HOLMES sagt: Schuld und Sühne (III)

Um die Jahreswende möchte ich gern diesen Text  in meiner Chronik veröffentlichen. Er erschien in der Winterausgabe des Baker Street Chronicle und befasst sich in der Gewandung von Sherlock Holmes mit dem uralten Thema von Schuld und Sühne. Welche Schuld verlangt welche Sühne? Ist jedes Verbrechen durch staatliche Stellen zu sühnen oder ist der Täter zuweilen schon durch sein Gewissen genug bestraft? 

Den bebilderten Text, nebst der Texte anderer Sherlockianer kann man hier bestellen.

Ein gesegnetes und gesundes neues Jahr!


Holmes sagt: Schuld und Sühne


  Es war in den späten Sommertagen des Jahres 1919. Ich hatte mich nach langem Abwägen gerade erst dem Dasein eines illustren Pensionärs hingegeben und behandelte nur noch ab und an ehemalige Patienten, so es besondere Umstände erforderten. Meine zweite Frau und ich bewohnten ein schönes kleines Haus in Chelsea. Obwohl ich schon mit großen Schritten auf mein achtes Lebensjahrzehnt zusteuerte, erfreute ich mich einer robusten Gesundheit. Holmes hatte ich seit einiger Zeit nicht gesehen, wenngleich ich auch durch unseren unregelmäßigen Briefverkehr in groben Zügen Einblick in sein Leben hatte.
  Eines Morgens brachte mir unser Hausmädchen ein Telegramm an den Frühstückstisch, das – Sie vermuten es gewiss bereits – von meinem Freund Sherlock Holmes stammte. Der Wortlaut war folgender:

+++ Da Sie nun Ruheständler sind, möchten Sie mich sicher in Sussex besuchen kommen. Sie sind mir sehr willkommen! Wäre es Ihnen morgen sehr gelegen? S. H. +++ .

Wie mich diese Zeilen in ihrer nonchalanten Art doch an die guten alten Zeiten erinnerten; Zeiten, die überquollen von Abenteuern und packenden Rätseln an der Seite des größten Kriminologen, den die Welt je gesehen hat. Bei meiner Frau musste ich nicht lange Überzeugungsarbeit leisten, sodass ich bereits in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages im Zug gen Süden saß. 
  Als sich die Eisenbahn langsam der Küste von Sussex näherte, ereilte mich plötzlich die Frage, warum Holmes mich zu sich bat. Und: Über welche verschlungenen Pfade hatte er wohl herausgefunden, dass ich mich zur Ruhe gesetzt hatte? In den letzten Jahren – den Jahren des großen Krieges – hatten er und ich nur sporadischen Kontakt. Jeder im Lande war wohl mit essentielleren Dingen befasst, denn der Pflege alter Freundschaften. Trotzdem: Weder Holmes noch ich zählen zu den nachtragende Persönlichkeiten. Die Welt war eine andere, als vor dem Krieg, diesem Desaster. Unzählige waren gestorben in Folge des Blutvergießens und der schlimmen Seuchen, die aus den Ruinen der Zivilisation gekrochen waren. Viele europäische Königshäuser hatten die Wirren der Zeit nicht überlebt. Die englische Krone dagegen leuchtete noch immer und sogar heller als zuvor. Die zeitweilige Wiedervereinigung der beiden legendärsten Spürhunde des Empire konnte hier nur als weiteres Zeichen der Ermutigung gewertet werden – die Dinge würden sich zum Besseren fügen. 
  Um Viertel vor Zehn endete meine Fahrt am Bahnhof von Fulworth. Zu meiner allergrößten Überraschung begrüßte mich direkt vor dem Abteil ein sichtlich gut gelaunter Sherlock Holmes mit ausgebreiteten Armen. 
  „Watson, guter Watson! Wie ich mich freue, Sie zu sehen.“
  „Ich ebenso, mein alter Freund. Woher die gute Laune? Ich ging davon aus, dass Sie wie immer in Ihrem Hause auf mich warten würden“, erwiderte ich mit ebenso großer Freude wie Verwunderung.
  „Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen, dass ich das Bedürfnis verspürte, Sie mit einer Droschke persönlich von hier abzuholen. Aber was soll die lange Rede. Sie haben schon gefrühstückt, ja? Macht nichts. Ein paar Honigbrote können Sie sicher vertragen. Ich weiß, die obligatorische Zigarre ist noch wichtiger. Kommen Sie, Watson.“
  Einigermaßen verwundert bestieg ich mit meinem alten Freund die Kutsche. Wir folgten der Küstenlinie entlang der wundersamen Kreidekliffs der Downs. Es war ein sonniger, wenn auch windiger Tag geworden. Nach wenigen Minuten passierten wir The Gables, das Privatinstitut von Holmes‘ Freund Harold Stackhurst. Eine halbe Meile später erblickte ich auch schon Holmes’ Domizil. Direkt neben dem Abstellplatz von Holmes‘ Automobil befand sich auch die Tränke für das Pferd. Er band es fest und ich folgte ihm auf die Terrasse. Dort warteten bereits die süßen Brote und dampfender Kaffee. Die ältliche Haushälterin schenkte uns ein und wir ließen es uns in alter Eintracht schmecken. 
„Nun, Holmes, ich freue mich, Sie nach so langer Zeit wiedersehen zu dürfen“, beschloss ich unseren Imbiss wohlgestimmt.
  „Aber, Sie fragen sich, ob nicht auch ein konkretes Anliegen meinerseits mit unserem Wiedersehen verknüpft sein könnte, nicht wahr?“
  „Ganz recht. Ich hatte schon erwogen, meinen alten Armeerevolver einzupacken. Zudem frage ich mich, woher Sie schon so schnell von meinem Ruhestand erfahren haben.“
  „Nun gut, mein Freund. Ihre Vermutung zielt in die korrekte Richtung. Ich trage ein Anliegen in mir. Ihr Revolver wird dafür allerdings nicht benötigt“, gab Holmes belustigt zurück.
  Nachdem wir es uns mit einem phantastischen Ausblick auf die schäumenden Wogen des Kanals auf Lehnstühlen bequem gemacht hatten und unseren exquisiten Zigarren ein paar Rauchwölkchen entlockten, ergriff Holmes voller Ernsthaftigkeit das Wort.
  „Watson, lassen Sie mich nur voranstellen, dass Ihr Ruhestand ganz simpel durch die Times zu mir gelangt ist.“
  „Ich habe nichts inseriert, was darauf hindeuten könnte, dass ich zu praktizieren aufgehört habe “, meinte ich verwundert.
  „Aber der Vermieter Ihrer alten Praxisräume schon, Watson. Meist erhalte ich die Ausgaben der Times spätestens am Folgetag, nur zu Kriegszeiten verzögerte sich diese Regelmäßigkeit bisweilen erheblich. Ihr ehemaliger Vermieter inserierte vor genau drei Wochen, dass Räume zur gewerblichen Nutzung in seinem Haus zur Verfügung stünden, da der Vormieter sich zur Ruhe gesetzt hätte. Dort fanden sich nach meiner Erinnerung lediglich Ihre Praxis sowie eine spezialisierte Augenarztpraxis. Der Augenarzt – ich sah ihn bei einen meiner letzten Besuche bei Ihnen in London – zählte höchstens 35 Jahre, ist heute also Anfang 40. Schwerlich zu glauben, dass er sich schon zur Ruhe setzten würde. So lag die Vermutung nahe, dass der nicht mehr ganz so junge Allgemeinmediziner gemeint war.“
  „Ganz einfach“, gab ich ob der deduktivischen Reminiszenz auf alte Zeiten belustigt zurück.
  „Nun möchte ich Sie aber in Kenntnis setzten, was mich bewogen hat, Sie so kurzfristig zu mir zu rufen. Kurz gesagt: Ich brauche jemanden, um mir etwas von der Seele reden zu können.“
  „In der Tat, Holmes? Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, mich mit Ihnen auszutauschen, aber was ist mit Stackhurst oder einem Ihrer illustren Gesprächspartner auf dem Gebiet der Philosophie?“
  „Der Gegenstand ist zu privat, zu intim, um ihn mit Männern zu besprechen, die damals nicht dabei waren.“
  „Ein Fall aus unserer gemeinsamen Zeit, nehme ich an?“
  „Ganz recht, Watson. Erinnern Sie sich an James Ryder, dem ehemaligen Verwalter des Hotels Cosmopolitan?“
  „Sicher doch. Er begegnete uns im Fall Der blaue Karfunkel. Mein Gott, das ist doch sicher schon 30 Jahre her“, meinte ich nachdenklich.
  „Ende Dezember jährt sich dieser von Ihnen damals so blumig beschriebene Fall tatsächlich zum dreißigsten Mal, ganz richtig, Watson.“
  „Wenn ich mich recht entsinne, ließen Sie diesen Gelegenheitsganoven damals laufen.“
  „Allerdings“, erwiderte Holmes; in seiner Stimme schwang Missmut. „Wissen Sie auch, was aus Ryder wurde?“
  „Ich habe keine Ahnung, Holmes.“
  „Dann lassen Sie es mich Ihnen berichten. Wie Sie sich gewiss erinnern, pflege ich mich bis zu einem gewissen Punkt zu informieren, was aus einigen der Beteiligten meiner Fälle im Nachgang geworden ist. Dies war hier nicht anders, umso mehr, da es sich um einen Täter handelte, den ich nur aufgrund seiner bemitleidenswerten Erscheinung, habe laufen lassen. Verschiedene Stellen sind mir hier immer nützlich gewesen. Angefangen von meiner Baker Street-Spezialeinheit, über Reeder und offizielle Behörden.
  Ryder hielt zunächst Wort, kündigte im Cosmopolitan und bestieg wenig später ein Schiff gen Neue Welt. Als John Raffles – wenig kreativ, wenn ich das so sagen darf – begann er in New York ein Dasein als Großhändler für Hotelbedarf: Zimmereinrichtung, Blankobücher etc. Dies lag eingedenk seiner Qualifikationen ja durchaus nahe. Als mir nichts Beunruhigendes zu Ohren kam, stellte ich schließlich meine Recherchen ein; im Vertrauen, er habe seine Lektion gelernt und wisse die Chance zu nutzen, die wir ihm gewährt hatten. 
  „Aber so kam es nicht, habe ich recht? Hat er wieder gestohlen?“ Mir schwante die Antwort bereits.
„Wenn es nur das gewesen wäre, Watson“, flüsterte Holmes kaum vernehmlich, sein Blick schweifte ab.
„Vor wenigen Tagen erreichte mich ein kurzer Brief von der Detektei Pinkerton aus New York. Wenn Sie möchten, lese ich Ihnen diesen Brief vor, ich habe ihn hier bei mir.“
  „Aber natürlich, Holmes, lesen Sie.“
  Holmes zog ein längliches Kuvert aus der Innentasche seines Sakkos und entnahm einen Bogen zartrosa gefärbten Papiers. Er las, die Stimme voller Ernüchterung.

  +++ Lieber Mr. Holmes,
bei der Durchsicht der Akten meines Vaters sowie derer meines verstorbenen Bruders stieß ich auf eine Reihe von Ermittlungen, die beide für Sie in der Vergangenheit durchgeführt haben. In den Aufzeichnungen meines Bruders las ich von Auskünften, die sie über einen gewissen John Raffles alias James Ryder erbeten hatten. Da ich mit besagtem Herrn vor kurzem beruflichen Kontakt pflegen musste, fühle ich mich unter Annahme Ihres weiterhin bestehenden Interesses am Subjekt verpflichtet, Sie auf den neusten Stand zu bringen:
Raffles fiel uns in den letzten Jahren des Öfteren auf, da er im Verdacht stand, einen Menschenhändlerring innerhalb der Strukturen seines Hotelbedarfsgeschäfts zu betreiben. Dieser Verdacht bestätigte sich unlängst auf dramatische Weise. Raffles und sein Komplize Robert Lineker wurden vor wenigen Wochen von der Polizei in New Jersey gefasst, als sie die menschliche Fracht eines als Materialdampfer getarnten Schiffes in Empfang genommen haben. Beiden gelang zunächst die Flucht aus dem Gewahrsam der Polizei, wurden aber wenig später gestellt und erschossen. Wir waren im Laufe der Jahre von verschiedenen Seiten mit Ermittlungen gegen Raffles und seine Helfershelfer beauftragt worden. Nach unseren jetzigen Erkenntnissen waren sie für die Verschleppung und Versklavung von mehr als 2000 vorwiegend jungen Frauen verantwortlich, deren Schicksal weitgehend ungeklärt ist. Sollten Sie weitere Informationen zum Sachverhalt wünschen, lassen Sie es mich bitte wissen.
Hochachtungsvoll
William Pinkerton +++

Ich saß einige Zeit regungslos da. In Holmes Gesicht zeichneten sich tiefe Trauer und Fassungslosigkeit ab, in die ihn dieser Brief noch immer stürzen konnte. Natürlich stellte ich mir sogleich vor, was in Holmes‘ Kopf vorging. Ich verstand seine Betrübnis nur allzu gut. Wir waren direkt für den Schrecken mitverantwortlich, der sich einige tausend Meilen jenseits des großen Teiches in den letzten Jahrzehnten zugetragen hatte. Ryder war ein Verbrecher der übelsten Sorte geworden. Holmes’ Einschätzung von damals – eine Einschätzung, die ich teilte – hatte sich als grober Fehler erwiesen. Der Diebstahl des blauen Karfunkels stellte somit nicht das Ende seiner Gesetzlosigkeit dar, sondern den geradezu lächerlich dürftigen Auftakt zu einer schlimmen Geschichte mit einem katastrophalen Finale.
  „Was sagen Sie dazu, guter Watson? Was nur sollen wir nun über mich denken? Ich habe mir den Alleingang in einer Sache angemaßt, für die mir niemand Legitimation verliehen hatte. Sie können mir gern glauben, wenn ich Ihnen sage, dass im Verlauf der letzten Tage kaum eine wache Minute verging, in der ich nicht mit meiner Anmaßung von damals haderte. Und nicht nur das, Watson. Wie Sie wissen, war dieser nicht der einzige Fall, bei dem ich oder wir gemeinsam das Gesetz in die eigenen Hände genommen haben. Ich erinnere nur an die Begebenheit mit Captain Croker, als wir uns anmaßten, Richter und Geschworene in Personalunion zu sein.“
  „Gerade diese Geschichte sollte Sie aber zuversichtlich stimmen, da die übliche Verfahrensweise des Gesetztes mehr Schaden angerichtet hätte, als  angemessen gewesen wäre, Holmes.“
  „Sicher, in diesem Fall haben Sie Recht. Aber wer kann schon vorab den Weg eines Menschen kennen, wenn er seiner von der Krone vorgesehenen Strafe entkommt? Ryder fühlte sich von diesem Erfolg offenbar inspiriert, das Gesetz weiterhin zu ignorieren. Er war ja schon einmal straflos davongekommen, warum sollte dies nicht wieder gelingen?“
  „Ich verstehe Ihre Misere, weil sie ja auch die meine ist. Nur, wo liegt die Lösung? Rückgängig lassen sich die Entscheidungen der Vergangenheit kaum mehr machen. Wollten Sie das überhaupt?“
  Holmes sah mich nachdenklich an und nahm ein Buch auf, das wohl auf dem leeren Stuhl neben ihm gelegen hatte, mir war es bis jetzt noch nicht aufgefallen. Er blätterte ziellos darin herum. „Der Raskolnikow, lieber Watson,“ sagte er tonlos, als ich den Titel gerade entziffert hatte.  „Es ist Jahre her, dass ich dieses Werk zum letzten Mal in Händen hielt. Ich dachte, es hilft mir, mich mit meiner Misere wenigstens nicht ganz allein zu fühlen.“
  „Und hatten Sie Erfolg?“
  „Nicht wirklich, mein Freund. Vielmehr wurde mir die Lösungsresistenz des mir auferlegten Problems erst recht vor Augen geführt. Wie der Protagonist bereits dem Namen nach offenbart, bleibt am Ende nur ein Gefühl der Gespaltenheit; eine Ratlosigkeit, wie sie wohl dem Leben eines Menschen eigen ist, der oftmals große Risiken eingegangen ist. Früher, guter Watson, hätte ich die Sache pragmatischer betrachtet. Jetzt, in der Ruhe und Empfindlichkeit des Alters und in der Abgeschiedenheit trifft sie mich wie ein tonnenschwerer Stein. Mal von Dostojewski abgesehen: Einen konkreten Lösungsansatz dieser moralischen Fragestellung fand sich für mich bisher nirgends. Da bleibt mir, dem Theoretiker, wohl nur der Weg des Versuchs einer teilweisen Wiedergutmachung.“
  „Sie wollen Ryders Opfern helfen?“ fragte ich; im Wissen um die Last, die ein solches Vorhaben bedeutet.
  „Pinkerton habe ich bereits telefonisch darüber in Kenntnis gesetzt, was ich mit der Hilfe seiner Agentur zu tun beabsichtige. Er soll so viele frühere Opfer Ryders‘ ausfindig machen wie nur möglich. Auch Angehörige von möglicherweise verstorbenen Damen, die in die Klauen dieses Unmenschen gefallen sind, soll er ermitteln. Dann werden wir von Fall zu Fall sehen, was für die Betroffenen getan werden kann. Vielleicht kann ich finanzielle Hilfe leisten, vielleicht gelingt es uns durch entsprechende Kontakte, ihnen seriöse Arbeitsstellen, Schulen oder Wohnstätten zu vermitteln. Oftmals – gerade bei jüngeren Mädchen – könnte auch die von Freud begründete Psychotherapie hilfreich sein, das Erlebte zu verarbeiten.“
  „Das ist sehr löblich von Ihnen, Holmes. Vielleicht liegt darin auch die Lösung Ihres moralischen Dilemmas.“ Ein warmer Schimmer flackerte in Holmes’ Augen.
  „Ich höre, mein Freund.“
  „Nun, Holmes. Die Lösung liegt aus meiner Sicht zuerst in der Akzeptanz, dass Unsicherheiten zur Gleichung Ihrer Arbeit gehören. Trotz dieser Katastrophe bin ich fest überzeugt, dass Sie mehr Leben gerettet haben, als Menschen geschadet. Indem Sie in den wenigen Fällen einer Fehleinschätzung um Wiedergutmachung bemüht sind, greifen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten in die Gleichung ein: Sie reduzieren die negativen Folgen aus den Unsicherheiten Ihrer moralischen Entscheidungen. Auch wenn wir hie und da selbst zum Gesetz geworden sind, beweisen Sie hiermit, dass dies nicht aus Arroganz oder Leichtfertigkeit geschah, sondern dass Sie am größtmöglichen Wohl für alle Beteiligten interessiert sind. Im Übrigen: Sollten Sie ein wenig finanzielle Unterstützung benötigen in dieser Frage, stehe ich selbstverständlich zur Verfügung.“
  „Haben Sie recht herzlichen Dank, mein guter Watson“, erwiderte Holmes mit ungewohnt dünner Stimme. „Sie hätten den Raskolnikow schreiben sollen, mein Lieber. So viel Zielorientierung fehlt diesem Werk aus meiner Sicht.“ 
  Holmes war wirklich gerührt. Die Worte, die ich an meinen Freund gerichtet hatte, waren von mir nicht unter der Prämisse einer höchstmöglichen Wirkung gewählt. Der kühle Denker, der Wissenschaftler, der Analytiker – er war in einem Maße mitfühlend, wie es die größten Philanthropen unserer Tage waren. Gewiss, es mangelte ihm zuweilen an der nötigen Empathie für sein direktes Gegenüber. Dies wusste er allerdings auf vielfältigen Wegen auszugleichen.

Ich blieb nach telefonischer Absprache mit meiner Frau noch drei Tage bei meinem Freund. Wir tauschten uns über die guten alten Zeiten aus, frönten aber auch der Gegenwart in gebührender Weise. Sein Freund Harold Stackhurst kam am zweiten Abend zu Besuch. Ich konnte gut verstehen, weswegen mein alter Freund die Gesellschaft dieses intellektuell beschlagenen Lehrers schätzte. Zudem kam ich in den Genuss einer Vielzahl von Bienenstichen – verständlich, schließlich hatten diese Biester an Holmes selbst (laut seiner eigenen Aussage) keinerlei diesbezügliches Interesse. Am Tage meiner Abreise verlies ich Holmes und seine unzähligen Bienenvölker in der Gewissheit, er könne sich mit dem Geschehenen arrangieren. Die Möglichkeit, Hilfe leisten zu können; das Schicksal anderer nicht tatenlos hinzunehmen, ist vielleicht die Antwort auf so manche Probleme unserer stürmischen Gegenwart. 

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