HOLMES sagt: Die weibliche Variable (II)

Aus meiner Sicht handelt es sich beim Feminismus nicht um ein modernes Phänomen. Lediglich hat es in der Gegenwart deutlich an Gewicht gewonnen. Der Feminismus ist - zu Recht - sendungsbewusst geworden. Der aktuelle "Baker Street Chronicle" befasst sich in verschiedenster Art mit den Rechten der Frauen unter besonderer Berücksichtigung der viktorianischen Epoche. Mein Beitrag - in Form einer viktorianischen Kolumne - findet sich ebenso in besagter Ausgabe, wie auch hier, in meiner Chronik.

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HOLMES sagt: Die weibliche Variable

Der Premier sah Holmes zwinkernd an.

«Kommen Sie, Sir», sagte er. «Da steckt doch mehr dahinter, als man auf den ersten Blick meint. Wie ist der Brief in die Box gekommen?»

Holmes wandte sich von dem forschenden Blick dieser wunderbaren Augen ab.

«Auch wir haben unsere diplomatischen Geheimnisse», sagte er, nahm seinen Hut und ging zur Tür. (SECO)

Im Anschluss an diese denkwürdige Begebenheit – sie fand unter den Titel „Der zweite Fleck“ Einzug in meine Chronik – machten Holmes und ich uns auf den Weg zurück in die Baker Street. Als wir unsere Kutsche bestiegen und sich die Räder in Bewegung setzten, resümierte ich im Stillen noch einmal, welch triviale Nichtigkeit unser Land eben beinahe in einen furchtbaren Krieg gestürzt hätte. Eine angesehene Frau von nobelster Herkunft hatte mit ihrer Unbedachtheit unwissentlich eine Folge von Ereignissen in Gang gesetzt, die sich zu einem Desaster für ihren Mann und die Nation hätte auswachsen können. Der falsche Stolz der Lady Hilda vernebelte ihr unleugbar den Blick für die Auswirkungen ihrer Taten. Gerade durch meine militärische Prägung vermochte ich frühzeitig Situationen zu erkennen, die die Hintanstellung eigener Befindlichkeiten befahlen, um dem höheren Wohl dienen zu können. Selbst Holmes beherzigte diese Prämisse des Öfteren — trotz seines bohèmen Lebensstils.

Zuhause in der Baker Street genehmigten wir uns einen verspäteten Lunch, den Mrs. Hudson uns glücklicherweise schnell in Form warmer Bacon-Sandwiches servierte. Dem Mittagsmahl folgte ein Earl Grey nebst einer Pfeife Shag für Holmes und einer Zigarre für mich. Holmes hatte seit unserer Abfahrt von Whitehall Terrace nicht viel gesprochen. Er war offensichtlich angesichts seines Erfolges euphorisiert, jedoch beschäftigte ihn etwas im Innersten, das sich vor dem Hochgefühl des Triumphs in grüblerische Schatten geflüchtet hatte.

«Ist es nicht geradezu exemplarisch, guter Watson?» brach mein Gefährte endlich das lange Schweigen.

«Was meinen Sie?» versetzte ich darauf.

«Dieses glanzvolle Exemplar einer Frau wäre eher bereit gewesen, unser Land in einen Krieg zu treiben, der Tausenden das Leben gekostet hätte, als sich selbst und ihrem Mann eine Eselei einzugestehen, die sie selbst zu verantworten hat.»

«Ich muss mich darüber auch sehr wundern, Holmes. Ob dieser Einzelfall jedoch zur Erhärtung Ihrer doch sehr geringschätzigen Theorie behufs des schönen Geschlechts beitragen kann, wage ich zu bezweifeln.»

«Dabei handelt es sich gewiss nicht bloß um eine Ansicht oder Meinung, teurer Freund. In den Jahren meiner beruflichen Tätigkeit ist mir ein solches Verhaltensmuster, welches wir vor wenigen Stunden bei Mrs. Hilda Trelawney Hope beobachten konnten, schon in zahlloser Häufung und in unterschiedlichster Couleur untergekommen. In meinem Index finden sich dutzende Fälle ähnlicher Art. Der notorische Mangel an grundlegenden Fähigkeiten im logischen Denken und allgemeiner Vernunft beim weiblichen Geschlecht ist mir vielmehr zum Axiom geworden. Ich rechne damit, wenn ich meine deduktiven Ketten knüpfe. Jener Mangel an Logik und Erkenntnisvermögen zwingt mich somit, auch innerhalb meiner Gedankenkonstrukte mit Variablen zu arbeiten. Diese Variablen – die mir die Arbeit enorm erschweren – werden im Übrigen umso zahlreicher und umfangreicher, je höher die betreffende Dame gesellschaftlich angesiedelt ist. Langeweile scheint dem Irrsinn wohl Vorschub zu leisten.»

Ich hatte Sherlock Holmes schon des Öfteren in jener abschätzigen Art über Frauen sprechen hören. Doch diesmal schien mir seine Kritik so allumfassend, rigoros und eigentümlich deplatziert, dass ich sie nicht so einfach stehen lassen konnte. «Holmes, ich möchte gern etwas erwidern», sagte ich mit erhobener Hand. 

«Ich halte Sie nicht auf», meinte Holmes nonchalant.

«Sie haben sicher Recht, wenn Sie auf die zuweilen recht eigentümlichen Verhaltensweisen einiger Frauen hinweisen. Mir selbst ist dies schon des Öfteren aufgefallen, auch wenn einmal keines dieser Geschöpfe Ihre deduktiven Ketten als enervierende Variable unterwandert hätte. Jedoch meine ich – und hier spreche ich gewiss aus einer fundamentaleren Erfahrung, als Sie sie haben – das Sie zu allgemein urteilen. Wir beide sind bereits Damen begegnet, die es in Logik- und Vernunftfragen mit den meisten Gentlemen aufnehmen können.»

«Die eine oder andere Ausnahme widerlegt noch lange nicht die offenkundige Regel» kappte Holmes mir das Wort.

«Warum nicht, Holmes? Es ist doch so, dass wir nicht wissen können, was in der einen oder anderen Frau steckt, wenn wir sie nur als störenden Teil einer ansonsten homogenen Gleichung betrachten.»

«Pah» blaffte mir mein Mitbewohner entgegen.

«Ja, ‚Pah’ trifft es mit Gewissheit», hörten wir von der Tür aus im rüden Mezzosopran rufen.

Erschrocken starrten Holmes und ich zur Tür — und ins grimmige Gesicht Mrs. Hudsons, die mit ehrfurchtgebietendem Schritt ins Zimmer trat. In Händen hielt sie das silberne Tablett, mit dem sie unseren Tisch vom liegengebliebenen Geschirr zu befreien gedacht hatte. Üblicherweise mischte sie sich nicht in Gespräche, an denen sie nicht beteiligt war. Heute sollte es sich anders verhalten, was ich zweifelsfrei an ihrem Gesicht ablesen konnte, Es glühte rötlich und lag in Falten, die wir nicht kannten – Falten eines stolzen Zorns. Unbestreitbar grollte sie gegen Holmes ob seiner abfälligen Bemerkungen gegenüber dem schönen Geschlecht. Je nachdem, wie lange die gute Mrs. Hudson unserem Gespräch schon gelauscht hatte, aus gutem Grund.

«Von Ihnen hätte ich nichts anderes erwartet», hob unsere Vermieterin an und sah Holmes aus engen Sehschlitzen an. «Sie verstehen von Frauen so viel wie ein alter Seebär von abendländischer Philosophie. Wenngleich ich mich auch immer wieder wundere, warum Sie – entgegen Ihrer üblichen Gewohnheiten – auch ohne irgendwelche fundierten Erfahrungswerte so klar in der Sache urteilen. Aber Sie, mein eigentlich geschätzter Doktor», sie blickte mich an, und ihre Züge wurden stockfinster, «Sie erschüttern mich mit Ihrer gönnerhaften Arroganz bis ins Mark.»

Nun war ich völlig verdutzt. «Du meine Güte, Mrs. Hudson. Ich verhöre mich wohl. Habe ich nicht eben noch für ihr ganzes Geschlecht Partei ergriffen und Holmes’ Generalkritik aufs Schärfste widersprochen?»

«Mein lieber Doktor», erwiderte Mrs. Hudson nun etwas milder, allerdings mit zunehmend ironischem Unterton, «ich halte Ihnen zu Gute, dass Sie offenbar nicht begreifen können, dass wir Frauen nicht sehr viel Wert darauf legen, ob Sie oder andere Herren Partei für uns ergreifen oder unsere wenigen ach so dürftigen Begabungen ins Licht stellen.

Mr. Holmes ist» fuhr unsere Hauswirtin nun ernst fort «obgleich ich ihn sehr schätze und in meinem Haus nicht mehr missen möchte – aufgrund seiner stets ergebnisorientierten Denkart wohl nicht wirklich gewillt und vielleicht nicht einmal befähigt, die wahren Begabungen der Frauen zu erkennen und damit hinter die gesellschaftlichen Zwänge zu blicken, denen wir uns als wahre Hüterinnen des Empires doch bitte stets unterordnen mögen. Sie, mein hochgeschätzter Doktor Watson, müssten es jedoch besser wissen. So, wie es die meisten Herrschaften dieses Landes besser wissen müssten.»

Mittlerweile hatten mich Mrs. Hudsons Äußerungen derart verunsichert, dass ich ihre Sprechpause nicht zu nutzen wusste und ob meiner Irritation lieber schwieg. Holmes jedoch ergriff behutsam das Wort und wirkte dabei, zu meiner größten Verwunderung, sehr ruhig und respektvoll, wenn man bedenkt, wie mitleidlos sie ihn eben angegriffen hatte.

«Mrs. Hudson, Sie haben die Theorie dargelegt, Frauen seien ebenso begabt und zudem befähigt zum logischen Denken, wie es Männer sind.»

«So könnte man das ausdrücken», erwiderte sie.

«Dann sind Sie sicher auch in der Lage, diese gewagte These entsprechend zu belegen. Welche sind Ihre Beweise und was folgern Sie aus ihnen?»

«Also, Mr. Holmes: Zuerst möchte ich den Herren in Erinnerung führen, dass wir ganz offenkundig in einer Welt leben, die von Männern bestimmt, gelenkt und beherrscht wird.» «Beinahe könnte man meinen, diese drei Begriffe beschrieben alle dasselbe», fiel mein Freund der guten Mrs. Hudson süffisant ins Wort. «Und beinahe könnte man der Ansicht sein, Sie fänden Fehler in meinen Ausführungen, weil Sie speziell nach welchen suchen, anstatt zu hören, worauf ich hinauswollte», konterte unsere Gesprächspartnerin hierauf keck. 

«Darf ich fortfahren, Mr. Holmes?»

«Gewiss, Mrs. Hudson», erwiderte Holmes und schloss darauf seine Augen.

«Nun, wo war ich? Ach richtig: Das Patriarchat bestimmt, lenkt und beherrscht die ganze Welt. Diese zugegeben sehr ähnlichen Begriffe habe ich bewusst so gewählt, um zwischen drei verschiedenen Bereichen des Lebens metaphorisch zu unterscheiden. Die Männer bestimmen in allen relevanten gesellschaftlichen Angelegenheiten, welche Befugnisse ihre Ehefrauen oder Töchter erhalten, um sich in das Familienleben einzubringen. Männer dürfen selbstverständlich ein College besuchen, arbeiten gehen und Entscheidungen von Belang treffen. Frauen bedürfen dafür der Billigung ihrer Männer. 

Die Herren lenken die Wirtschaft der Nation und verschließen den Damen dann in aller Regel den Zugang zur eigenen ökonomischen Unabhängigkeit, die mit hohen Positionen auf dem Arbeitsmarkt einhergeht. Begründet wird diese Schieflage nicht nur mit angeblich geschlechtsspezifisch veranlagten Defiziten bei den geistigen Fähigkeiten, sondern auch mit der Idee, den Frauen mangelte es an der nötigen Bildung für hohe Posten. Bildung, die der konkurrenzbewusste Mann per Beschluss den Frauen vorenthalten lässt. Und nun zum letzten Punkt. 

Die Gentlemen dieser Welt herrschen über andere Herren, gleichzeitig aber auch über die Frauen. Warum ist das so? Ihre Daseinsberechtigung bezieht eine Demokratie doch aus der Möglichkeit, ihre Herrscherriege wieder abwählen zu können. So wird ihre Effizienz kontrolliert und dem eigenen politischen Willen  Geltung verschafft. Nun, die Damen können an diesem Prozess weder aktiv noch passiv teilhaben. Wenn Probleme auftauchen, von denen speziell Frauen betroffen sind, sind sie erneut vom Wohlwollen der Männer abhängig, um sich in diesen Angelegenheiten Gehör und Gerechtigkeit zu verschaffen.

Ich hänge hier keinen Illusionen nach. Mir ist bewusst, dass eine wirkliche Gleichberechtigung nur dann Wirklichkeit werden kann, wenn nicht nur die Politiker oder andere einflussreiche Herrschaften erkennen, dass Frauen ein den Männern äquivalentes Potenzial in sich tragen. In Wirklichkeit beginnt die Ungleichbehandlung schon mit der frühesten Kindheit.»

«Sie meinen also, Mädchen und Jungen seien völlig gleich und sollten auch ohne Unterschied erzogen werden?» warf Holmes ein. Er hatte aufrichtig gelauscht.

«Gewiss nicht, mein lieber Mr. Holmes. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen weiblich und männlich, die über die reine Biologie hinausgehen. Es werden sich wohl immer deutlich mehr Männer für die Jagd begeistern können oder einer guten Zigarre zugetan sein als das unter Frauen der Fall ist. Umgekehrt sind die Damen vielmehr der Handarbeit zugeneigt oder engagierte Köchinnen.» 

«Was ich in Ihrem Fall absolut bestätigen kann», versuchte ich die angespannte Lage zu entschärfen.

«Haben Sie Dank, Doktor. Worauf ich allerdings hinaus möchte, ist Folgendes: Bei der Frage nach Gleichberechtigung dreht es sich nicht um das Einebnen jedweder Unterschiede, sondern vielmehr darum, beiden Geschlechtern die gleichen Möglichkeiten zu bieten. Wenn eine Dame einen bestimmten Beruf ergreifen möchte, sollte ihr das erlaubt sein. Frauen sollten ferner das Parlament wählen dürfen, um sich selbst in politische Entscheidungen einbringen zu können.»

«Ich erinnere mich, dass der außerparlamentarische Druck von Frauen doch unlängst zur Aufhebung der Contagious Diseases Acts geführt hat. Somit konnten Frauen, die ihre Begehrlichkeiten organisiert zum Ausdruck bringen, auch ohne aktives Wahlrecht Einfluss auf politische Prozesse nehmen», warf ich messerscharf ein.

«Gewiss, Doktor Watson. Aber was kann man aus diesem Erfolg schließen? Sie zielen mit Ihrer Äußerung doch darauf ab, dass dieses Ereignis zum Beweis gereichen sollte, wie Frauen sich und ihren Bedürfnissen auch ohne Wahlrecht Geltung verschaffen!» Eine Antwort auf Mrs. Hudsons rhetorische Frage erübrigte sich, weswegen ich gar nicht erst versuchte, ihr ins Wort zu fallen. «Was würden Sie davon halten, wenn jemand Ihnen Ihr Wahlrecht abspräche, da Sie ja Dank Ihrer hohen Bildung und Ihrer vollends entwickelten Fähigkeiten keines bräuchten? Josephine Butler und Ihren Mitstreiterinnen ergeht es genau so. Was schließen Sie also aus dem Erfolg ihrer Kampagne, Doktor Watson?»

Diesmal war es mir nicht möglich, einer passenden Antwort auszuweichen. Das war aber auch gar nicht nötig. Ich hatte unsere so eloquent argumentierende Hauswirtin verstanden und konnte ihr folgen.

«Nun, Mrs. Hudson, ich beuge mich Ihnen. Aus dem Erfolg der Butler-Kampagne gegen die Zwangsgesetze gegen Prostituierte kann man wohl mehrerlei schließen. Zuerst scheint es grotesk, nur die Frauen zu medizinischen Untersuchungen zu zwingen. Frauen, die dieser so anrüchigen Tätigkeit oftmals nur aus der Verzweiflung angesichts ihres harten Lebensloses nachgehen. Die Marineoffiziere und anderen Herrschaften, die sich der Dienste der leichten Damen bedienen, tun dies jedoch aus freien Stücken und wurden nicht zu irgendwelchen entwürdigenden Examinationen gedrängt. Worauf Sie aber hinauswollen – so  vermute ich – ist Folgendes: Die Behauptungen, Frauen seien zu stark von ihren Emotionen geleitet, es mangele ihnen an Organisationsvermögen und der Fähigkeit, logisch zu denken und zu handeln, weswegen sie sich auch nicht als Wählerinnen, Hausvorstände, Akademikerinnen und ganz allgemein als Führungspersönlichkeiten eigneten, werden unter anderem vom Erfolg Mrs. Butlers und ihrer Mitstreiterinnen ad absurdum geführt. Ihr Erfolg legt nahe, dass sämtliche Begründungen, die so häufig angeführt werden, völlig fadenscheinig sind», resümierte ich Mrs. Hudsons Ansprache.

«Bravo, mein lieber Doktor. Jetzt haben Sie es verstanden. Wie so viele meiner Geschlechtsgenossinnen ersuche ich weder um eine Sonderbehandlung, noch um Privilegien und erst recht nicht um Schmeicheleien. Ich habe nichts gegen die harmlosen Konventionen des alltäglichen Lebens, die wahre Gentlemen den Damen erweisen. Und wenn sich eine Dame entscheidet, den traditionsbewussten Lebensweg der Frau einzuschlagen, auf dem sie sich öffentlich Contenance wahrt, den Haushalt führt und sich einzig um ihre Kinder kümmert, sollte ihr dies vorbehaltlos offenstehen. Alle Grundrechte unseres schönen Königreiches sollten allen Herren und ausnahmslos auch allen Frauen gewährt werden, damit jene, die es möchten, selbstbestimmt für ihre Rechte und Bedürfnisse einstehen können. Frauen sollten sich überall dort verwirklichen können, wo sie es wollen und dafür nicht von der Billigung anderer abhängig sein. Unter den Damen der Schöpfung finden sich Eselinnen und Torinnen in ebenso großer Menge wie unter den Herren. Wenn man die Frauen sich aber entwickeln lässt, frei und gleichberechtigt, was meinen Sie, meine Herren, könnte dann möglich sein?»

Mrs. Hudson endete so feierlich, wie sie hochverärgert begonnen hatte. Sie ging zu unserem Tisch und schickte sich an, ihn vom leeren Geschirr zu befreien. Holmes, der seit geraumer Zeit weder seine Miene verzogen, noch irgendetwas erwidert hatte, gebot ihr mit einer Handbewegung Einhalt. Mrs. Hudson hielt inne, als Holmes begann, Teller für Teller und alles Besteck feinsäuberlich auf Mrs. Hudsons Tablet zu drapieren. Als unsere Vermieterin sich aufmachte, unseren Salon zu verlassen, rief Holmes ihr einen sanften und etwas kleinlauten Dank hinterher. Lächelnd nahm sie die stille Ehrfurchtsbekundung ihres Meisterdetektivs zur Kenntnis. 

«Es gab Zeiten», schmunzelte Holmes in die Stille, «da hätte eine Frau mit Ihrem scharfen Verstand und Ihrer Einsicht den Scheiterhaufen fürchten müssen.» Mrs. Hudsons Lächeln wurde breiter.

«Ich nehme dies als Kompliment, lieber Mr. Holmes. Nur bedenken Sie, in welchem Maße hätten Ihre beeindruckenden Fähigkeiten damals das Misstrauen der einfachen Leute erregt? Vielleicht hätte Sie dasselbe Schicksal ereilt.»

«Hier muss ich Ihnen widersprechen. Hätte man mich der Zauberei oder dergleichen verdächtigt, wäre ich mit viel höherer Wahrscheinlichkeit den rigorosen Maßnahmen der einfachen Leute entgangen.»

«Wie kommen Sie zu diesem Schluss?», versetzte eine verdutzte Mrs. Hudson.

«Bedauerlicherweise, weil ich ein Mann bin.»

An diesem Abend – mittlerweile dämmerte es – sah ich Sherlock Holmes sehr nachdenklich. Zudem schien er von der Frau, die wir sonst nur als gute Seele oder hilfsbereite Dame des Hauses gekannt hatten, auf seine Art ebenso beeindruckt zu sein, wie ich selbst es war. 

Mrs. Hudson war eine stille, aber nicht minder geniale Pionierin einer Bewegung  mutiger Frauen, die später als Suffragetten nicht nur in die Geschichtsbücher Einzug halten sollten. Zum Zeitpunkt, da ich diese Worte niederschreibe, jährt sich gerade der Tag der Einführung des Frauenwahlrechts in Großbritannien zum fünften Mal. Inzwischen trifft man begabte Damen als Ärztinnen in den Praxen und Krankenhäusern, als Professorinnen an den Universitäten und selbst im Parlament. Oftmals haben sie es noch immer schwer, in einer von Männern dominierten Welt ihren Platz zu behaupten. Mrs. Hudson und wenig später meine erste Frau Mary öffneten meinen Blick für ein Dilemma, dass sich über Äonen hinweg vor unser aller Augen abgespielt hat. Gewiss wird es noch lange dauern, bis auch der letzte Mensch begriffen hat, dass niemand einem anderen aufgrund seiner natürlichen Anlagen überlegen ist. Auch ich habe einige Zeit benötigt, um mich von den gesellschaftlichen zementierten Scheuklappen zu befreien. 

Auch Sherlock Holmes zeigte sich nach Mrs. Hudsons spektakulärem Auftritt verändert. Zwar neigte er dann und wann noch immer zu abschätzigen Bemerkungen über das schöne Geschlecht. Vielleicht aber aus anderen Gründen, die wohl persönlicher waren, als er zugeben wollte. Jedoch verloren Holmes’ Äußerungen zunehmend ihre Giftigkeit. Nach jenem denkwürdigen Nachmittag verehrte er Mrs. Hudson leidenschaftlich. Ich hege keinerlei Zweifel daran, dass er jederzeit sein Leben riskiert hätte, um die gute Mrs. Hudson auch nur vor dem geringsten Übel zu bewahren. So gab es im Leben des großen Meisters aller messerscharfen Denkarbeit nun doch wenigstens zwei Frauen – DIE Frauen.

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