Vom Zeitgeist - Ein polemischer Essay

Im Jahrbuch von "Orietur Occidens" erschien vor kurzem mein Essay über die bedrohliche Lage der Weltgesellschaft. 


Vom Zeitgeist
Ein polemischer Essay


Geistreiche Menschen haben es im modernen zwischenmenschlichen Alltagserleben immer öfter mit fordernden und kräfteraubenden Begegnungen zu tun. Die simplen und für die persönliche Lebenssituation angepaßten Lösungen werden – teils getragen von wilden, ungezügelten Emotionen – von immer mehr Mitmenschen nur allzu oft der komplexen und nüchternen Analysen vorgezogen. Und dann auch schnell im belfernden Falsett verbreitet. Dem gegensätzlichen, ganzheitlicheren Blickwinkel antwortet von Zeit zu Zeit Ablehnung, manchmal gar blinde Wut. Der Respekt, welchen man diesen Menschen trotz ihrer kruden und durchaus menschenverachtenden Ansichten dennoch entgegenbringt, wird oftmals geflissentlich übersehen. Perverser ist nur, daß diese Menschen meinen, Meinungsfreiheit gelte nur für jene, welche ihre Meinung teilen:

«Wir schätzen die Menschen, die frisch und offen ihre Meinung sagen – vorausgesetzt, sie meinen dasselbe wie wir.»

Mark Twain

Vom Dilemma der Denkenden

Das selbst der geistig autarke Mensch – der (nach Kant) Ausgang gefunden hat aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit – immer wieder auf noch größere Geister trifft, übersieht dieser Menschenschlag in seiner Wut. Ist es aber nicht genau das, was die eigene Vernunft und eigene Empfindung für den Nächsten formt und schult? Begegnung und Erkennen des Gegenübers, die unendliche Mannigfaltigkeit in unendlicher Kombination! Jede neue Perspektive – wenn sie logisch begründbar ist – formt unseren Geist und unsere Ansichten. Diese neuen Perspektiven haben es verdient, begrüßt und angehört zu werden, nicht rundweg abgelehnt.

Diejenigen, welche sich der Pflege und der Schulung des eigenen Verstandes nicht widmen möchten, werden leider Gottes nur beständig eines: immer lauter. Die sozialen Medien und das Internet im Allgemeinen machen’s möglich. Eine Behauptung, mag sie noch so realitätsfern sein, landet – paßt sie zur eigenen Befindlichkeit und so genannten Meinung – dann zumeist ungeprüft in irgendwelchen digitalen Randgruppen. Von dort kann sie komplett ungefiltert gestreut werden. Im Klima dieser digitalen Filterblase läßt sich dank Algorithmen der sozialen Netzwerke hervorragend schmoren. Da diese Behauptungen kaum einer sachlichen Prüfung standhalten, beruft man sich schnell auf die gesetzlich verankerte Freiheit der Rede, ohne dabei zu bedenken, daß die konkreten Begrenzungen dieser Freiheit dem Gesetz erst seinen Sinn geben. Wenn trotzig auf dem „eigenen“ (eigentlich plagiierten) Erguß beharrt wird, bleibt im Anschluß oft zuerst der Respekt auf der Strecke.

Vom Diktat der Narren

Ob die Popularitäts-Blüte autokratischer Staats- und Regierungschefs rund um den Globus nun Ursache oder Symptom des angesprochenen intellektuellen und wertemäßigen Verfalls darstellt, scheint unklar. Um so deutlicher: Diese „starken“, wenn auch oftmals simplen, gar nicht so subtil chauvinistischen Charaktere haben in vielen vormals stabil demokratischen Kulturkreisen dieser Welt Konjunktur. Bolsonaro in Brasilien, Trump in den Vereinigten Staaten, Putin in Rußland, Johnson im Vereinigten Königreich oder Orban in Ungarn – diese kleine, durchaus undifferenzierte Weltreise führt exemplarisch lediglich solche Staaten an, in denen sich dieser Typus Politiker bereits an die Spitze des Staatsapparates setzen konnte. Die zumeist nationalkonservativen, oft auch rassistisch motivierten Kräfte hinter diesen und anderen Personen sind allerdings an noch viel mehr Orten dieser Welt zu finden.

Hierzulande befleißigen sich bestimmte politische Gruppierungen einer Sprache, welche stark an die Zeit vor einem Säkulum erinnert, an eine Epoche in der es den zumeist redlich bemühten demokratischen Parteien nicht gelang, den Menschen die noch junge Demokratie näher zu bringen. Hier standen die gemäßigten Kräfte einer Bedrohung gegenüber, welche sowohl von den Regierenden der Weimarer Republik als auch vom einfachen Bürger rundweg unterschätzt wurde. Freilich herrschten schwierige Zeiten. Massenarbeitslosigkeit, exorbitante Inflation – vielen ging es ums nackte Überleben: Anarchie und Gewalt auf den Straßen. Das Gros sehnte sich nach einer Lösung, einer schnellen, die ihnen die Teller gefüllt und die Ordnung wiederherstellen sollte – bestenfalls die alte wilhelminische, so wie es sich die Verfechter der „Dolchstoßlegende“ oder der Rede vom „Versailler Schandvertrag“ wünschten. Auf diese komplexen Probleme für die Allgemeinheit befriedigende Antworten zu formulieren, daran scheiterten die etablierten Demokraten. Die Weimarer Prototyp-Demokratie litt zudem unter der großen Schwäche der Auflösungen des Reichstags, die letztlich auch die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten am 1. März 1933 ermöglichte. Die schnell erfaßbaren, wenn auch damals wie heute simplifizierten Antworten kamen von rechts außen. Das Eleganteste an der sich hier präsentierten Weltsicht: An quasi keinen der im Staate grassierenden Probleme sollte der Einzelne auch nur im entferntesten Sinne eine Mitschuld tragen. Es waren immer „die anderen“. Die Entente des großen Krieges, die hochnäsigen Politiker der etablierten Parteien, die Kommunisten, die Kirchen und vor allem die Juden. Nur eine wahrlich starke Kraft, ein starker Mann, ausgestattet mit allen nötigen Kompetenzen könne noch helfen.

Wenn auch andere Zeiten angebrochen sind – heute sind es ähnliche Agenden, wesensverwandte Ideologien und beinahe ebenso abstruse und aufs Äußerste simplifizierte Ansichten, die Politiker einer bekannten Partei und anderer Gruppierungen aufs Feld führen, als „falsche Propheten“ auftreten und viele Menschen irreführen oder in ihren bereits denkabstinenten Mustern bestärken (vgl. I Johannes 4,1-6). Wenn vielleicht auch nicht Zeichen der nahenden Apokalypse, stehen diese Gruppen doch aber sinnbildlich für eine gesellschaftliche Strömung, die das Christentum, den Humanismus und den autarken Geist unterwandert. Wo könnte nun aber die Provenienz dieser gegenwärtigen Kultur der Simplifizierung zu verorten sein?

Vom Diktat der Ängstlichen

Die soziotopische diffuse Angst und Orientierungslosigkeit als Resultat eines gefährlich niedrigen Bildungsniveaus könnten hier den Anfang dieser neuaufklärerischen Reise bilden. Trotz eines hohen Angebots an Bildungsmöglichkeiten kommt das extrem ausdifferenzierte digitale Unterhaltungszeitalter viel zu verlockend daher. All diese Ablenkungen – die in Maßen sicher nichts Verwerfliches darstellen – trüben gewiß den Blick auf die wesentlichen Dinge des menschlichen Lebens. „Smombie“ – Jugendwort des Jahres 2016 („Smartphone“ und „Zombie“) – bezeichnet treffenderweise den durchschnittlichen Zeitgenossen, der mit Smartphone vor dem Gesicht durch die Welt steuert und nur aus purem Zufall nicht überfahren wird, weil der Autofahrer selbst zockt, während er fährt. Wo einst die Religion und der unveräußerliche Glaube anzutreffen war, findet man heuer die Spiritualität der Marke „Flatterhaft“, so auch die beinahe religiös anmutende Leidenschaft für den Spitzensport, menschenverachtendes Fernsehen, Abziehbilder von Abziehbildern auf Instagram und so vieles andere. Bequemlichkeiten und Amüsements werden zum Primat des eigenen Lebens, wohingegen Religiosität, Moral, Geistesbildung und Kultur – alles, was Reibung erzeugt und Diskurs braucht – zunehmend an den Rand gedrängt werden oder ganz in Vergessenheit geraten. Die entstandene gähnende Leere vermögen genannte Nebensächlichkeiten nicht substantiell zu füllen. Dieses Fehlen von Substanz und Sinn kann, wenn es mit einem Mangel an Bildung einhergeht, zur Verstärkung latenter Ängste führen; Ängste vor Dingen, die fremd und damit übermäßig bedrohlich erscheinen – ein urmenschlicher Instinkt spricht darauf an. Ganz besonders relevant scheint dieses Phänomen in dem Fall, daß vorgefundene Lebenswirklichkeit gerade nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Auf der Suche nach den Gründen für eigene Probleme wird das eigentlich selbstbestimmte Denken dann doch des öfteren fremdbestimmt und so durch beschriebenes Phänomen kontaminiert – schon ist man wieder drin in der Komfortzone. Das Potential des Unbekannten wird als Bedrohung zur Verantwortung gezogen für die eigene Erstarrung, die in der genannten Abstinenz von Sinn, moralischem Fundament und Bildung wurzelt. Im Mangel adäquater Erklärungen auf die realen oder gefühlten Bedrohungen antwortet der Angst oftmals die Wut, die hie und da in Wirklichkeit auch nur Angst ist, die sich laut entlädt.

Angst an sich stellt ebenso wie Wut eine Grundemotion dar, derer sich niemand zu schämen braucht. Im Gegenteil: Diese Emotion hat ist überaus nützlich, denn sie schützt uns vor drohenden Gefahren. Die Angst vor dem Unbekannten ist eine Aufforderung an das Ich, vorerst zurückzuweichen, wenn ein Ereignis neu ist und eine Einschätzung ob eines Gefährdungspotentials mangels Erfahrung noch nicht möglich ist. Solange dem Verstand keine weiteren Informationen über die ängstigende Sache vorliegen, ist eine Messung mit Erfahrungswerten ausgeschlossen. Die Angst – auch jene vor dem Unbekannten – führt zumeist zu klar definierten und meßbaren seelischen und körperlichen Reaktionen. Auf ein Gefühl der Enge folgt oftmals körperliche Anspannung, die sich durch Zittern und der Trübung des eigenen Denkens bemerkbar machen kann. Große Wut entlädt sich in sehr vielen Fällen in eher kleinen und leisen Dosen. Bei einem Ausbruch der Angst hingegen übernimmt die Instinktnatur kurzzeitig das Regiment, quasi mit Kampfgeschrei – man denke nur an die Eruptionen von Leuten in der Geisterbahn oder solchen, die einen Fallschirmsprung wagen. Mit wachsender Erfahrung, schwindet diese Reaktion. Kaum einer wird nach dem -zigsten Fallschirmsprung immer noch so fundamental erschüttert wie beim allerersten Mal.

Um beim Exempel des Fallschirmsprungs zu verweilen: Die Aneignung von Informationen rund um die Ausstattung des Fallschirms, die Sicherheit des Flugzeugs oder Befähigung des Piloten und des Tandempartners kann hier Ängste ebenso abbauen wie sichere Kenntnis über die eigene gesundheitliche Eignung. So berichteten es mir zumindest Menschen, die ein solches Wagnis bereits eingegangen sind. Wissen verleiht Macht, hier nicht im machiavellistischen Sinne, sondern über das eigene Denken und damit über die darüber steuerbaren Emotionen. Unnötig scheint es, zu erwähnen, daß dieses Wissen besser aus erster Hand zu beziehen ist und nicht lediglich aus einer Quelle, deren Fachkompetenz man nicht zu bestätigen weiß.

Vielleicht ist diese unsere Welt in ihrer ganzen Komplexität auf den Gebieten der Wissenschaft, der Soziologie, der Politik, des Synkretismus und so vieler anderer Gebiete auch schlicht und einfach so schwer greifbar geworden, daß vermehrt auftretende Ängste die natürliche Folge sein könnten. Somit würde diese „wütende Angst“, welche heute wahrnehmbar ist, eben jene respekt- und moralbefreite Wesensart begründen, die in Sinn und Bildung gefestigte Menschen so stark bedrückt. Mit dieser Entwicklung geht auch eine im zunehmenden Maße erkennbare Polarisierung der Gesellschaft einher. Es scheint so, als lasse kaum ein Kommentar in den sozialen Medien oder ein Gespräch im erweiterten Umfeld „linke“ und „konservative“ Ansichten in einer Wesenseinheit zu. Noch viel weniger en vogue scheint mir, keine oder aber noch keine klar definierte Meinung zum Thema im spärlichen Diskurs zur Sprache zu bringen. Man sollte schon „dafür“ oder „dagegen“ sein, wie es sich heuer eben „gehört“. Zeit für eine Meinungsbildung bleibt da einfach nicht; wer sich diese Zeit nimmt, mit dem stimme demnach etwas nicht.

Abgesehen vom Sarkasmus, der auch Ausdruck eines emotionalen Zustandes sein kann: Die komplexen Sachverhalte der modernen Welt in einer Idealvorstellung erfassen und reflektieren zu wollen stellt sicher für jedermann eine eminente Aufgabe dar. Bestenfalls mit einer stichhaltigen Basis faktischer Hintergründe – „Meinungsbildung“! – wie sie als traumfeuchte Idee manche Gesellschaftstheoretiker beschäftigt (etwa Jürgen Habermas mit dem „herrschaftsfreien Diskurs“). Absoluter Abgrund: Meinung und Faktum werden verwechselt, und der daraus folgenden Ansicht wird ohne weitere Prüfung ein allgemeingültiger Wert beigemessen.

Von der Leere

«Was nun andererseits die Menschen gesellig macht, ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und in dieser sich selbst, zu ertragen. Innere Leere und Überdruß sind es, von denen sie sowohl in die Gesellschaft, wie in die Fremde und auf Reisen getrieben werden.»

Arthur Schopenhauer

Mir erscheint, die diffuse Angst lähmt und erzürnt unsere (Welt-)Gesellschaft stetig. Welchen moralischen Halt – Sinnerfüllung und Richtschnur im Leben – haben jene, die gegen andere Bevölkerungsgruppen hetzen oder Steine werfen oder Autos anzünden oder sich im Netz radikalisieren und sogar so weit gehen, anderen Menschen das Schlimmste anzutun? – egal, welchen Stempel sie tragen, ob NSU oder ISIS. Der Weg in die Radikalisierung scheint erschreckend kurz. Viele fliehen vor ihrer inneren Leere und fühlen sich trotz vieler sozialer Kontakte einsam und obsolet. Statt dieses Fehlen zu betrauern oder nach sinnstiftenden, friedlichen Dingen zu suchen, flüchten sie sich in Trivialitäten und Ablenkungen aller Art oder in hermetisch abgeschlossene Filterblasen, welche in Wirklichkeit doch über Jahrhunderte hinweg gewachsene Lebensart und Kultur weit mehr gefährden als beispielsweise der Zuzug von Menschen einer in Teilen divergierenden Lebensweise und Kultur. Mit wenig Muße zu Bildung und Geistesschulung, ohne Orientierung und göttliches Sinnen ist so auch den Agitatoren der Intoleranz Tür und Tor geöffnet, um ihre simplifizierenden und inhumanen Agenden zu plazieren. Diesen Kräften ist es möglich geworden, die Leere im Sein vieler Menschen mit reduzierten, von jeder Selbstverantwortung enthebenden Erklärungen zu besetzen. „Schuld“ tragen immer „die anderen“ und die Angst findet durch die sogenannten Erklärungen der Agitatoren einen Katalysator. Wie vom chemischen Prozeß der Katalyse bekannt, erhöht ein Katalysator die Geschwindigkeit und somit die Intensität einer Reaktion, ohne selbst dabei aufgebraucht zu werden. Ein Feuer der Unzufriedenheit brennt in dieser Zeit, eine lodernde Flamme der Unerfülltheit und der Leere. Öl in dieses Feuer zu gießen, wie es diese destruktiven Kräfte tun, vermag diese Leere nicht zu füllen, sondern vergrößert den Graben zwischen diesen Menschen und jenen; alles ist Verharren im subjektiven Nichts, in der Irrationalität. Die anderen Menschen bleiben fremd und willfähriges Feindbild. Das Öl geht den Brandstiftern anscheinend niemals aus. Wie kann man dieser Leere und dem angsterfüllten und irrationalen Zeitgeist begegnen?

Von der Erfüllung

Beinahe alle idealen Lösungsansätze, mit denen die Menschheitsgeschichte dem irrationalen Zeitgeist begegnet ist, sind nicht als Sofortmaßnahmen zu begreifen, sondern mittel- bis langfristig angelegt. Dies stellt vielleicht – aufgrund der empfundenen Dringlichkeit eines erstrebenswerten gesellschaftlichen Umdenkens – die größte Herausforderung dar.

Gelehrte aller Epochen waren sich einig: Bildung ist interdisziplinär, unvoreingenommen und an den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert. Sie stellt einen eminent wichtigen Baustein zur Schulung zu Vernunft und Objektivität dar. Bildungsmodelle, welche sich an den modernen, entwicklungsrelevanten Interessen der Kinder orientieren, ihre natürlichen Gaben fördern und fordern und Schulfächer aufeinander ausrichten, sind gefragt. Junge Menschen sollten das Lernen erlernen, um mit dem erworbenen Wissen ihr Leben zu bestehen und nicht nur die anstehende Klausur. Freiheit bedeutet Verantwortung. Das Klischee des „Bulimie-Lernens“ ist weniger infantile Komödie denn eine pädagogische Tragödie. Auch für Erwachsene sollten egalitäre Bildungsangebote verfügbar sein und beworben werden, die die komplexen Zusammenhänge unsere Wirklichkeit beobachten, aufzeigen und am runden Tisch den eigenen Horizont erweitern – allein, was es braucht, ist die Bereitschaft.

«Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn man all das, was man in der Schule gelernt hat, vergißt.»

Albert Einstein

Im Gegensatz zur eher mittel- bis langfristig angelegten Bildungsoffensive, die oben beschrieben wurde, erscheint mir die in der Breite der Gesellschaft angesiedelte kulturelle Beschäftigung als ideales Mittel, um Intellekt, Phantasie und Empathie zu schulen, ja, zu befreien. Die vom Überangebot der Unterhaltungsindustrie übersättigte Gesellschaft könnte ganz hervorragend davon profitieren, der Muße für geistreiche Musik, tiefgründige Literatur und bildende Künste von Zeit zu Zeit nachzugeben, um Seele wie auch Geist zu helfen, sich von der Oberfläche zu emanzipieren. Kunst ist so viel mehr als „Luxus“; sie ist ein Portal zur Tiefsinnigkeit und vermag, die Seele zu beruhigen wie auch zu animieren. Wem es schon einmal gelungen ist, alle Gedanken, Sorgen und Verpflichtungen des Alltags für zwanzig Minuten beiseite zu schieben und exempli causa der Harmonie von Bachs erster Cello-Suite zu lauschen, weiß gewiß, wovon ich berichte. Auch hier gilt: Alles eine Frage der Bildung und frühester Prägung, aber auch gottgegebener Intelligenz in Verbindung mit Charakter.

«Denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen.»

Friedrich Schiller

Im Gegensatz zu Bildung und Kunst wendet sich der Glaube ein Stück weit vom Ego ab und strebt zur Hinwendung an eine übergeordnete, sinn- und moralgebende Entität (vgl. Römer 3,1-31). Im Gegensatz zur abstrakten und weniger verbindlichen Religiosität dehnt sich der Glaube in seiner zielgerichteten Konkretheit auf die Lebensgestaltung aus. Dieser Glaube ist hier gewiß viel mehr als emotionale denn als eine der Ratio zugängliche Gabe zu verstehen. Der Stifter jener Gabe jedoch vereint Ratio und Moral in seiner Person – und mit der Glaubensfindung können diese göttlichen Eigenschaften dem einzelnen zu eigen werden. Katechismus und Rituale der Kirche vermitteln eine tiefere Wahrheit und stehen somit für die Visualisierung; für das bewußte Erleben einer größeren, wohlwollenden Wirklichkeit. Eine Botschaft, die durch Christi Opfer vermittelt wird, lautet: Obwohl der Mensch meinte, besser für sich zu sorgen und immerzu selbst zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können, obwohl er damit kläglich scheiterte und Gott dann auch immer wieder die Schuld für die selbst kreierten Probleme zuschob, nimmt Christus ihn als seine Geschöpfe an. Es ist ihm gleich, welcher Ethnie ein Mensch angehört, welcher Kultur er entstammt oder welchen Geschlechtes er oder sie ist. Im Matthäusevangelium erteilt Christus seinen Jüngern einen Auftrag und verknüpft dies mit einer Zusicherung: «Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.» (Matthäus 28,19-20)

«Genauso, wie ein Buch Wörter benötigt, um einen Sinn zu ergeben, benötigt der Mensch das Göttliche für ein sinnvolles Leben. Hast du Gott einmal in dir gefunden, wirst du entspannter ebenso sinnvoller dein Leben leben. Wenn die Angst dann doch mal wieder kommt, ist Gott ganz nah bei dir.»

Martina Pfannenschmidt

Die Erfüllung des eigenen Daseins mit Sinn und Orientierung durch Muße für Bildung und Kultur sowie durch die Findung des Glaubens kann der eigenen Existenz ein festes Fundament geben – bestenfalls werden Furcht vor dem Unbekannten und daraus entspringende Wut obsolet. Sich der eigenen Kultur bewußt zu sein, Bildung als Lebenswerk zu verstehen und einen transzendenten Sinn, der über dem kruden Weltgeschehen steht, zu wissen, läßt die ängstliche Leere schwinden. Zu den Tugenden eines solchen Lebensentwurfs gehört auch die Zuversicht. Das derzeitige unfiltrierte Informationswirrwarr rational zu erfassen und unverrückbare moralische und kulturelle Werte zu besitzen vermag wohl Gelassenheit zu schenken. Fremdes erscheint dank erworbener Erfahrung nicht mehr per se als bedrohlich, mittels welt-affinem Geiste gar als außergewöhnlich und schön. Wer von der neutestamentarischen Überlieferung des göttlichen Moralbegriffs erfüllt ist, stellt sich womöglich viele Fragen des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses auch gar nicht mehr. Empathie und Respekt für jedermann und die fest begründete Moral, anderen auf die Weise zu begegnen, wie der liebste Mensch ihnen begegnet, mögen unveräußerliche Grundsätze sein, um das Boot des eigenen Lebens sicher durch diese so unberechenbar anmutenden Zeiten zu navigieren.

Litteratur

Calaprice

Deissler

Pfannenschmidt

Schäfer

Schiller

Schopenhauer

Stolzenberger


Kommentare

  1. Danke, Friedemann. Das Schiller Zitat finde ich klasse ... toller Text von Dir, auch wenn ich nicht alles verstehe. Zum Ende hin war ich ergriffen und berührt durch Deine Worte.

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    1. Mich freut es vom Herzen so etwas zu hören. Danke dir. Mir ist dieses Thema ein besonderes Anliegen.
      Für Nachfragen stehe ich selbstredend immer zur Verfügung.

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