HOLMES sagt: Der Hüter der Demokratie (I)


Vor einigen Wochen erschien die Frühjahrsausgabe des Baker Street Chronicle. Meine neue Serie von viktorianischen Kolumnen aus dem Munde des großen Meisters der Deduktion findet dort ihren Anfang.
Hier möchte ich versuchen, aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen im sherlockianischen Gewand zu beleuchten.

Wir leben ganz offenbar in einer Zeit großer zwischenmenschlicher Zerwürfnisse. Populismus greift ebenso um sich, wie die Unfähigkeit der Menschen den Konsens zu suchen. Ein jeder voreilige gedankliche oder emotionale Erguss wird der nüchternen Analyse nur allzu oft vorgezogen. Wer kann noch helfen? Vielleicht der Meister dieser nüchternen und sachlichen Schlussfolgerungen, Mister Sherlock Holmes. Die Probleme von heute sind keineswegs gänzlich neu, sie entstehen nur immer wieder aufs neue, da der Mensch offenbar kaum im Stande ist die richtigen Schlüsse aus den Fehlern der Vergangenheit zu ziehen. Es ist so und wir wissen es alle: "Es gibt nichts Neues unter der Sonne".

Die gesamte Ausgabe des aktuellen Chronicle ist unter folgenden Link zu bestellen:


HOLMES sagt:

Der Hüter der Demokratie

Sie erfreuen sich eines erklecklichen Leserkreises; meine Berichte jener Heldentaten, die meinen Freund Sherlock Holmes bezüglich seiner großen Passion so gründlich wie auch literarisch eingehend beleuchten. Jedoch – dies mag mir der Leser geflissentlich nachsehen – habe ich von Zeit zu Zeit auch Aufzeichnungen angefertigt, die Resultat – quasi Protokoll – einiger angeregter Gespräche sind, die Holmes und ich im Laufe der vielen Jahre unseres gemeinsamen Lebenswegs geführt haben. Oftmals drehten sich besagte Unterhaltungen um ganz alltägliche Sachverhalte, Nebensächlichkeiten, mit denen ich meine geneigten Leser nicht langweilen möchte. In einigen Fällen jedoch streiften unsere Erörterungen Themen, zu denen Holmes’ Ansichten als geeignet zu bezeichnen sind, einen intellektuellen – zuweilen gar moralischen – Beitrag zur öffentlichen Debatte beizutragen.

Wie intensiv sich der große Detektiv auch mit zeitgenössischen Themen auseinandersetzte, möchte ich mit dem Bericht über ein Gespräch zwischen Holmes und meiner Person aufzeigen; geführt im August des Jahres 1901. Ich verbinde dies zum einen mit der Hoffnung, den Geist der Denkmaschine umfassender zu beleuchten, als dies durch die simple Wiedergabe kriminalistischer Begebenheiten möglich ist. Zum anderen – ich erwähnte es bereits – verdienen es einige der Äußerungen Holmes', von der Öffentlichkeit vernommen zu werden. Eines Tages wird man wissen können, inwiefern seine Einsichten und Prognosen auch hier jener präzisen Beobachtungs- und Schlussfolgerungsgabe entsprachen, die er im kriminalistischen Bereich immer wieder unter Beweis gestellt hat.

Zur Nachmittagszeit eines durchaus warmen Augusttages 1901 saßen Holmes und ich beim Tee und ließen uns Mrs. Hudsons sorgsam arrangierte Canapés schmecken. In den späteren Tagen unseres gemeinsamen Wirkens legte Holmes zunehmend großen Wert auf eine „geregelte Nahrungsaufnahme“, wie er zu sagen pflegte. Dies machte sich auch an seinem Äußeren bemerkbar, und er hatte zu dieser Zeit einige wenige Pfunde zugelegt, die ihm gut zu Gesichte standen. So saß er also da; der große, nicht mehr ganz so hagere Mann, sinnierte mit geschlossenen Augen vor sich hin, nippte von Zeit zu Zeit am Tee oder genoss ein nährendes Häppchen – wohlgemerkt, ohne dabei auch nur ein einziges Mal die Augen zu öffnen. Ich vertrieb derweil die Minuten, indem ich mir die Frühausgabe der Times genauer zu Gemüte führte – am Morgen war mir das nicht gelungen, da Holmes – gemäß seiner Gewohnheiten – das Blatt in ausdauernden Beschlag genommen hatte.

«Watson, alter Knabe! Sparen Sie sich Ihre Verärgerung für unseren nächsten Verbrecher auf und lassen Sie die Dummköpfe sagen, was sie wollen. Nur die Krone hält sie zusammen, unsere wankelmütige Gesellschaft, dessen seien Sie sich gewiss.» Ich zuckte in meinem Sessel zusammen.

«Mit geschlossenen Augen! Mein guter Holmes! Sie werden immer besser», rief ich voller Bewunderung aus.

«Durch Ausschaltung einer Sinneswahrnehmung wird die Sensibilität der verbliebenen geschärft, Watson. So habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, dem blinden Burschen aus jener Mission nachzueifern, mit welchem wir vor wenigen Wochen im Zuge der Ermittlungen um diesen Betrüger-Ring Bekanntschaft geschlossen haben», gab Holmes mir darauf mit bester Laune zu verstehen und ließ ob meiner fragenden Blicke mit einer Erklärung nicht auf sich warten.

«Sehen Sie, mein Freund, wie Sie bereits wissen, studiere ich die Times jeden Morgen sehr ausführlich und lasse dabei größte Sorgfalt walten.»

«Allerdings, und darum darf ich mir des Öfteren noch ein eigenes Exemplar besorgen, damit ich nicht bis zur Abendausgabe warten muss, um diejenige vom Morgen lesen zu können», warf ich ein; sowohl resigniert als auch belustigt.

«Gewiss. Heute jedoch haben Sie darauf verzichtet. Ihnen wird kaum entgangen sein, dass ich meine Augen vorhin just in dem Moment schloss, da Sie sich der Zeitung annahmen. Dies schien mir eine geeignete Gelegenheit, meine übrigen Sinne in eben jener Weise zu erproben, wie es unsere blinden Freunde aus St. Andrew notwendigerweise tun. Im Lichte meiner präzisen Erinnerungen zählte ich also die Seiten, die Sie um- oder überblätterten. Zudem achtete ich auf vernehmliche Gefühlsäußerungen, welche Sie immerzu ganz und gar willkürlich von sich geben, wenn Sie mit dem Geschriebenen einverstanden sind oder in Opposition zum Autor stehen. Hier gibt es Unterschiede: Eine schlechte Nachricht nehmen Sie mit einem wehmütigen Schnaufen zur Kenntnis; und einen Ihrer Sicht nach zusammengestümperten Artikel quittieren Sie für gewöhnlich mit einen verächtlichen Schnauben. Meine Zählung verriet mir, dass Sie sich eben auf Seite 18 befanden. Nicht immer lesen Sie die Artikel in chronologischer Reihenfolge, also blieb mir – laut meiner mentalen Aufzeichnungen – die Wahl zwischen einer kurzen Kolumne über die Weizenimporte, einem Bericht zur Abstimmung über irgendwelche unsinnigen parlamentarischen Präliminarien – und einem recht eindringlichen Artikel zu den angeblich wachsenden Vorbehalten gegen die britische Monarchie nach der verspäteten Krönung Edwards VII. Da sie dem allseits bekannten wehmütigen Schnaufen noch eine Art Grummeln folgen ließen, war mir sofort bewusst, dass hier ein glühender Royalist und loyaler Brite mit der in seinen Augen traurigen Ignoranz einiger Mitmenschen konfrontiert ist.»

«Meine Güte, Holmes. Ganz und gar richtig. Aber sehen Sie das etwa anders als ich? Wer kann nicht von Stolz erfüllt sein, wenn er an unsere glorreiche Krone denkt und an alles, wofür sie steht?»

«Urteilen Sie nicht zu rasch, mein Guter. Auch in mir sehen Sie, wie Sie wissen, einen glühenden Verfechter der britischen Monarchie. Wenngleich ich auch gestehen muss, dies aus anderen Gründen als den Ihrigen von mir sagen zu dürfen.»

«Was sonst außer Patriotismus und Vaterlandsliebe könnte einen Menschen denn zum loyalen Monarchisten reifen lassen, Holmes?»

«Pragmatismus, mein guter Watson. Die Auseinandersetzung der zugrundeliegenden Alternativen können mich nur zu dem Schluss bringen, dass die parlamentarisch gedachte Monarchie die Beste unter den vielen Staatsformen auf dieser unserer Welt darzustellen scheint.»

«Nach Vaterlandsliebe hört sich das nicht gerade an, Holmes.»

«Nun, Sie wissen ja wie ich zur Liebe stehe, sei es die romantische Liebe zu einem andern Menschen, oder zur Liebe zum Vaterland, das macht für mich keinen großen Unterschied. Liebe ist und bleibt für einen Menschen meiner Art gefährlich und trübt die Sinne für wahrhaft maßgebliche Sachverhalte. Wer blind vor Liebe einer menschenverachtenden Staatsmacht folgt, gewinnt nichts als Schmerz. Wer rationale Gründe findet, seinem Staate zu dienen und ihn zu respektieren, dessen Leben steht auf festem Grund und er gewinnt die Freiheit.»

«Gewiss, Holmes. Jedoch kann ein Brite stolz darauf sein, eben Brite und damit ein Untertan des Königs zu sein.»

«Wieso sollte das so sein? Sind sie auch stolz auf die Farbe Ihrer Haare oder auf die Tatsache, männlichen Geschlechts zu sein? Alles purer Zufall! Obgleich ich auch bei der Erörterung kriminalistischer Sachverhalte selten an zufällige Ereignisse zu glauben bereit bin, so spielt dies doch bei Fragen nach unserer Existenz oder unserer Nationalität eine bedeutende Rolle. Sicher ist es kein Zufall, wenn zwei Briten – nämlich Ihre werten Eltern – einen weiteren britischen Staatsbürger zeugen, jedoch hatten Sie persönlich keinen Anteil, dass dies dann auch tatsächlich so geschehen ist. Genauso wenig können Sie stolz auf ihre Herkunft sein, wenn Sie ohne eigenes Zutun in diese Rolle hineingeboren wurden. Dankbar können Sie sein. Der Begriff 'Stolz' scheint mir hierfür allerdings seltsam deplatziert.»

«In Ordnung, Holmes. Ich gestehe, so dezidiert habe ich mich mit Patriotismus bislang noch nicht beschäftigt. Ich sehe es eben vielmehr als Gefühl, eine gewisse Grundhaltung, die mir entspricht.»

«Das ehrt Sie, guter Watson. Dieser Grundhaltung ist es auch zu verdanken, dass Sie mir ein so treuer und verlässlicher Begleiter geworden sind. Sie nennen unverrückbare Prinzipien Ihr Eigen und stehen immer zu Ihrem Wort. Obwohl Sie dabei auch oft die Bereitschaft vermissen lassen, Ihren Horizont zu erweitern und dabei im Blick zu behalten, dass nicht Jedermann so denkt und fühlt wie Sie es tun.»

«Ja, das sagen Sie mir des Öfteren», erwiderte ich sehr leise.

«Teurer Freund, Sie wissen, ich möchte Sie nicht beleidigen. Es liegt mir lediglich am Herzen, Ihnen aufzuzeigen, dass ein jedes Fundament – auch das des eigenen Lebens – nicht auf Stroh oder Treibsand gebaut werden sollte. Im Mindesten sollte man wissen, woraus es besteht und worauf es gründet. Geburtsrecht ist kein Naturrecht, es ist eine Erfindung von Menschen und jener Staaten, die sie repräsentieren. Dankbarkeit und Freude sollten bei der Erkenntnis mitschwingen, welches Glück es bedeutet, in eben jenes strahlenden Land geboren zu sein, das wir so stolz unser Empire nennen. Stolz können wir sein auf unser Land, seine Kultur und Geschichte. Qua Geburt Teil dessen zu sein kann uns dennoch lediglich mit Dankbarkeit erfüllen; keineswegs mit Stolz. Stolz bezeichnet den zufriedenen Rückblick auf persönliche Verdienste.

Ein weiterer Lackmustest ist die Affinität zu anderen Kulturen – ob quasi in der Nachbarschaft oder gänzlich exotisch. Wer seine wachen Augen auf unsere ganze Welt und ihre Menschen richtet, die sie in ihrer Vielfältigkeit bewohnen, wird ebenso seinen Blick für das eigene Land und seine Kultur schärfen. Wenn wir nach solch einer unvoreingenommenen Betrachtung – welche selbst auch ein Beweis für die Potenz des Staates ist, da diese ein Ausdruck des freien Geistes darstellt – noch immer mit Stolz von der eigenen Heimat sprechen können, sind wir wahrlich gesegnet, Bürger der britischen Krone genannt zu werden, und ganz selbstverständlich die grundlegende Würde anderer Völker anzuerkennen. Denn auch wenn wir Zeit unseres Lebens immer wieder Kulturen und Ansichten begegnen, die wir möglicherweise nicht nachempfinden können, muss uns dies weder übermäßig ängstigen, noch sollten wir es als Trivialität abtun.»

«Manchmal erstaunen Sie mich noch immer und das in ganz ungewohnten Bereichen, mein lieber Holmes. Nur, was Sie mir noch schuldig sind: Aus welchem Grund teilen Sie meine Überzeugung, dass diese Antiroyalisten in die Irre laufen mit ihren kruden Forderungen nach einer Republik?» Holmes rückte sich in seinem Sessel etwas zurecht und schlug versonnen das rechte über das linke Bein. Ich gluckste – wie in alten Zeiten.

«Erstens existieren die antiroyalen Bestrebungen bereits beinahe halb so lange, wie es die Monarchie selbst gibt. Als Queen Victoria im Januar starb, erhielten die schlummernden Republikaner wieder neuen Aufwind für Ihre Ideen. Ihre Meinung kundzutun dürfen wir ihnen im Übrigen trotz unserer Überzeugungen nicht absprechen – so will es das Gesetz. Wenngleich unser Vaterland auch keine Republik ist, entspricht unsere ungeschriebene Verfassung dennoch der einer Demokratie. Und eine funktionierende Demokratie muss divergierende Meinungen ertragen können. Soweit dazu. Jetzt möchte ich aber zu des Pudels Kern vordringen: Eine Demokratie wie die unsere kann nur funktionstüchtig bleiben, wenn austauschbare und oftmals wankelmütige Politiker durch eine moralisch übergeordnete und beständige Macht legitimiert werden. Eine Macht wie die englische Krone repräsentiert unsere gesamte Nation; beauftragt und überwacht im Namen des Volkes deren exekutiven, legislativen und judikativen Institutionen, denen es oftmals am nötigen Rückhalt in der Bevölkerung mangelt, wie Sie wissen. Die Krone ist Sinnbild einer einenden und identitätsstiftenden Macht, deren Neutralität und Kontinuität unsere Nation in allen weltlichen und nicht zuletzt auch religiösen Belangen zusammenhält. Sie wissen ja nur zu gut, dass unser Monarch, nicht nur als Staatsoberhaupt waltet, sondern ebenso als weltliches Oberhaupt der Kirche von England. Glauben Sie mir, nicht irgendeine politische Partei oder ein charismatischer Premier hält unsere Gesellschaft als Ganzes zusammen, sondern lediglich der gemeinsame Blick auf dieses Mysterium, dass wir in all seinen Prunk und mit all seiner manchmal enervierenden Neutralität unter dem Ehrennamen 'Krone von England' ehren und schätzen dürfen. In den Nebeln halbgöttlich erhabener Legenden, taucht die einende Kraft derselben bereits beim alten König Artus auf, lange vor der Geburt unserer Nation.

Wenn wir ferner im vorliegenden Falle von einer Monarchie sprechen, sollten wir nicht vergessen, dass die britische Staatsform schon jetzt mehr mit einer Republik gemein hat, als mit den quasi absolutistischen Monarchien des Kontinents. Auf britischem Boden sind Alleingänge irgendwelcher wahnsinniger Despoten undenkbar. In einigen Reichen Europas halte ich dieses Szenario für mehr als wahrscheinlich. Das haarklein austarierte System gegenseitiger Kontrolle nebst sämtlicher – auf den ersten Blick so antiquiert wirkender – Katechismen unseres Staatsapparates vermögen diese Art von Kollateralschäden zu verhindern.» Andächtig lauschte ich Holmes' Worten und erinnerte mich kurz an den Tee in meiner Tasse, der mittlerweile erkaltet war.

«Werfen Sie Ihren Blick exempli causa einmal auf die gesellschaftliche Odyssee des von mir so geschätzten Frankreich innerhalb der letzten 130 Jahre», fuhr er fort. «Auf den menschenverachtenden Absolutismus der Bourbonenkönige folgte ein blutiger Aufstieg republikanischer Revolutionäre. Als diese schnell ihre eigenen Ideale verrieten, folgten die Bonapartisten, die trotz ihrer unleugbaren kulturellen Erfolge den Allmachtsfantasien der Absolutisten des 17. und 18. Jahrhunderts noch die Krone aufsetzten. Und nun, mein lieber Watson, ist die Grande Natión wieder eine Republik. Derlei Sprünge vom einen zum anderen Extrem unter erheblichen Identitätsverlusten blieben den Briten Gott sei Dank erspart – dank ihrer Krone, die niemals wankt.

Sie stiftet Identität, dient im idealen Falle gar als moralischer Kompass und vermag das wirre Geflecht staatlicher Institutionen zu entknoten. Die Befugnisse des britischen Monarchen sind begrenzt, wodurch seine einende Funktion erst recht Bedeutung gewinnt. So dürfen die Untertanen gern schimpfen, etwa über die Idiotie so mancher Mitglieder des House of Commons, solange sie mit Ehrfurcht und Bewunderung das Mysterium der Krone bewundern können – sie thront vornehm und erhaben über allen irdischen Dingen. Deswegen, mein lieber Watson, bin ich stolz und dankbar auf Königreich und Krone. Nicht, weil ich rein zufällig hierzulande das Licht der Welt erblicken durfte.»

Nach diesem Vortrag, den ich eher als Manifest eines pragmatischen Patrioten bezeichnen möchte, blickte ich meinen Freund nur voller stummer Bewunderung an und zollte ihm meinen ganzen Respekt, indem ich ihm den letzten – freilich warmen – Schluck Tee aus unserer Kanne einschenkte.

«Darf ich Ihr Schweigen dahingehend interpretieren, dass Sie meinen Folgerungen – nun, wie soll ich es ausdrücken – folgen konnten?»

«Mehr noch als das, Holmes. Sie haben mir einen so allumfassenden Blick auf das Glück unsers Loses geliefert, dass ich nun mit einer ganz neuen Dankbarkeit gesegnet bin. Stolzer Brite war ich ja bereits. Nun kann ich zudem auch dankbar sein, dass mir Fortuna so hold war.»

«Vergessen Sie nicht die pragmatischen Gründe Ihrer Glückseligkeit, teurer Freund», warf Holmes spöttisch zurück.

«Holmes! Sie nun wieder. Das hätte solch ein bewegender und erhabener Moment werden können.»

«Was ist schon erhabener als die nüchterne Analyse geopolitischer Betrachtungen.»

«Gewiss, Holmes, gewiss», murmelte ich mit nicht wenig Verdruss. Ich zündete mir eine Zigarre an. Holmes schwieg kurz. Dann begann er zu pfeifen. Zuerst kaum hörbar, schließlich immer lauter: 'God save the King'.

Holmes’ Worte sollten mir lange im Gedächtnis haften bleiben. Der für ihn typische, völlig unvoreingenommene, prüfende Blick machte auch bei ausgesuchten Trivialtäten keine Ausnahme – es exponierte ihn einmal mehr vom so verhassten 'großen unachtsamen Publikum'. In der Zwischenzeit bin ich zu dem Schluss gelangt, dass es vielleicht nicht zwingend eines konstitutionellen Monarchen bedarf, um eine Nation zu einen. Dank ihm ist unserem Land vielleicht nur die eine oder andere Revolution erspart geblieben; mitsamt aller dazugehörigen bestialischen Auswüchse. Könnten Frankreich nach all den Verwerfungen der Vergangenheit in seiner III. Republik nicht auch dank der einenden Macht seines Präsidenten Frieden und dauerhafter Wohlstand beschieden sein? Ich möchte es hoffen! Und dieser Funke Hoffnung – der Glaube an die Mitmenschlichkeit – stimmt mich schon lange Jahre dem kühlen Pragmatismus Holmes' gegenüber versöhnlich. Und so verleihe ich meiner grundlegenden Überzeugung Ausdruck, die Kriege der Vergangenheit mögen nicht für immer als Schablonen der Zukunft herangezogen werden. Als Bürger der Krone von England, wie als Untertan des deutschen Kaisers oder Bürger Frankreichs eint uns ein allumfassendes Axiom: Wir sind Menschen, ganz gleich, wo uns der Zufall hat das Licht der Welt erblicken lassen.


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