HOLMES sagt: Irgendwas mit Medien (IV)

In der Frühjahrsausgabe des Baker Street Chronicle erschien soeben der neuste Teil meiner Kolumnen im viktorianischen Gewand. Er befasst sich mit der heuer wieder sehr aktuellen Frage nach der Macht der Medien. 

Mittels dieser Reihe möchte ich Sherlock Holmes Worte in den Mund legen, die eine treffende Beschreibung der Wirklichkeit darstellen – damals wie heute. Denn: Es gibt nichts Neues unter der Sonne!

Bebildert und aufgehübscht kann man diesen Text - nebst anderen großartigen Schriften - hier bestellen.


Holmes sagt: Irgendwas mit Medien


In den Aufzeichnungen der frühen Jahre meiner Bekanntschaft mit Sherlock Holmes findet sich ein kurzer Bericht über ein recht ungewöhnliches Ereignis, welches sich nicht lang nach der Gründung unserer Wohngemeinschaft zugetragen hat. Bezüglich des genauen Datums kann ich ob der bis dato fehlenden Ordnung innerhalb meiner Niederschriften nur Spekulationen anstellen: Es muss sich wohl im Frühjahr des Jahres 1882 zugetragen haben. Im Wesentlichen handelt es sich weder um einen echten Kriminalfall, noch um eines jener Sinnbilder der Weltsicht meines alten Freundes, die dieser Reihe von Veröffentlichungen doch ihre Daseinsberechtigung verleihen. Dennoch bin ich der Ansicht, dass dieses kleine Intermezzo eine köstliche Demonstration des Holmes‘schen Denkmechanismus ist und der ihm zugrundeliegenden Geistesprozesse, die seine Wirklichkeitswahrnehmung formten.

Nachmittags läutete es wie wild an der Tür. Holmes und meine Wenigkeit waren den Großteil des Tages kaum in Berührung miteinander gekommen. Ich befasste mich mit liegengebliebenen Korrespondenzen, er mit Studien zu Bodenbeschaffenheiten in Mitteleuropa. Der Krawall an der Tür riss uns beide gewaltig aus dem gemütlichen Trott.

„Meine Güte, was für ein Flegel“, rief ich, mehr erschrocken als erzürnt.

„Schlussfolgern Sie nicht voreilig, werter Doktor. Es ist immer eine Frage des Kontextes, ob derlei Verhalten entweder übertrieben oder doch noch angemessen erscheint. Sehen Sie, wenn unser Besucher gerade um sein Leben fürchtet und schleunigst Zuflucht bei uns sucht, um dem blutdürstigen Mörder zu entkommen, könnte man sein hartnäckiges Läuten beinahe als zurückhaltend bezeichnen.“

„In diesem Fall, mein guter Holmes, sollten wir unser Gespräch vielleicht lieber verschieben und dem armen Mann helfen“, gab ich belustigt zurück.

„So sei es, Doktor.“

Ich begab mich zur Tür unseres gemeinsamen Wohnzimmers, um zu eruieren, ob unsere Hauswirtin sich bereits des ungeduldigen Besuchers angenommen hätte. Und tatsächlich führte Mrs. Hudson soeben einen Herrn mittleren Alters die Treppe hinauf – allerdings vielmehr damit beschäftigt, ihm hinterherzulaufen.

„Sie sind Mr. Holmes, der Privatdetektiv, nehme ich an? Guten Tag, ich muss Sie dringend konsultieren“, bestürmte mich unser Besucher, als er durch die Tür stürzte.

„Nanu, hier sitzt ja noch ein Herr“, druckste der vollbärtige, wohlgekleidete Gentleman, sich plötzlich der Absenz seiner Manieren bewusst.

„Gewiss, mein Herr“, entgegnete mein Wohngenosse darauf keck. „Und Sie haben es mit Mr. Sherlock Holmes zu tun. Da die Wahrscheinlichkeit gegen null geht, an dieser Adresse zwei Gentlemen mit demselben spektakulären Namen anzutreffen, handelte es sich bei Ihrer Folgerung, mein Freund Dr. Watson hieße Sherlock Holmes, um ein voreiliges Urteil.“

Völlig entkräftet und sichtlich irritiert ließ sich der unbekannte Mann unaufgefordert in meinen Lehnstuhl sinken. Erst jetzt sah er sich um. Offenbar war ihm selbst gewahr geworden, dass er sich nun erst einmal sammeln müsse. Er war von breiter Statur, seine Haare voll, lockig und dunkelbraun. Sein ganzes Wesen strahlte Klugheit aus – und einen Hauch von Besessenheit. Letzteres konnte aber auch der Verfestigung des ersten Eindrucks geschuldet sein, der sich ob des ungewöhnlichen Auftritts auferlegte. Nach einiger Zeit des Schweigens und Abwartens – ich hatte derweil auf dem Sofa Platz genommen – ergriff Holmes das Wort.

„Nun, Doktor, Sie werden gewiss Verständnis haben, das Dr. Watsons und die meinige Zeit auch nicht wertlos ist und wir nun doch ganz gern erfahren würden, wer genau Sie sind und weswegen Sie uns in so erinnerungswürdiger Weise aufgesucht haben. Bisher scheint es mir naheliegend, dass Sie Akademiker sind, offenbar im Bereich der Naturwissenschaft forschen, fleißig publizieren und gewiss in London leben und arbeiten. Zudem sind Sie unverheiratet und finanziell so gut gestellt, wie es einem Professor zusteht. Ansonsten weiß ich leider nichts über Ihre Person.“

Zunächst schien es, als ob unser Besucher angesichts der typischen Magie Holmes‘scher Beobachtungsgabe aufs Neue in jenen Zustand der Hysterie verfallen würde, der uns anfangs so überrollt hatte. Doch dann schüttelte er sich und hob recht gefasst zu sprechen an, doch mit vielen kleinen Unterbrechungen.

„Es scheint mir, dass ich hier an der richtigen Adresse bin, wenn ich mir Ihre Fähigkeiten so betrachte. Mr. Holmes, mein Name ist Dr. Harvey Salisbury, ich bekleide den Lehrstuhl für vergleichende Kulturgeschichte an der Universität zu London. Wie Sie all die Gegenstände erahnen konnten, die mich betreffen und die Sie mir so nonchalant offenbart haben, entzieht sich gänzlich meiner Vorstellungskraft.“

Holmes lächelte geschmeichelt. „Schon gut, Professor Salisbury. Mein Freund hier wird Ihnen zweifelsohne bestätigen, wie gerne ich meinen Klienten eine Gratisprobe meiner Methoden erteile. Sie sollen doch spüren, dass ich mein Fach beherrsche.“

„Nun, Holmes, ein wenig kommt dabei allerdings auch Ihr Hang zum Theatralischen zur Geltung“, brachte ich mich kurz ein. Holmes‘ Mundwinkel zuckten.

„Sei es drum, Professor Salisbury. Die Nadel an Ihrem Revers kennzeichnet Sie als Mitglied der Royal Academy of Science. Somit war mir trotz des etwas geladenen Auftritts in Anbetracht Ihrer durchgeistigten Gesichtszüge schnell klar, dass Sie ein forschendes Organ auf naturwissenschaftlichen Gebiet sind. Mitglieder der Royal Academy sind fast immer auch Lehrstuhlinhaber, damit war ich mir in diesem Punkt auch schnell recht sicher. Sie sind entsprechend gekleidet, wenngleich an verschiedenen Details Ihres Rockes auch deutlich wird, dass Ihnen der prüfende Blick einer Gemahlin fehlt. Zudem tragen Sie keinen Ehering. Sie haben ihn auch nicht zeitweilig abgelegt, da die Haut an Ihren Händen überall gleichmäßig von der Sonne gebräunt ist. Somit haben wir es mit einem ledigen Gelehrten aus London zu tun. Dass Ihr Lebensmittelpunkt hier in London liegt, verrät mir übrigens wiederum Ihre Kleidung. Sie ist ganz und gar von städtischer Façon und die Farbe der Schmutzflecken am Rand Ihrer Sohlen kommt vom ganz typischen Schmutz der Straßen im Inneren Londons.“

Professor Salisbury grinste über beide Ohren. Er schien komplett vergessen zu haben, dass ihn ein namenloser Schrecken hierhergejagt hatte. „Meine Güte, Mr. Holmes, an Ihnen ist mir aber ein Kollege verloren gegangen. Zu welchen Durchbrüchen wäre ein Mann in der Wissenschaft imstande, der über eine derartige Gabe im folgerichtigen Denken verfügt?“

„Wir alle setzen unsere Kräfte in unseren jeweiligen Metiers ein und das meine gleicht doch sehr einer formalen Wissenschaft, wenn es mit entsprechender Akribie betrieben wird. Aber nun möchte ich Sie bitten, mir und Dr. Watson darzulegen, welchem Umstand wir Ihren geschätzten Besuch verdanken.“

„Natürlich Mr. Holmes. Ich bitte Sie, meine Entgleisungen von vorhin zu verzeihen, aber das Ganze hat mich enorm verärgert.“ Die alte Blässe von vorhin war unserem Gast wieder ins Gesicht gestiegen.

„Worum handelt es sich denn nun?“, fuhr Holmes dem Professor ungeduldig ins Wort.

„Sie müssen wissen“, begann unser gelehrter Besucher endlich seinen Bericht, „dass ich, ob meiner gewissenhaften Forschungen zu Deiokes und Kyraxares zur medischen Skythenherrschaft durchaus mit Stolz erfüllt bin. Meine Methoden auf diesem Gebiet gleichen den Ihren, Mr. Holmes. Die Schicht empirischer Erkenntnisse zu jener Zeit und jenseits der oft beachteten babylonischen Hemisphäre ist dünn. Umso wichtiger scheint es für den ernsthaften Forscher, die Indizien – besonders jene, die Herodots Chronologie zu widersprechen scheinen – sorgsam zu deuten und die korrekten Schlüsse daraus zu ziehen.“

„Sie entschuldigen“, warf ich verdutzt ein, „Ich muss gestehen, Ihre Worte erschließen sich einem geneigten, jedoch in Ihrem Fach nicht allzu beschlagenen Zuhörer nicht zur Gänze.“

„Ich muss gestehen“, meinte Holmes, „dass ich mich Dr. Watson anschließen muss. Bisher habe ich nur so viel mit Sicherheit verstanden: Ihre Forschungen haben irgendwas mit Medien zu tun.“

„Sie haben Recht, Mr. Holmes. Ich befasse mich seit nunmehr einer Dekade mit dem Reich der Meder. Das Land Medien umfasste viele der persischen Gebiete, die wir noch heute kennen und wird in Relation zum babylonischen Reich innerhalb der geschichtlichen Wissenschaften gern vernachlässigt.“

„Gut, Professor Salisbury. Ich denke, wir sind uns nun im Klaren, dass es sich bei Ihnen um einen renommierten und gewissenhaft agierenden Wissenschaftler handelt. Ebenso habe ich nun einen Eindruck über Ihren zentralen Forschungsgegenstand gewonnen. Nur, was Sie konkret zu mir geführt hat, ist mir noch schleierhaft.“

„Ich muss Sie nochmals um Verzeihung bitten,“ sagte unser Gast und knetete seine Hände, „üblicherweise herrscht in meiner Rede so viel Ordnung wie in meinem Geist.“

„Das ist mir durchaus aufgefallen“, entgegnete Holmes belustigt.

„Mir war lediglich wichtig, dass Sie verstehen, welch hohen Wert ich der seriösen Forschung beimesse. Denn ich habe es mit einem Widersacher zu tun, dem offenbar selbst die grundlegenden Prinzipien der wissenschaftlichen Methodik fremd sind.“

„Ah, jetzt nähern wir uns des Pudels Kern“, stellte Holmes befriedigt fest.

„Wie Sie sich denken können“, setzte der Professor nun unbeirrt fort, „publiziere ich regelmäßig in Fachzeitschriften, die sich direkt oder indirekt mit meiner wissenschaftlichen Disziplin befassen – archäologiegeschichtliche und kulturwissenschaftliche Journale. Im Allgemeinen werden meine Studien von Herausgebern wie Lesern dieser Publikationen sehr geschätzt. Nun hat aber mein Assistent, Dr. George White, gehört, dass neuerdings auch die üblichen Tages- und Wochenzeitungen und Magazine bestrebt wären, ihr Angebot mit der Berichterstattung über wissenschaftliche Sachverhalte zu erweitern. Sie müssen wissen, ich lese an sich keine Tagespresse, da mein Fach mich gänzlich okkupiert. White hingegen meinte, ein Bericht über die aktuelle Persien-Forschung wäre von generellem Interesse und könnte der Allgemeinbildung einer breiten Leserschaft nur zuträglich ein.“

„Wissen Sie“, unterbrach Holmes den Vortrag des Professors, „wie Ihr Assistent auf diese Idee gekommen war?“

„Er ist wohl bei einem Weihnachtsfest im letzten Jahr mit einem Agenten bekannt geworden, der verschiedensten Blättern Ideen und Autoren zuführt, um deren journalistisches Portfolio qualitativ zu erweitern. Ein Mr. Turner. Da ich gerade meinen neusten Aufsatz über die frühen medischen Herrscher und ihren Bezug zum Nomadentum veröffentlicht hatte, kam White wohl die Idee, diesem neuen Bekannten ein verknapptes Exemplar meiner Studie zukommen zu lassen. Dies trug sich vor etwas mehr als einer Woche zu, Mr. Holmes. Ich gab nach einigem Abwägen meine Einwilligung und beauftragte White, Kontakt mit diesem Mr. Turner herzustellen und alles zu erledigen. Ich vertraue meinem Assistenten, der gute Arbeit für mich leistet – und das bereits seit mehr als fünf Jahren. Außerdem war mir diese ganze Sache in hohem Maße lästig – hätte mich ihre Bewältigung doch von meiner eigentlichen Arbeit abgelenkt.“

„Darf ich fragen“, grätschte ich hinein, „warum Sie der Veröffentlichung Ihres Textes in einer Tageszeitung überhaupt zugestimmt haben?“ Salisbury schüttelte den Kopf.

„Unter diesen Umständen erschien es mir prinzipiell lobenswert, der breiten Öffentlichkeit Zugang zu profunder Forschung zu ermöglichen. White wollte die Verhandlungen mit diesem Turner und die Umarbeitung meines Papiers anfänglich mir überlassen, doch ich konnte ihn schließlich doch noch überzeugen: Seine Idee – sein Aufwand.“

„Und doch“, ergänzte Holmes, „entwickelte sich irgendetwas ganz und gar nicht, wie Sie es erwartet hatten, richtig, Professor Salisbury?“

„Richtig, Mr. Holmes. Sehen Sie selbst!“ Ärger schwang in Salisburys Stimme, als er eine kleine gefaltete Zeitung im Tabloid-Format aus der linken Innentasche seines Gehrocks zog.

„Mir schwant Böses“, flüsterte Holmes mir durch die Mundwinkel zu, als er die Gazette entgegennahm. „Eine Zeitung namens TRUTH mit dem Datum von heute, wie ich sehe“, meinte er aufgeräumt zum Professor. „Im Prinzip kann ich mir nun schon denken, was Sie so aus dem Gleichgewicht Ihrer Lebensroutine gebracht hat. Aber ich bin um ihretwillen beruhigt, da hier offenbar kein Verbrechen vorliegt.“

„Kein Verbrechen, Mr. Holmes?“, schrie unser gelehrter Gast, als er mit wilden Gesten auf die achte Seite verwies und Holmes und mich aufforderte, uns den Artikel zu Gemüte zu führen. Das taten wir. Ich trat hinter Holmes Stuhl, schaute ihm über die Schulter und bemühte mich, seinem Lesetempo zu folgen. Im Wesentlichen bestand der Text aus zwei Teilen: Das erste Segment war die vom Professor verfasste Arbeit in der zuvor beschriebenen Verknappung. Die in aufdringlichen Großbuchstaben gehaltene Betitelung ließ allerdings ahnen, dass die Gewissenhaftigkeit der Redakteure anderen Aspekten galt denn wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit. Auf dem Papier stand: Geheimnisvolles Persien – die herkömmliche Sicht (was jeder sehen kann). Teil zwei der Berichterstattung ließ dann aber einen anderen Autoren zum selben Thema zu Wort kommen und wurde mit: Geheimnisvolles Persien – neuste Erkenntnisse (bahnbrechende Entdeckungen!) tituliert. Nun bin ich kein Experte, jedoch als wissenschaftlich geschulter Mensch durchaus in der Lage, nüchterne Forschung von hanebüchenem Humbug zu unterscheiden. Was wir dort zu lesen bekamen – den Text eines gewissen Liam Owen – sprudelte förmlich über von haltlosen und unbelegten Behauptungen. Zuerst befasste sich der Autor mit dem Text Professor Salisburys und präsentierte zu den wesentlichen Punkten Gegendarstellungen und abweichende Interpretationen, hierzu zog er fachfremde „Erkenntnisse“ ohne jeden Beleg, ohne jede Quelle hinzu und verglich alles in allem Äpfel mit Birnen. Im zweiten Teil seines Textes jedoch vermochte es Mr. Owen sein eigenartiges Konstrukt vom alten Persien auf dem gesamten Erdenrund auszuweiten. Oder eben nicht, denn alles wurde von der Behauptung gekrönt, dass aufgrund der Ausdeutungen diverser Mythen und eigenartiger Rechenspiele die Erde eben keine Kugelform hätte, sondern in Wirklichkeit eine Scheibe sei.

Als wir uns nach dieser eiligen, absonderlichen Lektüre wieder unserem desperaten Besucher zuwandten – Mrs. Hudson hatte ihm mittlerweile Tee mit Gebäck gebracht, beides blieb unangetastet – ergriff er wieder das Wort.

„Was soll ich nur tun, Mr. Holmes?“ Salisbury raufte sich das Haar. „Heute Vormittag brachte mir White dieses Exemplar, welches uns der Verlag zugesandt hatte. Nun bin ich blamiert, obwohl es nicht die geringste Rechtfertigung für eine solche Blamage gibt. Dieser Owen schreibt absoluten Unsinn und diese Schmierfinken lassen es nicht nur zu, dass diese Ergüsse als adäquate Gegenrede meiner Forschungen dargestellt werden, sondern schlagen sich offensichtlich auch noch auf dessen Seite, wie die Kommentare und Überschriften vermuten lassen. Wie kann ein Mensch der heutigen modernen Zeit, dem der Wissensschatz und die Methoden unzähliger gelehrter Generationen offenstehen, nur zu solch geistlosen Schlüssen kommen und diesen Unsinn dann noch publizieren dürfen? Wie soll ich nur auf dieses gehaltlose Gerede reagieren, wenn dem Autor doch offensichtlich sämtliche wissenschaftlichen Methoden des Erkenntnisgewinns fremd sind?“

„Wie hat denn Ihr Sekundant auf dieses Dilemma reagiert?“, fragte ich.

„Er war völlig außer sich und bot mir auf der Stelle seine Kündigung an. So wie Sie beide nun beruhigend auf mich einwirken, musste ich vorhin den guten White beruhigen. Er hatte ja beste Absichten, weswegen ich nicht auf seine Rücktrittsgesuche eingegangen bin. Trotzdem: Welch dunkler Machenschaft sind wir hier auf den Leim gegangen? Möchte mich jemand diskreditieren, vielleicht ein Feind, ein neiderfüllter Konkurrent, von dessen Existenz ich noch nicht einmal wusste?“

Holmes lächelte milde, zündete sich eine Pfeife an und setzte zum Referat an.

„Nun, Ihr Feind findet sich weniger in einer konkreten Person, als vielmehr im Format.“

„Im Format? Was soll das heißen, Mr. Holmes? Mein Bedarf an kryptischen Andeutungen ist mehr als gesättigt.“

„Bitte verzeihen Sie, Professor. Natürlich ist mir bewusst, wie stark Sie das Geschehene verunsichert haben muss. Sie sind gewohnt, dass zwei plus zwei vier ergibt. Nun erscheint ein Protagonist auf der Bühne, welcher – metaphorisch gesprochen – behauptet, diese Gleichung ergäbe fünf. Unter diesen Voraussetzungen scheint kein zielführender Diskurs möglich.“

„Ganz genau, Mr. Holmes. Wie sollte man auf so etwas reagieren?“

„Sie erinnern sich, dass ich eben sagte, Ihr Feind sei das Format und nicht etwa eine konkrete Person. Was bei Ihnen für so große Irritation gesorgt hat, war ganz ernst gemeint. Wir halten hier eines der größten Übel unserer Zeit in Händen. Dieses Wochenmagazin ist nur eines von so vielen Blättern, zumeist im Tabloid-Format herausgegeben, welche die Realität durch Falschmeldungen und blanke Lügen unterwandern - ich kenne neben einigen partiellen Ausnahmen eigentlich nur ein Magazin des genannten Formats, dass sich durch gut recherchierte und liebevoll arrangierte Texte vom banalen Rest abzuheben vermag, aber dies sei derweil nicht Gegenstand unserer Diskussion.“

„Meinen Sie etwa diese wundervolle kleine Quartalszeitung, die ich ursprünglich nur ihres so passenden Namens wegen vom Zeitungshändler mitgebracht habe, Holmes?“

„Ganz recht, guter Watson. Aber lassen Sie uns nicht abschweifen. Professor, da Sie nicht gerade ein Enthusiast in Sachen gedruckter Nachrichten sind, möchte ich Ihnen sagen, dass es unter derartigen Magazinen nicht nur die pragmatischen und sich der Information der Bürger verschriebenen Vertreter gibt, sondern auch – wie soll ich es nennen? – Revolverblätter, die schlecht recherchierten Schund abfeuern, als enthielte er der Weisheit letzten Schluss. Hier geht es weniger um guten Journalismus, denn um hohe Verkaufszahlen qua minimalen Aufwand und zu einfache, einseitige Wahrheiten. Hier geht es um niedere Instinkte, nicht Ratio. Selbst die renommierten Tageszeitungen sind vor dieser Färbung mittlerweile nicht gefeit. Wenn nicht gerade ein Krieg die Gazetten belebt, herrscht Langeweile und die Absatzzahlen sinken. Gerade die intellektuell nicht allzu beschlagenen Teile der Bevölkerung hören gern vom Klatsch und Tratsch aus dem Königshaus oder genießen es förmlich, wenn ein Dilettant die gängigen Meinungen von Experten, wie Sie einer sind, anficht. Ganz egal, wie absurd die Methodik ist, derer sich dafür bedient wurde.“ Salisbury war in seinem Stuhl zu einem Häuflein Elend geschrumpft.

„Nur, wie soll es uns gelingen, diesem Unsinn Paroli zu bieten, Mr. Holmes?“ Die Stimme meines Freundes nahm einen ungewohnt warmen Ton an.

„Wenn jemand gewillt ist, Meinung für Faktum oder die Befassung mit den Grundlagen eines Fachs als unnötig zu begreifen, um einen Sachverhalt innerhalb desselben zu begreifen, wie wollen Sie ihn vom Gegenteil überzeugen? Vielleicht hätten Sie mehr Glück, Ihre Erkenntnisse mit Kleinkindern zu teilen, denn mit der infantilen, sensationslüsternen Leserschaft derlei Lektüre. Mein Rat an Sie kann nur lauten: Ignorieren Sie derartig denkabstinente Blätter in Zukunft, wie Sie es auch bisher getan haben. Die Fachwelt wird solche Pamphlete kaum beachten.“

Während Holmes sprach, entspannte sich unser bewanderter, sensibler Gast zusehends. Er entdeckte sogleich den mittlerweile erkalteten Tee auf meinem Beistelltisch, trank ihn hastig aus und erhob sich.

„Sicher haben Sie Recht, Mister. Trotzdem bin ich schockiert ob dieser Entwicklung. Wo kommen wir hin, wenn jeder ungebildete Mensch mit ausreichend Sendungsbewusstsein eine Plattform erhält, um seinen kruden, egogetriebenen Ansichten Gehör zu verschaffen? Guten Tag, Gentlemen.“

Mit diesen Worten rauschte der Professor zur Tür hinaus. Ich muss sagen, dass ich seinen Gemütszustand gut nachempfinden konnte. Gleichermaßen verstand ich Holmes, der sich außerstande sah, gegen die Übermacht kollektiver Geistesunlust und Vergnügungssucht in die Schlacht zu ziehen. Ich setzte mich also wieder auf meinen angestammten Platz, nahm mich des liegengebliebenen Gebäcks unseres Gastes an und suchte schließlich den Blickkontakt zu Holmes, der gerade seine Pfeife neu mit Tabak aus seinem persischen Pantoffel bestückte.

„Ich sehe es Ihnen an, guter Watson,“ paffte er, und Rauchwölkchen spielten im Licht. „Sie sind nicht zufrieden mit dem Ausgang dieser kleinen Episode.“

„Ja, das kann man so sagen. Vielleicht war ich der Ansicht, ein Mann, der die ausgebufftesten Verbrecher dingfest macht, hätte auch eine Lösung für solch eine vergleichsweise banale Zwangslage parat.“

„Ha, mein Guter!“, rief Holmes sichtlich belustigt. „Dass Ihnen diese Sache Kopfzerbrechen bereitet, kann ich gut nachvollziehen. Aber sehen Sie, nichts ist lösungsresistenter als eine ganz offensichtliche Unwahrheit. Je absurder sie daherkommt, desto leichter bleibt sie im Gedächtnis haften. Ist der Adressat nun wenig gebildet und dazu noch unzufrieden mit den eigenen Lebensumständen, vielleicht auch wütend auf ‚die da oben‘ – jene, die mehr Glück im Leben hatten als er selbst – verfestigt sich die Mär und bildet in Verbindung mit nährenden Falschbehauptungen schließlich ein ganzes Lügengeflecht, das qua Absenz sinnhafter Gedanken immer komplexer wird. Bei vielen ersetzt es sogar die eigene Identität. Watson, dagegen kommt selbst der genialste Denker nicht an. Es fehlt hier einfach an einer gemeinsamen Basis. Mein Rat lautet: Diskutieren Sie nicht mit einem Schaffner über die newtonschen Gesetze, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er nur Bahnhof verstehen wird.“ Holmes lachte in die knochige Faust.

„Nun tun Sie aber den Bediensteten unserer geliebten Bahn Unrecht“, neckte ich.

„Ich sagte ja auch: mit hoher Wahrscheinlichkeit. Ich entsinne mich an ein Gespräch mit dem stellvertretenden Stationsvorsteher des Bahnhofs von Dartford in Kent vor einigen Jahren. Er eröffnete mir einen neuen Blick auf die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung.“ Ich richtete mich kerzengerade auf.

„Moment mal, Holmes. Hatten Sie mir nicht einmal erzählt, Sie hätten keine Kenntnisse über Astronomie, da diese trivialen Dinge nur Platz für das Wesentliche wegnehmen würden?“

„Lieber Watson, Sie dürfen nicht immer so gutgläubig sein“, lachte mich Holmes vorwitzig an. „Ich war damals nur bemüht, Ihnen ein Prinzip zu verdeutlichen und ganz gleich, welchen Eindruck Sie von mir möglicherweise haben mögen: Über Humor verfüge ich durchaus.“

So verbrachten wir den Rest des Nachmittags und des Abends in bester Plauderlaune. Mich interessierte vor allem, in welchen Punkten mir Holmes noch so manchen Bären aufgebunden hatte. Ich war schockiert und erleichtert zugleich, wie oft dies scheinbar schon der Fall war; denn die Tatsache, dass Holmes einen derartigen Schalk in sich trug, machte ihn für mich gleich menschlicher.

Nichtsdestotrotz fragte ich mich, wohin der von menschlicher Sensationslust, Egozentrismus und ökonomischen Zwängen diktierte Hang zur Verdrehung der Realität noch führen würde. Würden die Tageszeitungen irgendwann abdriften, weil mit unausgereiften Sensationsmeldungen mehr Geld zu verdienen war als mit der nüchternen Wahrheit? Würden sich irgendwann neue Wege der Informationsverbreitung entwickeln, die diesen nicht wünschenswerten Entwicklungen Vorschub leisten könnten? Ganz gleich, wie die Antworten auf diese Fragen lauten sollten: Menschen wie Holmes würden hoffentlich in jeder Dekade der Menschheitsgeschichte der Wahrheit Geltung verschaffen – auch wenn es sie selten hören will, das große unachtsame Publikum.


Kommentare

  1. Ob die Geschichte Mediens tatsächlich "Naturwissenschaft" ist? Oder gibt uns Holmes da irgendeinen versteckten Link.

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    1. Danke für den Hinweis. Holmes sollte sich eigentlich aufgrund der Unsicherheit seiner Deduktion "ein klein wenig" irren, um es in der nächsten "Holmes sagt" - Geschichte aufgreifen zu können. Es sollte "Royal Society" heißen, "Academy" war hier der Fehler, denn diese befasst sich mit den Künsten.

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