Die Moosrose und die Güte der Vorsehung - Sherlock Holmes und der Antagonismus von Ratio und Jenseitigem

In der Sommerausgabe des 'Baker Street Chronicle' findet sich folgender Text aus meiner Feder. Der Aufsatz befasst sich mit dem alten Widerstreit zwischen Glaube und Wissenschaft - wie so oft mit starken Bezügen zum Sherlock Holmes-Kanon. Überhaupt dient mir der schrullige Meisterdetektiv sehr oft als Zugang zu Themen die mir einer Vertiefung wert scheinen.


Die Moosrose und die Güte der Vorsehung

Sherlock Holmes und der Antagonismus von Ratio und Jenseitigem



Der Baum der Erkenntnis

„Eritis sicut Deus scientes bonum et malum.1

„Ihr werdet sein wie Gott, erkennend gut und böse“, heißt es von der Schlange, als sie Eva verführt, von den Früchten des Baums der Erkenntnis zu kosten. Der hier zitierte diabolische Ausspruch lässt erahnen, dass es sich bei der Versuchung des Menschen, Gott untreu zu werden, um mehr handelt als schlichten Ungehorsam: Vielmehr implizieren diese Worte, dass der Schöpfer sich gegenüber den Menschen und anderen Geschöpfen offenbar den moralischen Primat vorbehalten hat. Des Teufels Worte beinhalten die Anerkennung des Gotteswillens, autonom festzulegen, was moralisch ist und was nicht; zu erkennen das Gute und das Böse. Durch den Verzehr2 der Früchte des Baums durch Adam und Eva ist somit metaphorisch die moralisch-ethische Loslösung des Menschen von seinem Gott gemeint.

Der Begriff der „Erkenntnis“ wird mit dem Baum in Eden jedoch oftmals sehr weit interpretiert, so als würde Gott oder auch dessen Kirche den Primat über jede erlaubte oder unerlaubte Erkenntnis beanspruchen. Gewiss, genau dies ist von menschlicher Seite des Öfteren geschehen, wenn beispielsweise Galileo Galilei oder Giordano Bruno ob ihrer Erkenntnisse und Überzeugungen durch die Kirche gestraft wurden.3 Wenngleich diese und andere Exempel auch keine Rechtfertigungen ertragen, sei trotzdem erwähnt, dass Genesis 3,5 diesen Untaten ohnehin nicht als Legitimation dienen könnte. Denn hier geht es um Moral, vielleicht um Ethik – gewiss aber nicht um Wissenschaft und Philosophie.

Der Baum dient als Symbol der Grenzen jener paradiesischen Welt, in die Gott den Menschen gesetzt hat, in der sie ein friedvolles und ewiges Leben führen. Diese Grenzen muss das Paar bei allen Freiheiten und Segnungen akzeptieren. Vom Forschen und Sinnen nach Fortschritt und Erkenntnis ist beim Gedanken an diese Schranken allerdings nicht die Rede. Vielmehr geht es scheinbar ausschließlich um die Frage, ob ein allmächtiger Schöpfer besser einschätzen kann, welche moralischen Werte für ein friedvolles und erfülltes Miteinander der Menschen vonnöten sind, als seine Schöpfung es selbst vermag. Mit dem Sündenfall opponierten die Menschen laut der Schrift nicht gegen Denkverbote, sondern gegen die Moral Gottes und dessen Primat, ebenjene festzulegen. Dem zum Trotze und obwohl die Bedeutung jener Worte recht ersichtlich ist, empfinden viele intellektuell beschlagene Menschen die Religion und auch den Gottesglauben an sich als unnötiges Korsett, gar als Bedrohung einer autarken geistigen Entwicklung. Mit Bestimmtheit lässt sich sagen, dass keine Jenseitsorientierung vonnöten ist, um Wissenschaft zu betreiben. Der Kosmos, so wie er sich uns – als Teil desselben – präsentiert, ist aus sich heraus sowie mittels der Kräfte erklärbar, die in ihm wirken. Der Erkenntnisgewinn läuft in kleinen, aber kontinuierlichen Schritten vorwärts. Wenn auch Institutionen und Personengruppen teilweise anderer Ansicht waren und teils noch sind – intellektuell sollte wiederum ein konkreter Gottesglaube dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn keine Grenzen auferlegen. Hinzukommt, dass die einzige definitive Grenze von Wahrnehmung und Evidenz, die durch die äußeren Limitationen unserer vierdimensionalen Raum-Zeit entsteht, sich für den Menschen weder mittels Diesseits- noch durch eine Jenseitsorientierung überwinden lässt. Vierdimensionale Wesen können höher dimensionierte Entitäten und Strukturen nicht erfassen, da sie selbst Teil des Systems sind, dass sie zu erfassen und schließlich zu überwinden bestrebt sind.4

Die Ursache des Kosmos bleibt somit voraussichtlich für alle Zeiten wissenschaftlich unerklärlich. Der Theismus bietet für die Frage nach der Ursache des Universums eine von mehreren Antworten, die mit moderner Naturwissenschaft jedoch keine nennenswerten Berührungspunkte besitzen – allenfalls existieren philosophische Erkenntnisse a priori, die eine Annäherung an eine ursachengebende Entität versprechen. Aus diesen Gründen fällt es so manchen geistreichen Menschen schwer, sich mit gängigen Glaubenssätzen anzufreunden. Albert Einstein und Stephen Hawking sind nur zwei große Geister der jüngeren Vergangenheit, denen gleich unzähligen gegenwärtigen Forschern ein zutiefst ambivalentes Verhältnis zum „Lieben Gott“ unterstellt werden kann – mindestens.

Sherlock Holmes zählt zu den großen Denkern, die auf den ersten Blick mit Gott und dem Glauben nicht viel anzufangen wissen. Bedenkt man all die Zeit, die Holmes seinen Gedankenkonstrukten gewidmet hat, steht er sinnbildlich für eine wachsende Minderheit von Intellektuellen, die sich im wissenschaftlichen Aufwind ihrer Epoche vom Glauben emanzipiert zu haben schienen. Zudem spiegelt er darin seinen eigenen Schöpfer Sir Arthur Conan Doyle wieder, der sich zuerst vom strengen Katholiken zur agnostischen Geistesgröße entwickelte, um im Alter gar zum Spiritismus abzudriften. Doyle und mit ihm unzählige weitere Denker der letzten Jahrhunderte empfanden Religion und oft auch den Glauben als Gegenspieler des empirischen Erkenntnisgewinns, wohl vor allem deshalb, weil sich religiöse Führer oftmals schwer darin taten, neue Entdeckungen in ihr bestehendes Weltbild zu integrieren. Sicher spielt auch der Umstand eine Rolle, dass jene Religionsvertreter ihre sinnhaften Schranken zu überschreiten suchten und Deutungshoheit über die gesamte Schöpfung ausübten, statt sich auf die wesentlichen Elemente zu beschränken, die durch die Gewissheit der Erlösung und des damit verbundenen Jenseitsglaubens definiert werden könnten. So erschienen viele neuen Einblicke in das Wesen der Natur beinahe zwangsläufig als Angriff auf den Glauben, die Kirche und auf Gott selbst. Mit dem Ansatz etwa, die Bibel im Rahmen des Weltbilds der Antike und innerhalb einer funktionellen Ontologie5 zu verstehen, anstatt die Schöpfungsgeschichte als wortwörtlichen Baubericht aufzufassen, lösen sich scheinbare Unvereinbarkeiten schnell auf. Der Rest ist Glaube, Zweifel oder Unglaube – Anrechte, die jedem offenstehen sollten.

Wer sich wie Sherlock Holmes intensiv mit dem Konvolut aus greifbaren Dingen und ihren Verästelungen befasst hat oftmals weder die Zeit noch das konkrete Bestreben, sich mit Fragen außerhalb der eigenen Wahrnehmung zu befassen. War Sherlock Holmes nun Atheist oder Agnostiker – oder keimte in ihm von Zeit zu Zeit gar ein Funken Glauben an jenseitige Kräfte auf?

Deduktion und Moosrose

„Wie alle anderen Künste lässt sich die Wissenschaft der Deduktion
 und Analyse nur durch langes und geduldiges Studium erwerben; 
auch ist das Leben nicht lang genug, um es einem Sterblichen zu gestatten, 
die höchstmögliche Vollkommenheit darin zu erreichen.6

Sherlock Holmes war ein Mann der nüchternen, an der sichtbaren Sache orientierten Deduktion. Von unspezifischen Kleinigkeiten schloss er zumeist auf besondere Zusammenhänge und nutzte dafür allgemeine Gesetzmäßigkeiten, die ihre Provenienz aus der Logik sowie den Schablonen historischer Kriminalfälle bezogen. Bei Themen, die einen Bezug besaßen zu Moral, Gesellschaft und Politik sowie zur oft zitierten Annahme, alle Ereignisse seien schon einmal passiert, griff er oftmals auf die Umkehr der Deduktion zurück: Die Induktion, bei der vom Speziellen auf allgemeinere, übergeordnete Gesetzmäßigkeiten geschlossen wird. Sein ganzes Wesen war darauf ausgelegt, dem Laplace’schen Dämon nachzueifern, indem er als perfekter Analytiker den Ausgangs- Gegenwarts- und Endpunkt eines jeden maßgeblichen Systems zu begreifen und logisch in Beziehung zu setzen suchte: „Wir könnten demnach den gegenwärtigen Zustand des Universums als die Wirkung seines vorhergegangenen Zustands und als Ursache des Zustands ansehen, der folgen wird. Eine Intelligenz, welche bekannt wäre mit allen Kräften, durch die die Natur bewegt wird, und mit der verschiedenen Stellung aller ihrer Teile in einem gegebenen Moment ... würde in ein und derselben Formel die Bewegungen der größten Körper wie des leichtesten Atoms zusammenfassen.7

Nichts verärgerte Holmes so sehr, als wenn ihm lediglich geraten zu haben unterstellt wurde: „Nein, nein, ich rate nie. Raten ist eine abscheuliche Angewohnheit; es zerstört die Fähigkeit, logisch zu denken. – Was Ihnen seltsam erscheint, ist es nur so lange, als Sie meinem Gedankengang nicht folgen oder jene kleinen Details übersehen, aus denen sich weitreichende Schlussfolgerungen ergeben können.8 Die Bezichtigung zu Raten erschütterte den Analytiker weit mehr als die oftmals fehlende öffentliche Anerkennung seiner Glanztaten. Sherlock Holmes sehnte sich danach, es dem „Gottesauge“9 von Laplaces Dämon gleichzutun, wenigstens in Bezug auf alles Irdische und Allzumenschliche: „Wenn wir Hand in Hand aus diesem Fenster fliegen könnten, um über dieser großen Stadt zu schweben, sachte die Dächer zu entfernen und all die merkwürdigen Dinge auszuspähen, die sich ereignen, die seltsamen Zufälligkeiten, das Pläneschmieden, die einander entgegengesetzten Absichten, die wunderbare Kette der Ereignisse, die über Generationen hinweg wirksam wird und zu den ausgefallensten Ergebnissen führt, dann würde das alle Dichtung mit ihren Konventionen und vorausschaubaren Schlüssen überaus schal und unersprießlich machen.10

Nach Holmes‘ Logik leben wir in einer deterministischen Welt, in welcher der Zufall bestenfalls als Erfüllungsgehilfe einer hochrangigen Ordnung dient. Wenngleich er sich seiner Grenzen auch sehr wohl bewusst war, trieb es ihn dennoch um, mittels der Phantasie die unumgänglichen Erkenntnislücken aufzufüllen und somit einen jeden Sachverhalt möglichst ganzheitlich zu erfassen. Der Holismus11, der hier zum Tragen kommt, erkennt ein jedes Glied der deduktiven Kette als Teil eines dynamischen, jedoch determinierten Systems von Zusammenhängen an. Beinahe schon eine religiöse oder zumindest gläubige Sicht auf die Welt!

Die Möglichkeit sensationeller Schlüsse, die am Ende jedoch nur wenig mit der Realität zu tun haben, scheint bei diesem holistischen Ansatz nur allzu hoch. Dr. Watson bemerkt in Das Zeichen der Vier selbst: „Bei ihm bestand, wie mir schien, gerade durch die Überraffinesse seiner Logik, durch seinen Hang, der subtileren und ausgefalleneren Lösung den Vorzug zu geben, selbst wenn sich eine einfachere und gewöhnlichere aufdrängte, eine gewisse Gefahr, in die Irre zu gehen.“ Wenngleich dies in jenem Fall – und in den meisten anderen – keineswegs zutraf, wurde Holmes‘ Logik in manchen Fällen durch seine Phantasie und sein Hang getrübt, jedes Detail als Glied eines komplexen übergeordneten Zusammenhangs zu erfassen.

Der Meister bringt seinen Anspruch, dem Laplace’schen Dämon gleich Vorstellungskraft und Empirie zu verknüpfen, in Eine Studie in Scharlachrot bestens zum Ausdruck: „Unsere Vorstellungen müssen so weit reichen wie die Natur selbst, wenn sie die Natur deuten wollen.“ Dieses Zitat impliziert allerdings ebenso, wie unmöglich es sein muss, mit dem Gottesauge das gesamte Universum zu erfassen. Welcher Einzelne könnte alle Kräfte und Objekte im Kosmos in all ihren Interaktionen zugleich begreifen?

Zu Anfang seiner Wohngemeinschaft mit Sherlock Holmes stößt Dr. Watson auf ein Magazin, in dem ein Artikel namens „Das Buch des Lebens“ markiert wurde. Aus diesem Text stammt das Zitat zu Beginn dieses Kapitels. Der Text – von Holmes selbst verfasst und anfangs vom Doktor kaum ernst genommen – befasst sich mit der Kunst der Beobachtung und des folgerichtigen Denkens. Die Bemerkung Holmes‘, ein Sterblicher könne kaum höchstmögliche Vollkommenheit darin erreichen, klingt auf der einen Seite wie die Verneigung vor den eigenen Grenzen und auf der anderen Seite wie der Ausdruck seiner Überzeugung von der Existenz transzendenter Kräfte; einer Entität, die es tatsächlich zu höchstmöglicher Vollkommenheit im Verständnis über den Kosmos gebracht hat.

Wenngleich Sherlock Holmes empirischen Beweisen einen hohen Wert beimisst, wird sein Denken doch definiert von einem Maß an Schlüssen a priori – also Erfahrungswerten, die ihn von der trüben Masse abzuheben vermochten. Verwandt, aber keineswegs sinngleich mit den Kombinationen, die sich Holmes in allen seinen Fällen musterhaft immer wieder offenbarten, ist sein überbordendes Maß an Phantasie. Sich seiner Schranken bewusst, mühte sich Holmes, dem alles überblickenden Gottesauge, das sachte die Dächer entfernt, um alle Merkwürdigkeiten zu übersehen, doch immer näher zu kommen. Vielleicht war er selbst so sehr erpicht, die Grenzen des eigenen Verstandes Schritt für Schritt in himmlische Gefilde zu verlagern, dass für ein Sinnen nach Gott selbst kein Raum mehr übrig war.

Die Pluralität des Holmes’schen Wesens steht im Widerspruch zu seinen unverrückbaren Glaubenssätzen. Er frönte so vieler Interessen und Neigungen, dass eine definitive Eingrenzung auf bestimmte moralische- oder weltanschauliche Positionen nur erschwert umsetzbar erscheint. Diese Vielzahl an Wesens- und Geisteszügen machte auch vor seinem Charakter nicht Halt. Oft mokierte Watson die – mitunter drogeninduzierten – heftigen Stimmungswechsel seines Genossen. Hierzu sagte Holmes selbst: „In mir stecken die Anlagen zu einem begnadeten Müßiggänger und zugleich zu einem Kerl der quicklebendigen Sorte. Ich muss oft an die Zeilen des alten Goethe denken:

Schade dass die Natur nur einen Menschen aus dir schuf,
Denn zum würdigen Mann war und zum Schelmen der Stoff.12

Die oben zitierte Passage aus dem „Buch des Lebens“ setzt sich wie folgt fort: „Bevor er sich jenen moralischen und geistigen Aspekten des Vorgangs widmet, die die größten Schwierigkeiten darstellen, beginne der Forscher mit der Meisterung der elementarsten Probleme.13 In diesen Worten zeigt sich Holmes‘ Erkenntnis, dass Fragen nach Moral und geistigen Belangen den elementaren Problemen der alltäglichen Beobachtung übergeordnet sind. Die Frage, was jemand auf welche Weise getan hat, ist freilich leichter zu beantworten, als die Frage nach dem Motiv. Ebenso ist leichter zu beurteilen, wie das Universum und die Kräfte im selben funktionieren, als etwa, warum alles existiert und nicht etwa nichts. Nur Gegenstände, welche wenigstens eine empirisch zugängliche Herleitung besitzen, können als Grundlage weitreichender fundierter Spekulationen dienen. Wenn Sherlock Holmes also äußerste Vorsicht walten ließ bei der Eruierung möglicher Motive für ein Verbrechen und diese oftmals als geübte Vermutungen bezeichnete – wie viel ferner mussten ihm doch Spekulationen über einen Schöpfer liegen?

Sherlock Holmes wurde gewiss nicht als religiöser Mensch beschrieben. Kaum ein freiwilliger Kirchgang14 ist überliefert, keine frommen Sprüche oder konkreten Jenseitserwartungen sind in der Chronik seines Freundes zu finden. Sicher war der große Detektiv nicht gläubig. War er im Umkehrschluss aber ein Atheist?

Der Atheismus definiert sich durch eine strikte Ablehnung jedes Glaubens an jenseitige göttliche Entitäten. Der Atheist ist zur Überzeugung gelangt, es gebe keinen Gott und „belegt“ dies zuweilen durch die Interpretation empirischer und vernunftbegründeter Fakten. Die hierzu angeführten philosophischen und naturwissenschaftlichen Belege implizieren eine im hohen Maße unwahrscheinliche Existenz eines Gottes, eines Schöpfers dieser Welt, dass vom Gegenteil ausgegangen wird. Wie allerdings oben erläutert, entzieht sich Höherdimensioniertes grundsätzlich jeder wissenschaftlichen oder ernstzunehmenden naturphilosophischen Analyse, was diesen (Umkehr-)Schluss substanziell in Frage stellt. Wer mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnisse die Existenz Gottes negiert, begeht wohl denselben Fehler wie jene, die im Gegensatz einen Schöpfer durch ihr selektives Verständnis wissenschaftlicher Zusammenhänge belegen wollen.15

Atheismus und Theismus erfordern die konkrete Festlegung auf eine Idee, die wissenschaftlich unzugänglich ist. Beides lag Sherlock Holmes fern, da er sich ob seiner stets logischen und auf Fakten basierten Denkart niemals zur Spekulation hinreißen ließ. Somit würde die definitive Ablehnung eines Schöpfergottes einen Verstoß gegen eine seiner obersten Maximen darstellen. Ebenso, eine Theorie der Gottesgewissheit auf unzureichenden Tatsachen aufzubauen. Der Glaube (im theologischen Sinn) hat wesentlich mehr mit menschlichem Vertrauen, denn mit kühler empirischer Gewissheit zu tun. Somit stellt nicht nur die mangelnde Beweisbarkeit eines realen Schöpfers für die mutmaßliche Ablehnung etablierter Glaubenssätze für Holmes eine Rolle, sondern wohl auch dessen mangelnden Zugang zur eigenen Gefühlswelt. Vertrauen als subjektive Überzeugung und zwischenmenschliche Gabe gehört als Gefühlsregung zu eben jenen Dingen, denen Holmes weit weniger traut als belastbaren Fakten.

Es scheint schon deutlich durch: Sherlock Holmes, der brillante Ermittler, war Agnostiker. Alles andere wäre für ihn wohl ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Zu unsicher die Datenlage, zu verworren die Indizien. Doch war er auch frei von Religiosität, bar jedes Sinnens nach dem Jenseitigen? Sicher, er zitiert hie und da aus der Bibel. Einer seiner Grundsätze – „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ – stammt zum Beispiel aus dem Bibelbuch Prediger16. Allerdings tut er solches eher aus guter Gewohnheit, denn aus „nach Glauben sinnenden“ Beweggründen. Holmes scheint Religiosität zu achten; ihr selbst jedoch nicht viel abgewinnen zu können. Einen Zugang zur Philosophie hat er hingegen und mit dem Alter wächst seine Lust an Kontemplation und Diskussion über solche Fragen. Neben einigen Bemerkungen des alternden Detektivs über seine Sehnsucht nach mehr Abgeschiedenheit und sinnende Fragen lesen wir im Vorwort von Seine Abschiedsvorstellung, über den emeritierten Holmes: „Er hat viele Jahre auf einem kleinen Landgut in den Downs, fünf Meilen von Eastbourne entfernt, mit dem Studium der Philosophie und der Landwirtschaft verbracht.17

Sich mit Philosophie zu beschäftigen sieht dem Sherlock Holmes der früheren Jahre gar nicht ähnlich. Wenngleich es auch nicht verwundert, dass ein wacher und beweglicher Geist der Finsternis der immergleichen Abgründe krimineller Umtriebe irgendwann zu entkommen sucht, um sich den großen Fragen der Welt zu widmen. Schon gut zwei Jahrzehnte früher, in den späten 1880er Jahren, zeigte der meisterhafte Kriminologe einmal eine Seite von sich, die erahnen lässt, wie grundsätzlich er sich im Innersten mit den Fragen nach der Existenz und ihrer Sinnhaftigkeit auseinandersetzte18. Anlass dazu gab ihm eine anmutige Moosrose.19 Was bei Watson und den beiden Klienten für reichlich Verwunderung gesorgt hat, gilt zugleich als tiefgreifendster, unerwartet rührender Beleg der Sicht Holmes‘ auf Gott, die Religion und auf die Frage nach dem Gottesbeweis:

Er ging an der Couch vorbei zum offenen Fenster und hielt den herabhängenden Stiel einer Moosrose hoch, auf die zarte Mischung von Karmesin und Grün herabschauend. Das war ein neuer Charakterzug für mich, denn ich hatte ihn nie zuvor Interesse für die Dinge der Natur bekunden sehen.

„Es gibt nichts, wo Deduktion so zwingend ist, wie in der Religion. Sie kann vom logisch Denkenden wie eine exakte Wissenschaft aufgebaut werden. Unsere höchste Gewissheit für die Güte der Vorsehung scheint mir in den Blumen zu liegen. Alles andere, unsere Fähigkeiten, unsere Begierden, unsere Nahrung, sind von erster Notwendigkeit für unsere Existenz. Aber diese Rose ist eine Dreingabe. Ihr Duft und ihre Farbe sind eine Verschönerung des Lebens, keine Voraussetzung dafür. Nur die Güte schenkt Dreingaben, und so sage ich noch einmal, dass wir von den Blumen viel zu erhoffen haben.20

Sherlock Holmes‘ kühle Zielorientierung beim Knüpfen jeder seiner Kausalketten steht ein wenig im Widerspruch zu der physikotheologischen Betrachtung aus „Der Flottenvertrag“. Üblicherweise tritt Holmes als Verfechter der causa finalis auf und richtet seine Deduktionen auf Gegenständliches.

Beim physikotheologischen Gottesbeweis21 wird davon ausgegangen, dass die Zweckmäßigkeit der Welt – die Ordnung – als Beweis (Argument) für die Existenz eines ordnenden, Zwecke setzenden oder Zweckmäßigkeit ermöglichenden, vernünftig-sittlich tätigen, göttlichen Welturhebers dienen kann.22 Die Holmes’schen Dreingaben stellen hier nur eine Erweiterung jener Zweckmäßigkeit dar, wenn davon ausgegangen wird, dass emotionale Kategorien – etwa Ästhetik und Freude – ebenso der menschlichen Entwicklung zuträglich sind. Für Holmes sind diese Dreingaben Zeichen der Güte, weil nur diese solche Extrafreuden gewährten.23 Die Moosblume gilt ihm somit als Zeichen der Güte Gottes, welcher uns nicht nur mit überlebensnotwendigen Dingen ausstaffiert hat. Hierzu könnte man zweifellos auch die Kunst als Ausdrucksform der menschlichen Kreativität zählen, der Holmes sehr zugetan war, ob es sich nun um Musik oder die bildenden Künste handelte. Friedrich Schiller drückte diese Verehrung für die Kunst als göttliche Dreingabe wie folgt aus:

„Denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschriften empfangen.24“.

Vom Prinzip, über die natürliche Ordnung der Schöpfung Rückschlüsse auf ihren Schöpfer zu ziehen, ist die gesamte philosophische und theologische Geschichte durchdrungen. Sokrates, Aristoteles, die Stoiker; Cicero, Augustinus, Gregor von Nazianz oder die Scholastiker – sie alle bemühten sich durch Überwindung innerer und Akzeptanz ihrer menschlichen Grenzen hinaus, um von der Natur auf ihren Urheber schließen zu können. Kant begriff, dass ein teleologisches Argument nicht die Kraft eines Beweises hat, jedoch „mit Achtung genannt zu werden“ verdient.25 Es fehlt jede Möglichkeit der Überprüfung des Resultats einer teleologisch basierten Theorie, insofern kann diesen Argumenten keine verbindliche Beweiskraft zugeschrieben werden.

Doch die weiter oben angeführten Dreingaben stellen für Holmes ganz offensichtlich ein Bindeglied zwischen Ratio und Emotio dar und dienen ihm somit als logischer Zugang zu einer Welt, die allein durch Erkenntnisse a posteriori nicht zugänglich ist. Wenn Holmes von Güte spricht, fasst er hierin die Gesinnung einer konkreten Entität. Diese Entität wähnt er ursächlich verantwortlich für die Schöpfung, die diese Güte überhaupt erst möglich macht.

Tatsächlich wirkt es fast so, als verzehre sich Sherlock Holmes wegen der Unmöglichkeit eines empirischen Gottesbeweises nach dem Außergewöhnlichen; nach Dingen, die sich von der schnöden Oberflächlichkeit materieller Existenz abheben. Im Lichte seiner physikotheologischen Eröffnung aus Der Flottenvertrag könnte man Holmes‘ Sehnsucht nach der leibgeistigen Tiefe auch als Begierde begreifen, dem Göttlichen näher zu kommen – im Sinne des Gottesauges, das alles überblickt und begreift und denkbar wenig mit der zuweilen materiellen Ödnis des menschlichen Alltags zu tun hat: „Ich kann nicht leben ohne Arbeit für mein Hirn. Wofür lohnt es sich sonst zu leben? Stellen Sie sich hierher, ans Fenster. Gab es je etwas Öderes, Trübseligeres, Unergiebigeres als diese Welt? Schauen Sie, wie der gelbe Nebel durch die Straße wallt und zwischen den fahlgrauen Häusern dahintreibt. Was könnte hoffnungsloser prosaisch und materialistisch sein? Was nützt es denn, Doktor, Fähigkeiten zu besitzen, wenn es kein Feld, sie anzuwenden, gibt? Das Verbrechen ist banal, das Dasein ist banal, und von allen möglichen Eigenschaften gelten einzig die banalen etwas auf dieser Welt.26

An einer früheren Stelle des Gesprächs benennt Holmes seine innere Qual – die er auch als Ursache für seinen Kokainkonsum anführt: „Mein Geist rebelliert gegen den Stillstand. Man gebe mir Probleme zu lösen, man gebe mir Arbeit, man gebe mir die verworrenste Geheimschrift, die vertrackteste Analyse – da bin ich ganz in meinem Element. Dann kann ich ohne Stimulantien auskommen. Der dumpfe Trott des Daseins jedoch erfüllt mich mit Abscheu. Ich verzehre mich nach geistigen Höhenflügen.27 Sherlock Holmes war die Welt – in ihrer scheinbaren Trivialität – nicht genug. Die Unfähigkeit, sich einer quasi göttlichen Sphäre zu nähern, der höchsten Komplexität Herr zu werden, die Erkenntnis über die Grenzen der eigenen geistigen Entwicklung – all das schuf im Innersten des großen Detektivs eine Hölle, der er sich nur mittels geistig fordernder Ablenkungen oder chemischer Hilfsmittel hat entziehen können. Aus dem Erbe der Bewohner Edens heraus nährte sich Sherlock Holmes‘ Martyrium. In gewisser Weise wollte er sein wie Gott, erkennend Gut und Böse; überschauend das Ganze, nicht nur die einzelnen Teile. Holmes suchte Gott wohl aus dem einfachen Grund, sich selbst zu vervollkommnen und es dem allsehenden Auge gleichzutun. Die Unmöglichkeit dieses Vorhabens setzte ihm schwer zu, doch fand er in sich selbst durch die liebliche Moosrose, Symbol der Sinnesfreuden der Schöpfung, und durch die Kunst Zugang zu jenseitigen Sphären der Ästhetik und Güte. Diese Dreingaben boten ihm gewiss keinen Gottesbeweis, vielleicht aber eine Art transzendenter Gotteserfahrung. Der spätmittelalterliche Philosoph Meister Eckhart beschreibt diese Art der kontemplativen, physikotheologischen Gotteserfahrung wie folgt: „Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott. ... Wer Gott im Sein hat, dem leuchtet er in allen Dingen; denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott, und Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen sichtbar. Er muss eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem er auch sei. Er muss lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen. ... Fürwahr, soll er die Kunst beherrschen, so muss er sich viel und oft in dieser Tätigkeit üben.28

Nach Meister Eckhart muss der Mensch zuerst den Glauben haben (oder zumindest danach trachten) um durch innere Einkehr und Nachsinnen eine persönliche schöpferische Kraft nebst ihren unveräußerlichen Eigenschaften innerhalb der Schöpfung wahrzunehmen. So pflichtet ihm auch der Apostel Paulus bei: „Denn sein unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit Erschaffung der Welt an den Werken durch Nachdenken wahrgenommen, so dass sie (die Gott leugnen) keine Entschuldigung haben. Denn obschon sie Gott erkannten, haben sie ihn doch nicht als Gott gepriesen und ihm nicht gedankt, sondern sind in ihren Gedanken in eitlen Wahn verfallen ... .29

Ganz gleich, ob Holmes nun selbst dem Eitlen Wahn verfallen war oder er sich mit drogeninduzierter Obsession in den ontologischen Fragen des Lebens verbissen hat – er war getrieben vom innigen Wunsch nach einem Sinn in der Existenz sowie einer ordnenden und erhabenen Kraft, die ihm eine Moosrose im Kerker der banalen Ödnis sein würde. Der Meister der deduktiven Logik war Agnostiker, auf erhabene Entitäten hoffend; institutioneller Religion nicht allzu viel abgewinnend, wenn er sie auch respektierte. Im älteren Kanon schien eine gewisse Nähe zur Kirche durch, die sich später allerdings verlor. Im Wille, durch die Einsicht eines allsehenden Gottesauges zur Theosis30 zu gelangen – der eigenen Vergöttlichung – geriert sich keine Allmachtsphantasie. Sondern ein Wunsch, dem Göttlichen nah zu sein, es zu erkennen und zu begreifen. Ebenso verhielt es sich mit seinem eigenen Schöpfer Sir Arthur Conan Doyle.

Doyle und die Feen von Cottingley

„Nach einem alten Satz trennt uns der erste Schluck
 aus dem Becher der Erkenntnis von Gott, 
aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott auf den, 
der ihn sucht.31

Arthur Conan Doyle wurde katholisch erzogen, besuchte eine Jesuitenschule sowie ein Gymnasium der Gesellschaft Jesu in Österreich. Seine Eltern standen fest zur katholischen Kirche. Mit 23 eröffnet ihnen Arthur, dass er den Glauben an den Katholizismus verloren hätte. Doyles Medizinstudium sowie die brillanten Offenbarungen seines Professors Joseph Bell zur Kunst von Beobachtung und Analyse scheinen diesem Glaubensverlust genauso Vorschub geleistet zu haben wie die erste Befassung mit Themen wie Parapsychologie und Spiritismus, als Doyle in 1880 Schiffsarzt auf einem Walfänger war. Bei einer zweiten Schiffsreise in Afrika erkrankt er schwer an Malaria. Nachdem er sich schließlich in verschiedenen Praxen als Arzt niedergelassen hat, forciert er seine schriftstellerischen Versuche und gerät ob des Ausbleibens nachhaltiger kommerzieller Erfolge (sowohl mit seiner Praxis, als auch mit seinen Schriften) zunehmend in Frustration. Zwischen 1887 und 1927 veröffentlicht Arthur C. Doyle endlich jene 56 Novellen und vier Romane über Sherlock Holmes, die sein Schaffen bis heute hauptsächlich kennzeichnen sollten.

Innerhalb dieses Zeitraums macht Doyle jedoch auch eine persönliche Transformation durch, die von zahlreichen Schicksalsschlägen gezeichnet ist: Seine erste Frau stirbt, er wird Volontär im Burenkrieg (1899 – 1902). Der „Große Krieg“, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, traumatisiert wie zahllose andere Menschen auch Doyle: Sein Bruder und sein Sohn Kingsley sterben auf den Schlachtfeldern Europas oder in Folge des Krieges. Trotz aller Erfolge als Schriftsteller erschüttern existentielle Krisen immer wieder sein Leben – das Fehlen eines übergeordneten Sinns kann Doyle nicht einfach so hinnehmen. Möglicherweise war er deshalb zum Spiritismus gekommen, weil die Schau des Göttlichen zumindest durch ein Schlüsselloch ins Diesseits möglich war, anstatt warten zu müssen, bis man diese Welt endgültig verlassen hatte.

Mit „Gottesschau“ wird in der christlichen Theologie das leibhaftige Sehen und Erkennen Gottes im Jenseits bezeichnet32. Im Christentum wie auch in anderen Religionen existieren Praktiken, welche dem Gläubigen das Göttliche näherbringen sollen. So stellen die acht jhānas im Buddhismus eine Art der Vorbereitung auf das Erwachen dar, sobald man das Göttliche erkennt. Mit der in sich gekehrten Konzentration auf einen Gegenstand (Gedanken) will man hier über das sinnlich Erfassbare hinausgehen und ein stückweit das Göttliche erahnen. Im Islam, wo gemäß Doktrin ein größerer Abstand des Gläubigen zum eigenen Schöpfer herrscht – eher Respekt und Achtung denn liebevolle Zuwendung zu Gott – gibt es die besonders unter Derwisch-Orden geübte Praxis dhikr: meditative Gebete und Trancezustände tragen zur Vergegenwärtigung Gottes bei.

Der tieferen Einsicht in die Natur und damit ihren Schöpfer durch Kontemplation stehen Wahrnehmungsinterpretationen natürlicher Erscheinungen in der Außenwelt gegenüber. Die Schöpfung braucht keinen Gott – sie ist ihr eigener Motor! Katalysiert durch die aufsehenerregenden Erkenntnisse Charles Darwins im (Lebens-)Werk Die Entstehung der Arten gerieten kreationistische Glaubenssätze ins Wanken. In Europa und der Neuen Welt blühte der Spiritismus auf. Séancen (Geistbeschwörungen) und die Sichtung übernatürlicher Phänomene gehörten gerade in der feinen Gesellschaft oft zum Alltag. Trotz Dekadenz machen sie eine innere Leere sichtbar – die Sinnsuche des Menschen des späten 19. Jahrhunderts. Der zunehmende Bedeutungsverlust der etablierten christlichen Kirchen und weltanschaulich bedeutsame Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik leisteten dieser Entwicklung Vorschub. Die Welt wurde komplexer, einfache Antworten auf bedeutsame Fragen wurden abgelöst durch komplizierte und häufig relativierende neue Fragen.

Gewiss, Arthur Conan Doyle war kein einfacher Mensch. Weder Einfalt noch Gutgläubigkeit zählten zu seinen Wesenszügen. Doyle suchte – ähnlich wie Sherlock Holmes – stets nach dem Außergewöhnlichen; nach allem, was von der Norm abwich und die Ödnis der uns umgebenden Welt zu durchdringen vermochte. So ist es wahrscheinlich auch entschuldbar, dass er auf einen der größten Hoaxes der jüngeren Geschichte hereinfiel, welcher 1917 seinen Anfang nahm.

Im Dorf Cottingley, nahe Bradford in der Grafschaft West Yorkshire, behaupteten die 16-jährige Elsie Wright und ihre 9-jährige Cousine Frances Griffiths, am Cottingley-Bach regelmäßig in Kontakt mit kleinen Feen zu treten. Zur Untermauerung ihrer Behauptung präsentierten die beiden mehrere Photographien, auf denen sie in Gesellschaft von fünf kleinen feenhaften Gestalten sowie eines geflügelten Gnoms zu sehen sind. Aufgenommen wurden die Bilder zuerst mit einer Kamera von Elsies Vater Arthur Wright. Der hinzugezogene Theosoph33 Edward Gardner stattete die Mädchen mit besserem photographischem Equipment aus, womit sie weitere Aufnahmen der scheinbar übernatürlichen Besucher vorzeigen konnten. Als Sir Arthur durch einen Diavortrag Kenntnis von diesen Bildern erlangte, war er sofort Feuer und Flamme. Experten für Photographie wurden beauftragt34, um Doppelbelichtungen und ähnliche Tricks auszuschließen. Die Familie erhielt – zum Missfallen Arthur Wrights, der die Geschichte der beiden Mädchen nicht glauben wollte – gerade durch die prominente Fürsprache enorme mediale Aufmerksamkeit. Doyle veröffentlichte zwischen 1920 und 1924 mehrere Artikel u.a. im Strand Magazine35, in denen er auch die maßgeblichen Photographien zeigte. 1922 legte er mit The Coming of the Fairies gar ein ganzes Buch auf, das sich mit dieser und vergleichbaren angeblichen Sichtungen von übernatürlichen Entitäten befasste. Wenngleich die Öffentlichkeit dem Holmes-Schöpfer und zudem erfolgreichen Amateurkriminologen doch einiges nachsah – hiermit setzte er sich unverhohlener Kritik und Spott aus. Selbstredend fand Sir Arthur auch zahlreiche Unterstützer seiner mittlerweile äußert unwissenschaftlichen Weltanschauung. Doyles veränderte Weltsicht, seine Schicksalsschläge und die Anfeindungen gegen seinen Spiritismus finden bitteren Niederschlag in den späteren Jahrgängen des Holmes-Kanons: Die einst zutiefst rationale Persona Sherlock Holmes sieht sich vermehrt menschlichen Abgründen ausgesetzt und sucht gar Erklärungen im Übernatürlichen – nicht in zutiefst irdischen Dingen36.

Wie oben bereits angeschnitten, entsprang Doyles Glaube an spiritistische und okkulte Phänomene gewiss jener Sehnsucht nach der Schau des Göttlichen, die auch Sherlock Holmes zeitlebens umtrieben hat. Holmes flüchtete sich in Überkomplexität die intellektuelle Annäherung an das Gottesauge, um alles zu überschauen und auf seine Art zu sein wie Gott. Sein Schöpfer wollte es – ungleich bescheidener – Gott nicht gleichtun, sondern lediglich Zeichen der jenseitigen Welt in der Banalität des Daseins mit den eigenen Sinnen wahrnehmen. Sowohl Holmes als auch Sir Arthur war die Welt nicht genug, sie sehnten sich nach Höhenflügen – ob nun metaphorisch oder getragen von Feen über den Dächern Londons.

Die Feen von Cottingley gaben ihre papierene Provenienz erst ein knappes halbes Jahrhundert später preis: Sie stammten aus Princess Mary’s Gift Book, einer reich illustrierten Sammlung von Erzählungen und Gedichten, die 1914 erschien. Elsie Wright hatte sie auf Karton abgezeichnet und mittels Hutnadeln fürs Foto drapiert. Bis zu ihrem Tode haben die beiden Damen ihren Hoax nicht oder nur teilweise eingestanden. Viele Menschen glaubten den Frauen und ihren illustren Apologeten. Edward Gardner erfuhr – beinahe hundertjährig – noch vom Schwindel. Viele wollen heute noch glauben; glauben an ein Jenseits, das sich bestenfalls bereits im Diesseits bemerkbar macht. Demnach suchen sie in Wirklichkeit gar nicht wirklich zu glauben, sondern zu wissen, was sie glauben. Die Naturwissenschaft wird dieser Hoffnung jedoch wohl nie zu Diensten sein können.

Literatur


Bartels, Klaus: Veni vidi vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006

Bieger, Eckhard: Bilderlexikon der christlichen Symbole. St. Benno, Leipzig 2012

Conan Doyle, Sir Arthur: Das Zeichen der Vier. Kein & Aber, Zürich [1890] 2005

Conan Doyle: Sir Arthur: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Kein & Aber, Zürich [1892] 2005

Conan Doyle: Sir Arthur: Die Memoiren des Sherlock Holmes. Kein & Aber, Zürich [1894] 2005

Conan Doyle, Sir Arthur: Eine Studie in Scharlachrot. Kein & Aber, Zürich [1887] 2005

Conan Doyle, Sir Arthur: Seine Abschiedsvorstellung. Kein & Aber, Zürich [1917] 2005

Conan Doyle, Sir Arthur: The Complete Sherlock Holmes. Barnes & Noble, New York 2015

Deissler, A., Vögtle, A. (Hrsg.): Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. III. Auflage der Sonderausgabe, Herder Verlag, Stuttgart 2007

Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 2. Berlin 1904

Friedemann, Manuel A.: Tempus fugit. Ewald & Ewald Nr. 22, 2017

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hauptwerke der großen Denker. Voltmedia, Paderborn 1990

Quint, Josef (Hrsg.): Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate. Diogenes Verlag, München 1979

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen – mit den Augustenburger Briefen. I. Auflage, Reclam, Ditzingen [1794] 2000

Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft in zwei Bänden. Parkland Verlag, Köln 2004, Bd. 1

Suttles, Traian: Drogenrausch und Deduktion. Zur Innenwelt des Sherlock Holmes. Mainbook Verlag, Frankfurt a.M. 2017

Weinstein, Zeus (Hrsg.): Sherlock Holmes Handbuch. Kein & Aber, Zürich 2008

Weizsäcker, Carl Friedrich: Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesungen. Hirzel Verlag, Zürich 1948

Wikipedia und Internetarchive (u.a. stepbible.org)

Fußnoten 

1 Gen 3,5 gemäß der Biblia vulgata.
2 Das hebräische Wort אָכַל (a.khal) das im „Urtext“ in Genesis 3,5 Verwendung findet, kann hier neben der offensichtlichen Bedeutung „essen“ auch sinnbildlichen Inhalt tragen. Alternative Implikationen sind unter anderen: „verschlingen“, „verglühen“, „erschlagen“ oder „zerstören“. Dies weißt schon deutlich auf den metaphorischen Charakter der Passage hin: „Sondern Gott weiß: welchen Tages ihr davon esset (אָכַל), werden eure Augen aufgetan und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ (Schlachter 1951)
3 Wenngleich die Kirche Galileos Schriften, welche u.a. das kopernikanische Modell postulierten, nicht rundweg ablehnte. Die Gründe für den Disput der Kirche mit ihm, welcher schließlich im Häresieprozess mündete, waren vielfältiger Natur. Auch innerkirchlich gab es bereits Stimmen, welche dem heliozentrischen Planetenmodell zugewandt argumentierten.
4 Vgl. Friedemann, Manuel A.: Tempus fugit. Ewald & Ewald Nr. 22, 2017
5 In der Antike herrschte sowohl im Heiligen Land als auch (anfangs) bei Griechen, Babyloniern und Ägyptern eine Seinslehre (Ontologie) vor, die sich nicht an der Substanz der Dinge orientierte, sondern an deren Funktion. Somit wurde der Beginn der Funktion einer Sache zumeist gleichgesetzt mit deren Erschaffung.
6 STUD (Übersetzung nach Haffmanns)
7 Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft in zwei Bänden. Parkland Verlag, Köln 2004, Bd. 1, S. 377
8 SIGN
9 Das Gottesauge begegnet uns bspw. als „Auge der Vorsehung“ oder „allsehendes Auge“ in der christlichen (hier als Zeichen der Trinität oft im Dreieck platziert) und jüdischen Semiotik und Heraldik sowie in der Freimaurerei. Theologisch bzw. philosophisch drückt diese Begrifflichkeit die Fähigkeit Gottes oder einer vergleichbaren Entität aus, alle Informationen des Universums unabhängig von Zeit und Raum überblicken zu können, quasi eine informatorische Omnipotenz.
10 IDEN
11 Der Holismus (vom griech. holos [ὅλος]) ist als Ganzheitslehre Sinnbild für eine quasi determinierte, also vorherbestimmte Welt, in der jedes Element derselben als Teil eines übergeordneten Systems begriffen wird. Der holistische Ansatz schließt von der Wirkung im Kleinsten direkt auf eine Verbindung zu größeren Strukturen.
12 SIGN
13 STUD
14 Ein „unfreiwilliger Kirchgang“, sowie die fallbezogene Maskerade als anglikanischer Priester findet sich dagegen in Ein Skandal in Böhmen (SCAN). Zudem belegt eine Passage aus Die Gloria Scott (GLOR), die von Holmes‘ College-Zeit berichtet, dass er in jungen Jahren zumindest einen Gottesdienst besuchen wollte (der Text impliziert jedoch regelmäßige Kirchgänge): „Trevor war der einzige Mensch, den ich kannte, und das auch nur aufgrund des Zufalls, dass sich sein Bullterrier eines Morgens, als ich zum Gottesdienst ging, an meinen Knöchel hängte.“ Warum besuchte Holmes in dieser Zeit Gottesdienste? Eine Regelmäßigkeit aus Kindheitstagen, eine gesellschaftliche Konvention des Colleges oder schulte er dort vielleicht seine deduktiven Fähigkeiten?
15 Die Kreationisten (oder Anhänger des Intelligent Design) mühen sich bspw. fortwährend durch falsch verstandene Erkenntnisse aus Geophysik, Archäologie und Astronomie um Postulierung eines erst wenige tausend Jahre alten Kosmos.
16 „Was geschehen ist, ebendas wird hernach sein. Was man getan hat, ebendas tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne (Pred. 1,9)
17 BOW (Vorwort)
18 Der Hamburger Biologe, zudem brillante Holmes-Forscher Traian Suttles, hat sich in seinem großartigen Werk Drogenrausch und Deduktion intensiv mit dem Innenleben des Geistes von Sherlock Holmes befasst. Die Gedanken aus diesem Werk inspirieren mich immer wieder zu eigenen Überlegungen und Projekten. Das Buch sei hier dem Leser wärmstens empfohlen.
19 Shuttles geht dagegen von einem Portulakröschen aus.
20 NAVA
21 Auch teleologischer Gottesbeweis.
22 Vgl. Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 2. Berlin 1904, S. 490 f.
23 Die Färbung von Blumen ist allerdings aus evolutionärer Sicht – im Wettbewerb um die Gunst nektarsammelnder Insekten – nicht obsolet.
24 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen – mit den Augustenburger Briefen. I. Auflage, Reclam, Ditzingen [1794] 2000
25 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hauptwerke der großen Denker. Voltmedia, Paderborn 1990, S. 476 ff.
26 SIGN
27 Ebd.
28 Quint, Josef (Hrsg.): Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate. Diogenes Verlag, München 1979, S. 60 f.
29 Römer 1,20 f. (Schlachter)
30 Laut der katholischen Ostkirchen und der Orthodoxie: „Vergöttlichung“ und Errettung des Menschen aus der Unheiligkeit zur Teilnahme am Leben Gottes.
31 Dieses Zitat wird (leicht abgewandelt) gern Werner Heisenberg zugeschoben. In diesem Wortlaut stammt es allerdings von seinem Schüler Carl Friedrich von Weizsäcker (Vgl.: Weizsäcker, Carl Friedrich: Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesungen. Hirzel Verlag, Zürich 1948, S. 152).
32 Eine freilich eingeschränkte Form der Gottesschau im Diesseits streben kontemplative Orden und Lebensformen innerhalb der Kirche an, indem sie bspw. durch Schweigen, Zurückgezogenheit und völlige innere Einkehr Gott in der Ruhe zu begegnen suchen (Vgl. Bernhard von Clairvaux, Papst Gregor I. oder Albertus Magnus in seinem Lukas-Kommentar).
33 Die Theosophie (θεοσοφία „Göttliche Weisheit“) die hier gemeint ist, ist nicht zu verwechseln mit der abendländischen Theosophie. Sie meint eine Art von Okkultismus, der mittels spekulativer Denkansätze die Welt pantheistisch interpretiert. Durch das „Erkennen“ Gottes in natürlichen und beobachtbaren Dingen wird jener schließlich mit der Natur gleichgesetzt. Diese moderne Theosophie war Bestandteil der spiritistischen Bewegung rund um die vorletzte Jahrhundertwende und ein weiterer Versuch der „Gottesschau“ im Diesseits. Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie (Waldorfpädagogik), bezog sich anfangs bspw. stark auf die Theosophie.
34 U.a. die Firma Kodak und private Experten wie Harold Snelling.
35 „FAIRIES PHOTOGRAPHED: AN EPOCH-MAKING EVENT“ (Strand Magazin, Christmas 1920)
36 So etwa bei ILLU, BLAN, 3GAB, RETI – und insbesondere CREE: von einer empirischen Beweiskette fehlt bei dieser im Grunde affigen Theorie jede Spur.

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