Elementary, my dear Joan
Im "Baker Street Chronicle" vom Frühjahr 2020 erschien mein nun folgender Artikel über die US-Fernsehserie "Elementary".
Die gesamte bebilderte Zeitschrift ist unter BSC I 2020 zu bestellen.
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Elementary, my dear Joan
Charakterschau
und Handlungsskizze der CBS Serie
Über
Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Wenn man die
Sherlockianer so beispielsweise über ihre Watson- Favoriten aus Film
und Fernsehen ausfragt, bekommt man die unterschiedlichsten
Antworten. Mein Lieblings-Watson ist Edward Hardwicke, der ab der
dritten Staffel in Granadas wunderbarer Serie über den britischen
Meisterdetektiv den Arzt und Chronisten an der Seite Jeremy Bretts
verkörperte. Will man von mir wissen, welcher Watson mir optisch der
Liebste ist, bleibe ich seit sieben Jahren stoisch: Lucy Liu! Der
eine – oder zumeist die andere – mögen hier vielleicht noch mit
Jude Law aufwarten, was meine Ansicht jedoch nicht zu ändern
vermag.
Beinahe
ebenso schwierig scheint es, ein de facto künstlerisches Werk wie
eine Fernsehserie beuteschema-kontextuell kritisch zu taxieren und es
dabei allen Meinungen und Geschmäckern recht zu machen. Trotzdem
möchte ich dies im Folgenden kurz sowie ganz und gar subjektiv
versuchen, freilich ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu
erheben.
Zwei
Jahre nach dem Start von BBC's 'Sherlock' antwortete die
amerikanische Konkurrenz vom Sendergiganten CBS mit 'Elementary' auf
die zunehmende Beliebtheit von Sherlock Holmes und Dr. Watson. Auch
Showrunner Robert Doherty und Produzentin Alysse Bezahler entschieden
sich, den britischen Deduktivkünstler in die Gegenwart zu
transferieren, wie es Steven Moffat und Mark Gatiss zuvor auf so
exponiert gelungene Weise getan hatten. Dasselbe tat David Shore,
indem er in die Geschichten seiner kauzig-verschrobenen Figuren Dr.
House und Dr. Wilson allerlei Kanonisches integriert hat. Bei der
Serie 'House' handelt es sich zwar nicht um eine einhundertprozentige
Adaption, jedoch findet sich in dieser Produktion eine große Zahl an
durchaus beabsichtigten Parallelen. Gregory House spielt als Arzt auf
einer ähnlichen Klaviatur der Deduktions-Methoden wie Holmes als
Detektiv. Der brillante Eigenbrötler Gregory House wohnt zudem in
einem Apartment unter der Ziffer 221b, spielt Gitarre und Klavier –
bei Holmes war es die Geige – und pflegt seine Schmerzen mit der
einen oder anderen überzähligen Pille des Präparats Vicodin zu
behandeln; ein Derivat des Morphins, das wir von Holmes nur zu gut
kennen. Dieses Morphin und einige seiner Derivate bilden im Übrigen
einen schlafmohn-lilaroten Faden, der sich beinahe magisch durch die
kanonische und apokryphe Welt des Sherlock Holmes spannt.
C17H19NO3
= Morphin Original-Holmes
C18H21NO3
= Vicodin [Hydrocodon] Gregory House in 'House M.D.'
C21H23NO5
= Heroin
[Diacetylmorphin] Holmes in 'Elementary'
Watson:
"Schon mal was von nichtsuchterzeugenden Schmerzmitteln
gehört?"
Sherlock: "Wie gut können die sein, wenn sie nicht süchtig machen?“ [Elementary, 1x24]
Sherlock: "Wie gut können die sein, wenn sie nicht süchtig machen?“ [Elementary, 1x24]
Holmes
(Jonny Lee Miller), Londoner Privatdetektiv, Scotland Yard-Berater
und Amateur-Imker, zieht es zum Anfang der Serie 'Elementary' nach
New York. Er will dem Umfeld entfliehen, das ihn seinerzeit in die
Heroinsucht getrieben hatte, gequält von allgegenwärtigen
Erinnerungen an die Ermordung 'der Frau', seiner großen Liebe Irene
Adler. In der „Neuen Welt“ begegnet er freilich schicksalhaft
einer klugen und engagierten Ärztin: Dr. Joan Watson. Ebenso wie der
kanonische Watson, hat Joan bereits vor ihrer ersten Begegnung mit
Holmes dem Arztberuf den Rücken gekehrt auf der Suche nach einem
neuen Lebenssinn. Sie fand ihn in der Suchthilfe. Aufmerksame
Menschen ahnen, wie der Plot sich weiterspinnt:
In
Sherlock Holmes bekommt Joan eine besonders harte Nuss zu knacken.
Denn er hat sich nahezu arrangiert mit dieser einzigen Konstante in
seinem Leben. Watson gelingt es mit der Zeit jedoch, ihren Patienten
wieder zurück in die Spur zu verhelfen und ihn sogar dazu zu
bewegen, regelmäßig die Treffen der anonymen
Drogensüchtigen zu frequentieren. Sherlock vermag bald wieder
regelmäßig und zielstrebig zu arbeiten und seine ganze Expertise
der Polizei von New York zur Verfügung zu stellen. Mit Captain
Gregson und Detective Bell hat Holmes zwei Polizisten an seiner
Seite, die den Methoden des britischen Ermittlers mit allerlei
Skepsis begegnen, seine Genialität jedoch nicht ernstlich in Zweifel
ziehen. Auch Watson entwickelt im Laufe der „Beziehung“ Interesse
für die Arbeit und noch mehr für die Methoden ihres Schützlings
und wird mehr und mehr in seine Recherchen und die scheinbar
chaotisch abstrusen Denkprozesse involviert. Später zieht sie auch
in Holmes‘ Haus, welches sein Vater Morland Holmes gehört; einem
reichen und skrupellosen Geschäftsmann. Als Watson den Entschluss
fasst, ihren Beruf als Suchtbetreuerin an den Nagel zu hängen und
sich selbst als Privatdetektivin zu versuchen, nimmt Holmes sie
vollständig unter seine Fittiche und lehrt sie die Wesenszüge
seiner Beobachtung und Deduktion. So erweist sich der Beruf der
Suchtbetreuerin lediglich als temporärer Türöffner zu ihrer wahren
Berufung.
Mit
Lucy Lius Version eines Watson, der sich von jeder
„Sidekick-Funktion“ restlos emanzipiert hat, begegnet uns in
'Elementary' die wohl beeindruckendste und autarkste cineastische
Interpretation der Figur. Dieser Watson ist lernfähig und
ambitioniert, charmant und besitzt ein wahrnehmbares Maß an
Menschenkenntnis. Gewiss: Auch sie macht Fehler und trifft von Zeit
zu Zeit falsche Entscheidungen. Doch die nutzt sie für ihre
Weiterentwicklung und so agiert sie mit der Zeit – im Gegensatz zu
ihrem kanonischen Pendant – auf Augenhöhe mit ihrem genialen
Lehrmeister. Watson und Holmes werden Freunde und mehr noch als das:
Sie entwickeln eine tiefe Liebe zueinander, die zum Finale der Serie
in einer einzigartig selbstlosen Tat Holmes' mündet. Seinem Leben
wird durch Joan Watson ein völlig neuer, weil unerwarteter Sinn
eingehaucht, und umgekehrt. Beide Charaktere gehen eine Art Symbiose
ein, die beide wachsen lässt, ohne die Aufgabe wesentlicher Aspekte
des eigenen Seins.
Bei
der Lektüre der originalen Novellen und Romane aus der Feder Sir
Arthurs sowie bei Betrachtung der meisten cineastischen
Interpretationen stieß mir eine Sache beinahe immer etwas unangenehm
auf: Watson, um den oder die sich diese Schrift in erster Linie
dreht, ist an Naivität und Begriffsstutzigkeit kaum zu überbieten -
mehr noch in den Verfilmungen als im Kanon. Watson ist häufig
lediglich Kontrapunkt, das Kontrastprogramm zu Holmes'scher
Genialität, kaum ein ebenbürtiger Partner oder auch nur
durchschnittlicher Akademiker. Auffällig ist, dass dieser Watson
weder auf Papier noch auf Leinwand oder anderen Medien über ein wie
auch immer geartetes Talent zur Lernfähigkeit verfügt. Dies trifft
beispielsweise auch auf die ansonsten liebevoll iszenierten Hörspiele
des Maritim Verlags mit Christian Rode und Peter Groeger zu und in
etwas schwächerer Form auch auf die Granada-Serie mit Brett und
Burke/Hardwick. Literarische Pastiches weichen zwar hin und wieder
von diesem Duktus ab, die meisten – auf meine eigenen trifft dies
in gewisser Weise ebenso zu – folgen ihm aber und verpassen Watson
eher die passive Zuschauerrolle, so dass der Leser sich intellektuell
zwar Holmes in den allermeisten Fällen fügen muss, jedoch niemals
den Eindruck bekommt, Watson wäre auch noch cleverer als er selbst –
das hat viel Identifikationspotential. Das Grundkonzept der Idee
hinter Sherlock Holmes macht es dem Autor allerdings auch nahezu
unmöglich, Watson als besonders lernfähig anzulegen. Beruht nicht
auch die ungebrochene Faszination Holmes'scher Methoden zum guten
Teil auf der unnachahmlichen Verblüffung seines Freundes, wenn
dieser vorm Genie seines geradezu faustisch begabten Mitbewohners
regelmäßig den Hut zieht?
'Elementary'
bildet hier gerade in diesem Aspekt eine angenehme Ausnahme von der
leidlichen Regel. Joan Watson wird ihrem Holmes ein echte Partnerin;
eine, die ihm nicht nur das Gedankenwirrwarr entknotet, sie ermittelt
auch selbständig und mit zunehmendem Erfolg. Trotz vieler
Kritikpunkte zu dieser amerikanischen Sherlock Holmes-Interpretation,
ist dieser Umstand doch Alleinstellungsmerkmal. Er überholt sogar
den Umstand, dass dieser Watson divergierend zum Kanon eine Frau ist
oder dass sie nicht als Chronist der gemeinsamen Fälle fungiert. Sie
hilft ihrem Freund durch allerlei Krisen hindurch und gewinnt so mit
der Zeit sein Vertrauen und seine Wertschätzung. Entgegen dem
ehernen Image darf sie dem legendären „großen Holmes“ das eine
oder andere Mal gezielt auf die deduktiven Sprünge helfen –
allesamt zutiefst menschliche Qualitäten. Eine symbiotische
Synergie, die ausgeglichener kaum sein könnte. Gerade hier
unterscheidet sich die weibliche Watson ganz elementar von ihrem
literarischen Vorbild. Dort gelang es Holmes‘ Assistenten nur in
wenigen Fällen, einen eminenten Beitrag zu dessen Ermittlungen zu
leisten - allenfalls durch Fortunas Gnade.
Wer
sich nun doch einmal durchringen und 'Elementary' eine Chance geben
möchte, der kann sich natürlich auch auf unzählige 'Easter Eggs'
freuen, die direkt oder indirekt Bezug zu Conan Doyles Werken nehmen.
Eigennamen, Fachtermini und Charaktere der originalen Werke werden
dem Publikum zum Teil bunt gemischt – manchmal etwas offensichtlich
– um die Ohren geworfen. Ganz wunderbar finde ich die
„Fleischwerdung“ zweier ganz Großer des Holmes-Kanons. Das Ende
der sechsten Staffel führt Holmes' und Watson gar zurück ins
sagenhafte London, Dreh- und Angelpunkt des ursprünglichen Kanons,
der vorher so geflissentlich ausgespart wurde. Für mich hätte
allein diese letzte Episode der sechsten Staffel ein sehr gelungenes
Serienfinale abgegeben, doch in der folgenden siebten Staffel – die
im Gegensatz zu den ersten sechs Staffeln lediglich 13 Episoden
aufbietet – werden einige bisher noch lose Handlungsstränge
verknotet. Auch der „Scheintod“ des großen Meisters spielt in
'Elementary' freilich eine große Rolle, nach wie vor präsentes
Axiom cineastischer Inszenierungen der Abenteuer des Meisterdetekivs.
Mehr jedoch möchte ich hier nicht preisgeben.
"Sie
haben bisher noch nie eine Trennung durchlebt... ein vorgetäuschter
Tod zählt nicht." ['Elementary' ,5x06]
Bleibt
noch zu sagen, dass 'Elementary' – für meinen Geschmack –
Sherlock Holmes gewiss nicht auf allerhöchsten Niveau abbildet,
gerade in Bezug auf die Leistung der Autoren, die bestenfalls
mittelprächtig daherkommt, wie es unterm Joch der US-amerikanischen
Unterhaltungsindustrie leider ziemlich normal ist. Die
schauspielerischen Künste beider Hauptdarsteller verbunden mit der
oben skizzierten Interpretation der Figur Joan Watson trösten mich
allerdings zuverlässig darüber hinweg. Geschmack ist – wie oben
bereits erwähnt – nun einmal relativ und lässt sich bestenfalls
subjektiv diskutieren und bewerten. Wenn er auch immer aufs Neue
adaptiert und interpretiert wird, so kann allem nur ein einziger,
unveräußerlicher Kern zugrunde liegen: Mister Sherlock Holmes!
"Sherlock
ist süchtig danach, immer er selbst zu sein." ['Elementary' ,
2x01]
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