz, ohne die Furcht, ihr Zuhause würde bei Nacht vom Geschoss einer Bordkanone der HMS Alexandra in Schutt und Asche gelegt? Krieg geht ungleich mehr zu Lasten derer, die für seine Verursachung keine Mitschuld tragen, als jener, die ihn leichtfertig und aus geistiger Trägheit heraus verschulden.“ 

„Dieser Ahmed Urabi bedrohte mit seinen illegitimen Truppen doch sogar den Suezkanal“, warf ich ein. „Sehen Sie hier denn keine Notwendigkeit für das Eingreifen der französisch-britischen Flotte, um die Stabilität der Region wiederherzustellen? Immerhin stellt die Verlässlichkeit dieses Gebiets eine unauslöschliche Voraussetzung für den Welthandel und damit auch für den Wohlstand der ganzen Welt dar.“ 

„Sehen Sie, guter Watson, solche Parolen – wenn sie denn auch nicht ganz ohne Berechtigung sind – stellen die Versimplifizierung des Umstandes dar, weswegen ich nie einen Dienst am Vaterland in Betracht gezogen habe; anders, als Sie es löblicherweise getan haben. Derartige Vereinfachungen werden der Komplexität solcher Szenarien nicht im Ansatz gerecht. Wie ich unlängst erfahren habe, sind Sie in den letzten Wochen nur selten dazu gekommen, die Zeitung zu lesen. Darum möchte ich Sie kurz auf den neuesten Stand bringen. Urabi wurde vor einigen Wochen – unter dem Druck der englisch-französischen Flotte – vom Khediven abgesetzt. Ihm gelang es wenig später jedoch, die Macht wiederzuerlangen. Der Khedive verlor aufgrund der Unruhen, die in der Ermordung des britischen Konsuls mündeten, jeglichen Einfluss. Urabi ließ Alexandria darauf mit Batterien gegen Beschuss von See bewaffnen. Admiral Seymour stellte den Ägyptern darauf ein Ultimatum: Die Stadt würde unter Beschuss genommen, sollten die Geschütze nicht entfernt werden. Darauf zogen sich die Franzosen zurück. Sie wollten wohl nicht in einen Kampf verwickelt werden. Vor wenigen Tagen brach das Unheil doch noch herein und wie zu erwarten stand, hatten Urabis Truppen keine Chance gegen die geballte Feuerkraft der Flotte ihrer Majestät. Urabi ist wohl ins ägyptische Landesinnere geflüchtet und nachdem es zwei Tage lang in Flammen stand, wurde das altehrwürdige Alexandria von Landungstruppen besetzt. Weiß Gott, wie viele Menschen dort ihr Leben gelassen haben, die mit der Sache nichts zu tun hatten oder aber Urabi nur aus Angst heraus Gefolgschaft gelobt haben. Sehen Sie, worauf ich hinaus möchte?“ Ich war ernüchtert. 

„Ich denke schon, Holmes. Die unschuldigen Opfer eines Krieges sind immer dessen größte Tragödie. Manchmal jedoch, sind kriegerische Mittel die einzigen verbliebenen Optionen, größeres Übel abzuwenden.“ 

„Wer sagt das, guter Watson? Wer überblickt denn sämtliche Verästelungen einer geopolitischen Krise? Das Ganze begann mit einem verschwendungssüchtigen Khediven, einer unentschlossenen und windschiefen diplomatischen Vertretung und einer unter Hunger und Entbehrungen gezeichneten ägyptischen Bevölkerung. Vor Jahren, wenn nicht gar vor Jahrzehnten, wurden die Fundamente dieser Krise gelegt und alle Beteiligten setzten in ihrer Lethargie Spaten- um Spatenstich. Kriege erscheinen mir oft nicht einfach als letzter Ausweg, wenn die letzten, höchsten Wege der Diplomatie versagen. Sie sind vielmehr ein Manöver, das über schlechte Diplomatie hinwegtäuschen soll. Wer leidet jetzt aber zuallererst unter den Ereignissen dieser Tage? Nun, ich will es Ihnen sagen. Es sind jene, die auch vor Jahren schon unter den egozentrischen Zielen des Vizekönigs Ismail Pascha zu leiden hatten. Es ist die Mehrheit der Ägypter. Die, die von den Ambitionen ihrer Oberen nichts wissen wollen, jedoch für sich und ihre Familien ein sicheres und wohlbehaltenes Leben anstreben. Ich sagte es bereits: Aus meiner Sicht werden in unserer Gesellschaft die Mutigen viel zu oft gerühmt, die Umsichtigen und Klugen aber - die hört kaum einer.“ Ich schwieg. 

Die Eröffnungen meines Freundes hielten mich an, etwas zu tun, was ich ob meiner militärischen Vergangenheit diesbezüglich kaum getan hatte. Ich hinterfragte im Inneren, was einfach zu akzeptieren ich immer angeregt worden war: Die Rechtfertigung von Kriegen. 

Die Worte meines Freundes verfehlten – wie üblich – ihre Wirkung nicht. Wie oft habe ich in meiner Armeezeit selbst allerlei Argumentationen meiner Vorgesetzten gehört, warum diese oder jene Stadt nun zum Ziel militärischer Operation erkoren worden war. Diese Reden entsprangen nur selten persönlichen Überzeugungen, sondern stammten wiederum von deren Vorgesetzten. Kaum einmal hinterfragte ich diese Doktrin und so ging es sicher den meisten meiner Kameraden. Könnte man allerdings mit einer durchweg mitdenkenden und vor allem mitfühlenden Armee noch Kriege führen? ‚Wer anfängt, einzelne Befehle zu hinterfragen, hinterfragt irgendwann, ob er auf der richtigen Seite steht,‘ eröffnete mir einmal ein übellauniger Major. Im Militär ist dies etwa das Schlimmste, was einem Soldaten unterstellt werden kann: Sympathie für die Umstände der Gegner weicht nur die eigene Entschlossenheit auf, ihnen entgegenzutreten. Nein, ich denke, ein mitdenkender oder gar mitfühlender Soldat ist kein Soldat und eine mitfühlende Armee ist keine Armee, sondern die Wohlfahrt. Über die Notwendigkeit von Streitkräften zur Bewahrung des Friedens und auch zur Intervention in Krisen besteht für mich jedoch nicht der kleinste Zweifel. Wenn ich aber bedenke, wie oft in den letzten hundert Jahren das Königreich in diese kleinen, aber für die einheimischen Menschen lebensbedrohlichen Scharmützel geraten ist, musste ich meinen Freund doch zustimmen: Darin nämlich, dass die Diplomatie hinter der Entwicklung immer neuer Waffentechnologien ihre eigene Fortentwicklung vernachlässigt hatte. 

Holmes und ich sprachen den restlichen Tag nur noch über Alltägliches und mühten uns, das Thema nicht erneut anzuschneiden. Am nächsten Morgen, ich war gerade mit meiner Toilette fertig geworden, betrat ich unser gemeinsames Wohnzimmer und traf auf einen gut gelaunten Holmes, der mir zu meiner größten Überraschung die aktuelle Times unter die Nase hielt. 

„Nanu, Holmes. Hat unser Gespräch etwa Früchte getragen und Sie überlassen mir heute sogar freiwillig den Vortritt?“ 

„Das kann ich nicht gerade behaupten, mein lieber Doktor. In Wahrheit bat ich gestern noch die gute Mrs. Hudson, in nächster Zeit zwei Ausgaben für uns zu ordern. Mir erschien diese Lösung als die diplomatischste von allen, was meinen Sie? Ich muss nämlich sagen, dass ich mit Revolvern weit weniger praktische Übung besitze als Sie, weswegen ich in einem Duell sicher den Kürzeren ziehen würde.“ Ich grinste. 

„Hier stimme ich Ihnen voll und ganz zu und Sie sehen diesbezüglich auch in mir einen Pazifisten.“ 

„Nur diesbezüglich, mein Freund?“ 

„Nun, was soll ich sagen? Nein, nicht nur hier“, gab ich sachte zurück. „Ich habe viel über unser gestriges Gespräch nachgedacht. Es stimmt, dass mit der Option Krieg viel zu leichtfertig umgegangen wird. Wer wüsste dies besser als ich? Meine Schulter plagt mich heute noch und wegen der Folgen des Typhus kann ich bis heute nicht ständig als Arzt praktizieren. Und wenn ich bedenke, wie viel Leid über die Afghanen gekommen ist, ist mir immer noch ganz übel. Den Ägyptern geht es jetzt sicher nicht viel besser. Sicher benötigen die Diplomaten aller Seiten auch eine gehörige Infusion neuer Ideen und Ansätze. Andererseits bestanden in diesen Ländern und anderen, die heute zum Empire gehören, auch vorher schon große Probleme. Hier muss man doch zugutehalten, dass die Krone von England sich dieser Probleme annimmt und hiermit auch schon viel Gutes bewirkt hat.“ 

„Gewiss, politisch gab es von Zeit zu Zeit löbliche Intensionen. Die wirtschaftlichen Begehrlichkeiten der Kolonialmächte haben allerdings rasch jeden guten Vorsatz in die Themse befördert. Außerdem: Wer sagt uns denn, dass unsere Art zu leben und unsere Ideale auch denen der Menschen aus Übersee entsprechen? Was würden Sie sagen, wenn eine ausländische Macht in England einmarschierte, Finanzen und die Politik umstülpte, die Königin zur Vizekönigin degradierte, nur unter dem Vorwand die Kriminalität im East End zu bekämpfen? Wer hat hier mehr zu gewinnen, die Engländer oder die ausländischen Besatzer? Bitte glauben Sie mir, ich bin stolz auf unser Empire. Dennoch muss ich nicht alles gutheißen, was es auf dem Globus anstellt. Noch viel weniger kann mir gefallen, was der König der Belgier im Kongo tut, welche unsagbaren Verbrechen er auftürmt, um sich zu bereichern. Wäre er nicht König, man würde ihn wegen organisierter Kriminalität verhaften und einen Kopf kürzer machen.“ Holmes schrie jetzt beinahe, am Kulminationspunkt seiner Aufzählung in Rage. 

Es liegt nicht in meinem Wesen, über Autoritäten wie Könige in gleicher Art zu urteilen. Dennoch konnte ich seine Missbilligung verstehen; selbst, wenn nur einiges zutrifft, was man über die Zustände auf dem Privateigentum des angeklagten Monarchen hört. Trotzdem war mir gerade mehr daran gelegen, Holmes‘ Stimmung zu heben, als das Thema weiter zu vertiefen. 

„Sie haben unzweifelhaft recht, mein Freund. Was halten Sie davon, wenn wir uns jetzt erst einmal einen starken Kaffee und ein wenig Tabak gönnen und uns gemeinsam der Lektüre unserer Zeitungen widmen? Vielleicht findet sich darin etwas, das uns auf andere, bessere Gedanken zu bringen vermag.“

„Ja, die Menschheit verschließt gern die Augen vor dem Übel, das sie umgibt“, gab Holmes trocken zurück. „Und bei mir fragen sich die Leute seit Jahren, warum ich so bar jedes Mitgefühls und jeder Anteilnahme bin.“ 

„Holmes, so war das nicht gemeint.“ 

„Das meine ich nicht. Zumindest nicht vorrangig. Guter Watson, der Grund für meine zuweilen barschen Reaktionen auf emotionale Krisen bei meinen Mitmenschen – vielleicht ist Ihnen das schon aufgefallen – rührt von ihrer oft banalen Trivialität, wenn man das existentielle Leid manch anderer Kreaturen auf dieser Welt bedenkt. Und zum anderen erscheint es mir in Anerkennung meiner eigenen Unfähigkeit, die gewichtigsten aller Probleme zu lösen, oft leichter, sie einfach zu ignorieren. Wütend machen mich dagegen jene, die diese Missstände kennen; über die Macht verfügen, sie zu beeinflussen, und dies aus Lethargie, Gleichgültigkeit, Gier oder blanker Dummheit nicht oder nur unzureichend tun. Wenn man wie ich, alle Fäden eines dynamischen Systems zugleich erfasst und erkennt, wie sie sich gegenseitig beeinflussen, benötigt man zwangsläufig Schutzmechanismen, um an der bloßen Fülle der Eindrücke nicht zu zerbrechen. Wie viel mehr müsste ich mich dann vor dem Elend dieser Welt schützen?“

Holmes‘ Blick verlor sich in dem Stück Sommerhimmel, das bläulich durchs Fenster schimmerte. Er seufzte und sah wieder herüber. „Also, Sie haben Recht. Muntern Sie mich ruhig auf und lenken Sie mich ab. Wenn schon kein Fall meine düsteren Kreise stört, dann doch mein guter neuer Freund, der genug Mitgefühl aufbringen kann – selbst für mich.“ 

„Ach, Holmes. Hier ist Ihr Kaffee. Und Ihrem Wunsch nach Ablenkung leiste ich Folge mit dem Hinweis, dass Sie eben ‚banale Trivialität‘ sagten und es sich dabei allerdings um Synonyme handelt. Nicht der erste Flüchtigkeitsfehler, der Ihnen in letzter Zeit untergekommen ist, muss ich sagen“, meinte ich augenzwinkernd. Holmes nickte forschend. 

„Was die trivialen Banalitäten angeht, muss ich Ihnen zustimmen. Aber wann sollte mir den noch so ein Lapsus Linguae unterlaufen sein?“, entgegnete er mir recht irritiert. 

„Erinnern Sie sich noch an unseren Besucher von neulich?“ 

„Wir hatten einige Klienten bei uns, bitte präzisieren Sie Ihre infamen Unterstellungen!“, rief Holmes, noch immer irritiert, aber zusehends belustigt. 

„Ich denke da an Professor Salisbury, den bärtigen Gelehrten, welcher sich so furchtbar über diesen Schmierfritzen des TRUTH-Magazine aufgeregt hat.“ 

„Natürlich erinnere ich mich an diesen Gentleman, Watson. Und Sie werden vielleicht überrascht sein, aber ich entsinne mich sogar an die kleine Ungenauigkeit, derer ich mich schuldig gemacht habe. Sie müssen wissen: Es gehört zu einer meiner obersten Prämissen, ständig meine eigenen Methoden zu hinterfragen und mich stets zu verbessern. Somit ist mir selbstverständlich bewusst, dass ich den Professor fälschlicherweise der Royal Academy of Science zugeordnet habe. Eine Gesellschaft, die überhaupt nicht existiert. Zwar gibt es natürlich eine Royal Academy, allerdings dient sie den schönen Künsten. Der Professor ist selbstredend Mitglied der Royal Society, immerhin ist er als Historiker Wissenschaftler und nicht etwa Kunstmaler. So seien Sie immerzu gewiss, dass ich mich selbst in einem solchen Maße reflektiere, dass mir für gewöhnlich kaum eigene Fehler entgehen.“ Ich grinste breit.

„Meinen Sie, guter Holmes?“ 

„Ganz sicher.“ Er grinste zurück. 

„Und seit wann zählen die Geschichtswissenschaften zu den Naturwissenschaften?“ 

„Wie meinen Sie das, Watson?“ 

„In Ihrer deduktiven Eröffnung beschrieben Sie unseren Gast eingangs als forschendes Organ auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Somit sind Ihnen sogar zwei Fehler unterlaufen und den einen haben Sie noch nicht einmal bemerkt“, meinte ich stolz. 

„Das nennen Sie also Ablenkung? Mit den eigenen Fehlern konfrontiert zu werden steigert die Stimmung der meisten nicht unbedingt.“ 

„Zum Glück sind Sie nicht wie die meisten, mein guter Holmes“, gab ich mit einem Augenzwinkern zurück. 

„Zum Glück, teurer Freund.“ 


*Gemälde zu Beginn: „Krieg und Frieden“ von Otto Dix (1960) – Wandbild im Ratsaal des Rathauses Singen

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