Das Krokodil des Grauens
Zum Weihnachtsfest 2019 erschien als Sonderbeilage des 'Baker Street Chronicle' eine kleines Buch. In diesem Buch finden sich Kurzgeschichten deutschsprachiger Sherlockianer über das "Krokodil des Grauens". Albertus Geschichte findet sich dort ebenso wie eine Zahl anderer verschiedenst orientierter Originale. Meine kleine Novelle kann man nun hier lesen. Wer aber einen Querschnitt von Phantasie und Schreibkunst der deutschen Holmes-Forscher sein Eigen nennen möchte, dem empfehle ich die Winterausgabe des 'BSC 2019', nebst Sonderbeilage zu bestellen.
Baker Street Chronicle - Winter 2019
Baker Street Chronicle - Winter 2019
Sherlock Holmes
Das Krokodil des Grauens
Im späten November des Jahres 1898
ereignete sich der in der Gemeinschaft sonderbarer Fälle wohl
sonderbarste Fall; ein Problem, welches bisher noch nicht Einzug in
meine Chronik jener außergewöhnlichen Begebenheiten gefunden hatte,
die das Leben meines Freundes Sherlock Holmes auf so einzigartige
Weise prägten. Die versäumte Gelegenheit möchte ich mit dem hier
vorliegenden Bericht nun nachholen und dem geneigten Leser Einblick
in ein Rätsel eröffnen, dessen Lösung – so sagte es Holmes
später selbst – wie kaum ein zweites auf einer reinen
Verstandesleistung basierte. Zudem möchte ich behaupten, dass die
Episode um das „Krokodil des Grauens“ im besonderen Maße die
wundersamen Verzweigungen zwischen jenen einzelnen Elementen
aufzeigt, welche das Leben in seiner Komplexität so ungewöhnlich
machen, wie es sich kein Romancier auszudenken vermag.
Der Tag neigte sich bereits dem Ende,
soeben hatte ich mein Abendessen beendet und nachdem Holmes sich den
ganzen Tag über rar gemacht hat, vernahm ich endlich die vertrauten
Schritte auf der Treppe. Doch ließ sich mein Mitbewohner zunächst
nicht in unserem Wohnzimmer blicken. Einige Zeit verstrich;
schließlich hörte ich die quietschenden Angeln einer Tür in
einiger Entfernung. Holmes zog es offenbar hinauf in seine private
„Kammer des Schreckens“, einen kleinen Raum im Dachgeschoss, der
ihm als Ablageplatz für Dokumente und zugleich privates
Kriminalmuseum diente. Erst, als ich mich bereits vom Tisch erhoben
hatte um mich mit der Abendzeitung auf meinem Sessel niederzulassen,
betrat mein Freund das Zimmer. Ein Telegramm hatte ihn bereits früh
morgens aus dem Haus getrieben. Sicher befand er sich erneut im
Zustand größter Anspannung und geistiger Erregung, welches ich oft
an ihm beobachten konnte, wenn die Entwicklung eines neuen Falls
seine ganze Aufmerksamkeit einforderte.
Er warf ein altes Blatt Papier auf den
Esstisch, setzte sich ausgelaugt wortlos mir gegenüber in seinen
Sessel, und starrte scheinbar geistesabwesend ins Leere. Ich wusste
bereits, dass ihm der Sinn momentan nicht sonderlich nach einem
Gespräch stand. So erhob ich mich, schenkte Holmes eine Tasse Tee
ein, reichte sie ihm hinüber und griff nach dem Papier, um es
eingehender zu betrachten. Holmes schätzte Zweitmeinungen ungemein.
Die meine holte er auf recht beiläufige Weise bereits seit Jahren in
zuverlässiger Regelmäßigkeit ein. Wenngleich er unter einer
„zweiten Meinung“ auch etwas anderes verstand als die meisten
Menschen es taten. Die Ansichten eines ihm intellektuell unterlegenen
Gesprächspartners – was in den allermeisten Fällen auf mich
zutraf – dienten dem großen Kriminalisten vielmehr als Kontrapunkt
der Harmonie seiner eigenen gedanklichen Melodie. Meine „Einsichten“–
bestärkten Holmes ungeachtet ihrer Fehlerhaftigkeit oftmals in
seinen eigenen komplexeren und zutreffenderen Schlussfolgerungen.
»Dies wirkt mir wie eine Seite aus
einem recht alten Buch«, versuchte ich mich an einer Deduktion. »Die
Abrisskante zeigt deutlich, dass es herausgetrennt wurde«, fuhr ich
fort. »Ebenso fällt mir auf, dass der Zeichner entweder furchtbar
unbegabt war oder aber noch nie in seinem Leben ein Krokodil gesehen
hat. Es wirkt vielmehr wie ein merkwürdiges Fabelwesen aus
Dinosaurier und Vogel. Dennoch bezeichnet er es als Krokodil, ein
eigenartiger Einfall. Finden Sie nicht auch, Holmes?«
Als er zu mir herübersah, vermisste
ich bei meinem Freund den üblichen Blick, welcher einerseits
Belustigung und zudem den Triumph ausdrückte, es schon längst
besser zu wissen. »Mein lieber Watson«, erwiderte er mit gedrückter
Stimme, »diesmal weiß ich leider nicht viel mehr dazu zu sagen, als
Ihnen bereits aufgegangen ist. Dieses Krokodil, mag es auch noch so
eigenartig oder auch einzigartig daherkommen, ist im Moment unser
einziger Zeuge in einem grauenvollen Verbrechen. Ja, ich muss
gestehen: Diese Angelegenheit entzieht sich bisher fast gänzlich
meiner Einsicht. Und das trotz des Umstandes, dass ich mich bereits
den ganzen Tag damit befasse, seit Hamiltons Telegramm mich
aufforderte, stehendes Fußes zu ihm zu eilen.«
»Der Inspektor hat Ihnen also heute
Morgen gekabelt?«
»Gewiss, Watson. Nur haben unsere
Recherchen nicht viel mehr ergeben, als dieses Krokodil aus
Stümperhand vermuten lässt. Ich fürchte, dass ich Hilfe benötige.
Oder wüssten Sie, inwiefern die offenbar anatomisch inkorrekte
Darstellung eines Landwirbeltiers mit einem auf grausame Weise
abgeschlachteten jungen Mann zusammen hängen könnte?«
»Ein Mord, Holmes?«, warf ich
irritiert ein. »Und dieses Blatt fand sich auf der Leiche?«
»Nicht einmal das kann ich bejahen«
entgegnete Holmes. »Ich werde Sie bezüglich des guten Inspektors
Hamilton und meiner Person auf den aktuellen Stand bringen und Ihnen
kurz darlegen, welches Bild sich uns heute Morgen in der Sakristei
der St. George's Kirche in Bloomsbury präsentiert hat.«
Holmes berichtete mir, dass er gegen
viertel vor Acht von besagtem Telegramm in die Hart Street gerufen
wurde. Dass es sich bei genannter Adresse um eine Kirche handelte,
verschwieg Hamiltons eiligst verfasste Depesche allerdings. Doch
Holmes kennt London wie kein zweiter, so ahnte er bereits, dass ihn
seine Exkursion auf heiligen Boden führen sollte. Eine gute halbe
Stunde später erreichte Holmes Droschke schließlich den Schauplatz
des Verbrechens.
»Ich übertreibe nicht, mein lieber
Watson, wenn ich Ihnen sage, dass ich selten einen blutigeren
Schauplatz besichtigen durfte als jenen in Bloomsbury.«
»Sie durften, Holmes? Sollten Sie
nicht lieber sagen, dass Sie diesen unschönen Ort besichtigen
mussten?« unterbrach ich ihn, auch ob seiner altbekannten, der
Pietät nach inadäquaten Begeisterung.
»Ach Watson, Sie wissen es doch schon
lange; eine jede Abweichung von der Norm liefert uns wertvolle
Hinweise zum Tathergang. Aber beginnen wir am Anfang. Die
Blutrünstigkeit besagten Verbrechens nebst eigentümliches Krokodil
sind bisher meine einzigen richtigen Anhaltspunkte. Sehen Sie,
Watson, dem jungen Mann – er mag um die dreißig gewesen sein –
wurde der Schädel mit einem Kerzenständer förmlich zertrümmert,
was uns schon eine gewisse Kleinigkeit über den Täter verrät.
»Offenbar resultierte diese Gräueltat
aus einem tiefen Hass des Täters. Er muss den jungen Mann also schon
gekannt haben«, warf ich unvermittelt ein.
»Den ersten Teil Ihrer kleinen
Deduktion kann ich vorerst nicht zustimmen. Immerhin kann ein
zutiefst skrupelloser Mann mit einem solch grausamen Vorgehen ein
Motiv puren Hasses ebenso vortäuschen, um uns genau auf diese
womöglich falsche Fährte zu locken. Auch die Verschleierung der
Identität des Opfers mag eine Möglichkeit darstellen, die es zu
überprüfen gilt. Was den zweiten Teil Ihrer Schlussfolgerung
angeht: Auch ich meine, dass der Mörder dem Opfer bereits bekannt
war, jedoch schließe ich dies vor allem aus einer Hand voll weiteren
Kombinationen. Aber dazu werde ich noch vordringen.«
»Wie Sie meinen, Holmes.«
»Gefunden wurde der Unglückliche
heute gegen viertel vor sieben vom Küster der St. George's Kirche.
Dieser Küster – Anthony Fips mit Namen, ein bleicher, großer und
beinahe bis zur Besessenheit gewissenhaft wirkender Gentleman nahe
der 60 – trifft täglich um diese Uhrzeit ein, manchmal noch
früher, und kümmert sich dort um alle Präliminarien der Frühmesse.
Sein erster Weg führt ihn immer in die Sakristei, wo Gewänder,
Folianten und Gefäße vorzubereiten sind. All dies fand er heute
allerdings in extremer Unordnung vor. Die Messgewänder lagen
verstreut, teils zerrissen auf dem Boden; ebenso ein zerbrochener
Stuhl sowie ein großer, blutverschmierter fünfarmiger Kerzenständer
aus purem Silber von ganz exakt zwei Fuß und vier Zoll in der Höhe.
Ich entdeckte auch Hirnsubstanz und Haare daran, welche vom
konsultierten Polizeiarzt wie von mir selbst eindeutig dem Opfer und
seinen schrecklichen Wunden zugeordnet werden konnten. Weder Mr.
Fips, noch James Ashcroft, der Vikar von St. Georges, welcher viertel
vor Acht in der Kirche eintraf, konnten sich entsinnen, den
unglücklichen Zeitgenossen gekannt zu haben. Welchen Wert diese
Aussagen haben, kann ich jedoch nicht ermessen. Die Verletzungen am
gesamten Schädel machen es selbst mir unmöglich, das Aussehen
dieses Mannes mit Bestimmtheit zu ermitteln. Nur so viel: Das Opfer
trug dunkelbraune Haare, eine gewöhnliche Frisur, hatte braune Augen
und einen dünnen Backenbart, maß fünf Fuß und zwo Zoll. Obwohl
gekleidet wie ein Gentleman, fand sich in seinen Taschen nichts,
nicht einmal eine Uhr oder auch nur ein Krümel, welcher uns etwas
über ihn hätte sagen könnte.«
»Was wissen Sie über den Vikar zu
berichten?« fragte ich.
»Vikar Ashcroft ist von mittlerer
Größe, mag in meinem Alter sein, im Gesicht liegt etwas Heiter-
Einnehmendes, zudem trägt er ein kleines hölzernes Kreuz, das einen
krassen Gegensatz zu den silbernen oder goldenen Pendants der meisten
seiner Amtskollegen bildet. Des Weiteren erfuhr ich von Küster Fips,
dass er zölibatär lebt, und wohl gern ein paar Gläsern des süßen
Weines mehr frönt, als ihm gut tut, auch wenn man ihm das nicht
anzusehen vermag. Auch neige er dazu, der einen oder anderen jungen
Dame aus der Gemeinde etwas zu viel Aufmerksamkeit entgegenzubringen.
Der Vikar zeigte sich allerdings sehr bestürzt ob der Tragödie, die
sich in seiner Sakristei zugetragen hat und – so berichtete mir
Inspektor Hamilton – sprach sogar noch ein Gebet für den
Verstorbenen, um seine Seele dem Herrn anzuempfehlen.
»Das ehrt ihn dann ja doch noch,
Holmes.«
»Gewiss. Nur hilft uns das nicht viel
weiter. Aufschlussreicher ist da schon eher die Tatsache, dass sich
weder an den beiden Eingängen der Kirche noch an der Tür der
Sakristei oder sonst wo Einbruchsspuren haben finden lassen. Die
einzig sinnvolle Spur fand sich bei meiner Inspektion des Rachens des
Toten.«
»Des Rachens? Sagen Sie bloß nicht,
Sie haben das Papier mit dem eigentümlichen Krokodil darauf in
seinem Hals gefunden! Das Stück Papier war zwar alt, jedoch
ansonsten völlig intakt.«
»Famos beobachtet, guter Watson. Sie
kennen doch meine Neigung zu, nun sagen wir einmal,
Sekundärliteratur?«
»Sie meinen Ihre obskuren Schriften
über allerlei Unsinniges und Herbeifantasiertes?« gab ich belustigt
von mir.
»Nun, wie auch immer Sie meine
Sammlung titulieren möchten – Sie hat schon oft Aufschluss über
die kleinen Nebensächlichkeiten unserer Fälle gegeben;
Nebensächlichkeiten, welche sich anschließend als eminent für die
Lösung der uns präsentierten Probleme entpuppt haben. Was fand sich
also im Rachen des Toten? Ich will es Ihnen verraten. Es war kein
Leichtes für mich, da heran zu kommen und ich entdeckte es auch nur,
weil in mir ein Verdacht keimte. So barg ich mittels einer langen
Pinzette schließlich die abgerissene Hälfte eines dünnen
Blättchens Papier, auf dem sich eine Bleistiftzeichnung fand.«
»Das Krokodil!« entfuhr es mir.
»Erfasst, teurer Freund. Was sich auf
der oberen, der fehlenden Hälfte zeigt, kann ich unmöglich sagen,
doch auf dem vorliegenden Fragment fand sich eine – im Übrigen
noch unschöner anmutende – Version des Krokodils, die sich auch
auf dem kleinen Blatt Papier findet, welches Sie gerade in Händen
halten. Diese Seite stammt aus einem Exemplar jenes Buches, das auch
Teil meines privaten Fundus ist, der Sie immer so stark zu
überfordern scheint. Ein Werk, welches sich neben kuriosen
kulturellen und landschaftlichen Beobachtungen unter anderem auch mit
Arten und Unterarten von Landwirbeltieren und Vögeln befasst, welche
ein zoologisch nicht allzu bewanderter Weltreisender auf seinen
Unternehmungen gesehen haben will. Bei der Lektüre dieses Werkes
ging es mir seinerzeit weniger um die seltsamen Tierzeichnungen als
um mögliche Verbrechen, derer der Autor unbewusst Zeuge wurde. Das
Buch stammt aus der napoleonischen Ära und bot mir dringend
benötigten Aufschluss über einen bis vor wenigen Jahren hierzulande
noch unbekannten Serienmörder, der in der Tat auf allen fünf
Kontinenten sein Unwesen getrieben hat. Um diese Dinge en detail
auszuführen, ist gerade keine Zeit. Wichtiger scheint, dass ich mich
schnell entsann, diese Art von Krokodil schon einmal gesehen zu
haben. Nachdem ich mich bei Inspektor Hamilton und den beiden
Kirchenmännern empfohlen hatte, fand ich Gelegenheit, die übrigen
Räumlichkeiten von St. George's und das Areal rund um die Kirche
einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.«
»Wurden Sie fündig, Holmes? Es muss
doch noch Spuren gegeben haben.«
»Nein, Watson. Es fand sich gar
nichts. Seit Tagen hat es nicht geregnet, nirgendwo konnte ich
verwertbare Fußspuren ausmachen. Außerhalb der Sakristei fanden
sich weder Blut noch irgendwelche Zeichen eines Kampfes«, gab Holmes
zu; ungeduldig und frustriert.
»Wie ging es weiter?«
»Ich setzte mich auf die Stufen der
hohen Treppe, die am großen Portal dieser klassizistischen Kirche
hinauf zu sechs riesigen Säulen führten und inhalierte eine Pfeife
darüber. Als meine Sinne sich schärften, nahm ich den schwachen
Geruch frischen Brots war. Das brachte mich auf den Gedanken, die
umliegenden Geschäftstreibenden zu konsultieren, ob sich nicht etwas
Ungewöhnliches in den frühen Morgenstunden zugetragen hätte. So
besuchte ich die von mir bereits olfaktorisch ermittelte Bäckerei,
ein Telegraphenamt sowie zwei Krämer. Leider war all diesen
Bemühungen kein Erfolg vergönnt. Der Bäcker meinte sich zu
entsinnen, gegen sieben Uhr hastige Schritte vor seinem Geschäft
gehört zu haben, allerdings war er sich dessen nicht ganz und gar
sicher. Dies wirkt auch nicht sehr erhellend, da unser Opfer zwar
etwa zu dieser Zeit den Tod gefunden hat, diese Geräusche jedoch von
jedem hätten stammen können. Bevor ich also wieder hier eintraf, um
in der Abstellkammer meinen Erinnerungen nachzujagen – mit Erfolg,
wie Sie bereits wissen –, begab ich mich zum University College und
bat um eine Unterredung mit dem Inhaber des Lehrstuhls für Zoologie.
Sehen Sie, ich wollte mich voll und ganz vergewissern, worum es sich
beim unserem Krokodil handelt.«
»Was ergab Ihre Unterredung?« wollte
ich wissen.
»Gar nichts. Professor Lloyd war
abwesend. Ich versicherte seiner Sekretärin, dass es sich um eine
wichtige polizeiliche Angelegenheit handele und seine Expertise
dringend benötigt würde. Sie versicherte mir, Sie sorge dafür,
dass er sich heute Abend gegen acht Uhr in der Baker Street
einfände.«
»Dann erwarten wir ja Besuch, Holmes!
Ich wäre dankbar gewesen, hätten Sie mir das schon etwas eher
gesagt, ich bin schon in meiner Abendpelerine und es ist bereits 8
Uhr!«
»Mein guter Watson, der Professor
trägt Derartiges gelegentlich höchstwahrscheinlich auch, so wird
ihn Ihr Anblick sicher nicht um den Schlaf bringen.«
Holmes hatte gut reden, er war es ja
nicht, der sich blamierte. Die Intelligenzia in Gestalt des
Professors neigte nicht zur Unpünktlichkeit, wie ich anfangs noch zu
hoffen wagte. Wenige Momente nach dem Glockenschlag läutete es an
unserer Tür. Albert Lloyd, dem ich nur dem Namen nach kannte, erwies
sich als hagerer Gentleman von würdevollen Gebaren, einer Hakennase
à la Holmes und sonnengegerbter Haut. Seine Züge waren so verformt,
wie es oft bei Personen zu beobachten ist, die einen Kneifer tragen.
Nach dem er uns – mich im Besonderen – ausgiebig gemustert hatte,
folgte er Holmes Aufforderung und ließ sich auf der Couch nieder.
Bisher verlief dieses Begegnung gänzlich wortlos.
»Ich hoffe, Sie verzeihen, Herr
Professor«, brach Holmes endlich die kühle Ruhe, »Plötzlichkeit
und späte Stunde sind lediglich Resultate der hohen Dringlichkeit,
welche der hier gegenständlichen Sachlage eigen ist.«
Die Züge des Professors verloren etwas
von ihrer Härte, ja, da war sogar der Anflug eines Lächelns.
»Schon gut, Mr. Holmes. Ich fühle
mich durchaus geehrt, wenn der eminente Fachmann eines Gebiets den
Fachmann einer ihm fremden Disziplin konsultiert, um an seinem Wissen
zu partizipieren. Nur, und Sie mögen mir dieses Geständnis
verzeihen, müssen meine Katze, meine beiden Hunde sowie mein Leguan
heute verspätet zu Abend essen und das sind sie, wenn ich das so
ausdrücken darf, alles andere als gewohnt. Außer von mir selbst
lässt sich gerade der gute Leonard – ein großartiges Exemplar
der Gattung Brachylophus, das ich von den Fidschi-Inseln mitgebracht
habe – nur noch von meiner werten Schwester füttern. Sie
kurzfristig aus Portsmouth anreisen zu lassen, war keine Option. Mein
Diener hat sich bereits mehrmals daran versucht und kläglich
versagt. So hoffe ich, es handelt sich in der Tat um eine Sache,
welche keinen Aufschub bis morgen früh duldet.«
»Das möchte ich Ihnen gern
versichern, Herr Professor«, antwortete Holmes belustigt. »Ich
werde es für Sie kurz halten, gerade ob Ihrer außergewöhnlichen
zoologischen Umstände. Ist Ihnen ein Tier wie dieses ein Begriff;
ein Krokodil, welches so oder so ähnlich aussieht?«
Holmes reichte unseren Besucher die
Seite aus seinem alten Buch. Professor Lloyd examinierte die darauf
befindliche Zeichnung und ließ nachdenklich den Blick schweifen, bis
er wieder das Wort an uns richtete.
»Meine Herren, ich bin überrascht,
dass muss ich gestehen. Vor allem, da sich dieses Exemplar in Ägypten
gefunden haben soll.«
»Wie kommen Sie darauf, Professor?«
fragte Holmes eilig und sichtlich irritiert.
»Nun, hier ist eben nicht nur ein
Krokodil auf der Vorderseite zu sehen, sondern auch der Ausschnitt
eines Registerkürzels wie es in der 'Description de l'Egypte' zu
finden ist, dem einzigartigen frühägyptologischen Werk jener
Forscher, die Kaiser Napoleon bei seinem großen Feldzug anno 1798
begleiteten. Dabei handelt es sich um eine sehr umfangreiche Sammlung
von Hieroglyphen- und Bilddokumenten. Mir ist dieses Werk nur
sporadisch bekannt, jedoch umfasst es meiner Kenntnis nach auch eine
Reihe zoologischer Zeichnungen endemischer Arten. Das allerdings
Gaviale in Ägypten heimisch sind, oder es jemals waren, ist mir
nicht bekannt.«
»Gaviale?« unterbrach ich den
Professor.
»Sie müssen wissen, die Ordnung der
Krokodile umfasst neben dem echten Krokodil und den Alligatoren noch
eine dritte, weit weniger bekannte Familie, nämlich diejenige der
Gavialen, welche eine spitze, längliche Schnauze besitzen und alles
in allem Ihrem Exemplar ähneln. Sie sind meines Wissens nach
lediglich in unseren Kolonien im nördlichen Indien sowie in Nepal
beheimatet, andere Gattungen sollen auch im schönen Singapur sowie
auf den Inseln Sumatra und Borneo gesichtet worden sein. Das eine
Gattung der Gavialen in Ägypten vorkommt, erscheint mir im höchsten
Maße unwahrscheinlich. Wenngleich ich nicht ausschließen möchte,
dass Gaviale vor langer Zeit auch in Ägypten heimisch gewesen sein
könnten.«
»Mein Gott, Watson, was bin ich nur
für ein entsetzlicher Narr!«, brach es plötzlich aus Holmes
heraus. »Wie konnte mir nur das Offensichtliche entgehen. Ich suchte
Bäckereien und Krämer auf, obwohl ich heute doch wenigstens zweimal
am monumental anmutenden Lösungsansatz vorbeigefahren bin!«
»Professor, ich danke Ihnen vom
Herzen. Sie haben einem Blinden unwissentlich die Augen geöffnet und
erleuchtet, was längst vor ihm ausgebreitet war. Ich bin sicher,
Ihre kleine Menagerie wird Sie schon schmerzlich vermissen. Den Weg
nach unten kennen Sie ja bereits.«
Wenig später, als unser verdutzt
dreinschauender Gast gerade erst aus der Tür war, brach Holmes in
hastige Betriebsamkeit aus.
»Ziehen Sie sich um und machen Sie
sich bereit auszugehen, Watson. Ich suche uns derweil eine Droschke
und warte unten auf Sie. Uns erwartet eine lange Nacht.«
»Wo fahren wir denn hin?«
»Zum Yard und danach direkt nach
Bloomsbury.«
»Wir begeben uns zum Schauplatz des
Verbrechens, nach St. George's?«
»Ja und nein, alter Junge. Jetzt gilt
es keine Zeit zu verschwenden, wir müssen ein weiteres Verbrechen
verhindern. Das Wild ist auf, treuer Freund, und das nicht nur beim
heiligen George!«
»Gott mit Heinrich! England! Und Sankt
George!« blies ich zum Sturm.
Sherlock Holmes verbrachte den Großteil
seines Berufslebens mit reiner und im allerhöchsten Maße
anspruchsvoller Geistesarbeit. Doch wenn er in die Schlacht zog und
hoffte, sein Gegenspieler rüstete gleichsam zur letzten Offensive,
dann war er nicht mehr zu bändigen. Eine der zahlreichen Ausgeburten
dunkler Kräfte, welche oftmals noch nicht einmal zu ahnen wagte, mit
wem es bald die mentalen Klingen zu kreuzen galt, bekam es dann mit
der ganzen Macht geistiger und physischer Stärke des größten
Detektivs Europas zu tun.
Wenig später saßen wir in unserer
Droschke und ratterten in Windeseile durch die nebligen Straßen
Londons. Es war bereits neun, als zu unserer Rechten Big Ben zur
vollen Stunde schlug. Unser Kutscher bog links ab und bald hatten wir
das Yard am Victoria Embankment erreicht. Inspektor Hamilton war
Junggeselle und pflegte daher ganz und gar in seiner Arbeit
aufzugehen, weswegen es mich nicht wunderte, in zu weit
fortgeschrittener Stunde noch an seinem Schreibtisch anzutreffen;
vertieft in Fallberichte. Der Inspektor war Anfang dreißig, schlank
und von mittlerer Größe, trug einen gezwirbelten Schnauzbart und
legte im Allgemeinen viel Wert auf eine gepflegte Erscheinung. Seine
Augen sprühten immerzu vor Tatendrang und Wissbegierde. In Holmes
hatte er einen idealen Lehrmeister gefunden und dem großen Detektiv
imponierte es sichtlich, wieder einmal einen dankbaren und vor allem
begabten Schüler unter seine Fittiche nehmen zu können.
»Mr. Holmes, ich bin erfreut, Sie und
Dr. Watson anzutreffen«, begrüßte uns Hamilton und drückte uns
herzlich die Hände. »Beinahe hätte ich Sie selbst noch aufgesucht;
dann habe ich einen Blick auf die Uhr geworfen und mich eines
Besseren besonnen. Mr. Holmes, irgendetwas stimmt hier nicht. Ich
habe immer und immer wieder den Bericht sondiert und darüber
nachgedacht, wie der Täter in das Gotteshaus gelangt sein soll. Ganz
zu schweigen davon, wie er sich dann wieder aus den Staub gemacht
haben will. Keinerlei Einbruchspuren, keine versteckten Türen oder
Klappen. Und was mich an der Sache besonders stört: Wie konnte
dieser Mensch gleich drei massive Türen völlig spurlos überwinden?«
»Haben Sie eine Theorie, Inspektor?«
fragte Holmes.
»Der Täter hatte einen Schlüssel!
Entweder hat er sich unbemerkt einen Abdruck beschafft, oder, und ich
wage es kaum auszusprechen: Es war einer der Gottesmänner aus St.
George's.«
»Ich darf Ihnen gratulieren,
Inspektor. Sie haben sich die richtigen Fragen gestellt und die
zwangsläufigen Schlüsse gezogen. Was fehlt uns noch, um des Täters
habhaft zu werden?«
»Zuerst müssen wir uns der Verbindung
von Opfer zu möglichen Tätern klar werden. Diesen Aufschluss
erhalten wir jedoch nur, wenn wir der Identität des Opfers
näherkommen. Von den beiden Geistlichen ist, wie Sie selbst gesehen
haben, nicht viel zu erfahren. Mir scheint viel mehr, als könnten
sie einander ebenfalls nicht besonders gut leiden.«
»Sie vergessen die Zeichnung«, gab
Holmes zu bedenken.
»Ach, das groteske Krokodil. Haben
Ihre Nachforschungen in dieser Richtung etwas ergeben, Mr. Holmes?
Bevor ich es vergesse: Sie können das Papier jetzt gern an sich
nehmen. Meine Kollegen haben es kopiert und abgeheftet.«
»Nun, Sie meinen, die Identität des
armen Unbekannten wird uns zum Täter führen. Das denke ich auch.
Allerdings meine ich, dass uns das Motiv der Tat zum Namen und –
noch wichtiger – zum Beruf des Opfers führen wird. Dieses Vorgehen
wird uns, so möchte ich annehmen, direkt zum Täter führen. Sie
müssen wissen: Auch ich fertigte auf meine Weise eine Kopie der
besagten Zeichnung – weswegen ich das Original auch nicht mehr
benötige – um sie in meinem Geiste abzulegen. Und meine Erinnerung
hat mich nicht getäuscht, auch wenn ich – das muss ich gestehen –
ein wenig Hilfe benötigte habe, um dieser Erinnerung ihren rechten
Platz in unserem kleinen Puzzle zuzuweisen.«
»Gut, Mr. Holmes. Ich kenne ja Ihre
Methoden und tue gut daran, Ihren Thesen zu folgen, um davon zu
profitieren. Was schlagen Sie vor?«
»Wir sollten uns sofort nach
Bloomsbury begeben, dort wird der nächste; der zugleich letzte Akt
dieses Dramas zu erwarten sein.«
Wieder saßen wir in einer Kutsche,
diesmal jedoch in einem Brougham, welcher nebst Kutscher vor dem
Gebäude wartete, um die Herren Inspektoren möglichst schnell und
komfortabel vom Yard ans gewünschte Ziel zu bringen. Holmes reichte
dem Kutscher noch ein Papier, das er in Eile bekritzelt hatte und
dann fuhren wir auch schon los. Zu unserer Rechten war die Themse nur
zu erahnen, waren ihre Fluten im dichten Nebel kaum zu erkennen. Dann
bogen wir ab Richtung Bloomsbury und in meinem Kopf wälzte ich die
Frage, welche Gräuel uns heute Nacht dort erwarten würden. Gegen
viertel vor zehn erreichten wir unser Ziel. Eine wahre Überraschung
für mich; da es, trotz seiner Nähe zu St. George's, auch in meinen
Überlegungen bisher keine Rolle gespielt hatte.
»Das Britische Museum! « entfuhr es
Hamilton.
»Machen Sie sich nichts daraus, guter
Inspektor. Selbst ich brauchte Unterstützung, um das Offensichtliche
letztlich erfassen zu können. Aber kommen Sie, meine Herren. Lassen
Sie uns den Nachtwächter aufsuchen und uns jene Informationen
besorgen, die uns bisher noch fehlen.«
Wir läuteten also an der Wohnung des
Nachtwächters Mr. Crane, welcher uns sichtlich verblüfft öffnete.
Das recht blasse Gesicht zierten ein eigentümlich frisierter
Kinnbart und eine feine Narbe knapp oberhalb des rechten Auges. Er
führte uns in sein Wohnzimmer, in dem lediglich ein kleines
Kaminfeuer und eine beinahe abgebrannte Kerze Licht spendeten. Wir
nahmen Platz und unser Gastgeber erbat sich von uns eine Darlegung
des Grunds für diese abendliche Heimsuchung.
»Es geht uns um die Aufklärung eines
Verbrechens«, eröffnete Holmes dem neugierig dreinschauenden Mann.
»Eines Verbrechens, das sich heute Morgen hier ganz in der Nähe
zugetragen hat; sowie um die Vermeidung eines zweiten Verbrechens,
welches – so vermute ich aufs Stärkte – heute Nacht in dem
Museum geschehen soll, für dessen nächtlichen Schutz Sie, werter
Herr, die Verantwortung tragen.«
»In der Tat, Mr. Holmes? Ich bin
schockiert! Wenn ich mir ausmale, welch Skandal das wäre. Und dann
noch während meiner Schicht! Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Indem Sie unsere Fragen haargenau
beantworten.«
»Mit allen Kräften, Mister!«
»Ich nehme an, Sie sind bestens über
die Angehörigen dieser Einrichtung informiert und wissen
beispielsweise, wer pünktlich zu Dienstbeginn erscheint und wer
nicht?«
»Gewiss, Mr. Holmes. Auch wenn ich in
erster Linie der Nachtwächter bin, wird mir vieles zugetragen. Zudem
fungiere ich als Portier. Ein jeder Angestellter muss sich des
Morgens gegen Ende meiner Nachtschicht bei mir eintragen und zum
Abend wieder austragen, wenn meine Schicht beginnt. Dasselbe gilt
auch für Gäste, die sich zu Beginn und Ende ihres Aufenthalts bei
mir melden müssen. Natürlich sind reguläre Ausstellungsbesucher
davon nicht betroffen.«
»Famos! Ich entsinne mich, vor über
anderthalb Dekaden Gleiches täglich unter Ihrem Vorgänger erlebt zu
haben, als ich noch regelmäßig die Schätze Ihrer großen
Bibliothek studieren durfte. Das Prozedere hat sich also nicht
geändert.«
»So ist es. Bereits seit vielen
Jahrzehnten wird im Britischen Museum so verfahren.«
»Dann können Sie mir sicher auch
verraten, welcher der Angestellten heute kurzfristig nicht zur Arbeit
erschienen ist?«
»Wir sind ein großes Haus mit vielen
Angestellten, Mr. Holmes. Das trifft auf mehrere Personen zu.«
»Ich interessiere mich konkret für
einen Gentleman, Anfang dreißig, dunkle Haare, schlank und von
mittlerer Größe. Er arbeitet in der Abteilung für Ägyptologie
oder hat gelegentlich mit ihr zu tun. Zudem ist es mehr als
wahrscheinlich, dass er als Halbwaise aufgewachsen ist. Im fehlte
zumindest der väterliche Teil elterlicher Zuneigung.«
»Meine Güte, Mr. Holmes!« brach es
aus Hamilton heraus.
»Nur Geduld, Hamilton. Aber ich sehe,
Sie beteiligen sich intensiv an meinen Deduktionen. Bravo!«
»Wenn Sie gestatten, Gentlemen,« warf
der Alte ein, »Ich kann Ihnen genau sagen, wen Sie suchen,
wenngleich ich Ihnen gleich sagen muss, dass ich für die Seriosität
und Courage von Dr. Knorr jederzeit meine Hand ins Feuer legen
würde.«
»Dr. Knorr heißt er also? Was können
Sie uns noch über ihn sagen?« insistierte der Inspektor ungeduldig.
»Nun, Dr. David Hieronymus Knorr ist
ein junger Archäologe, geboren und aufgewachsen in Southampton,
soweit ich weiß. Nach seinem Studium hat er mehrere große
Exkursionen in Ägypten begleitet. Dort arbeitete er wohl mit einigen
der größten Entdecker berühmter Königsgräber zusammen, unter
anderen mit Petrie und Quibell. Erst vor wenigen Monaten hat er hier
im Britischen Museum begonnen, Funde aus der jüngsten Ausgrabung zu
katalogisieren, an der er beteiligt war. Sehen Sie, ich interessiere
mich auch ein wenig für das alte Ägypten und Dr. Knorr und ich
haben es uns zur Gewohnheit gemacht, beinahe täglich vor Beginn
seiner Arbeitszeit ein wenig über seine Forschung zu fachsimpeln. Er
nimmt sich immer viel Zeit für mich und erscheint deswegen meist
schon zehn bis zwanzig Minuten vor Dienstbeginn. Am Häuschen
plauschen wir dann, soweit es bezüglich meiner Pflichten schicklich
ist.«
»‘Quibell‘, sagten Sie?« fragte
Holmes. »James Edward Quibell, der gerade erst seine zweite Grabung
in Hierakonpolis abgeschlossen hat?«
»Ganz recht, Mr. Holmes.«
»Und bei dieser Grabung zugegen war
auch Dr. Knorr?«
»Auch richtig. Dort hat er gemeinsam
mit Quibell gearbeitet und nun ist er mit dem kleinen Anteil jener
Artefakte, die ans Britische Museum gegeben wurden, tagein, tagaus
beschäftigt. Heute jedoch ist er tatsächlich nicht erschienen. Ich
habe mich auch schon gewundert, das ist bisher noch nicht
vorgekommen. Doch wollte ich mich nicht zu früh in Sorgen ergehen.
Wissen Sie, Dr. Knorr ist sehr gewissenhaft und stets pünktlich. Er
sagte einmal zu mir: Jeder Mensch, der mit Gottes Hilfe eine schwere
Zeit bewältigen konnte und dem dann noch besondere Begabungen
geschenkt wurden, trage große Verantwortung, dieser Güte Gottes auf
Erden gerecht zu werden. David ist bei seiner armen Mutter
aufgewachsen. Er war gerade vier Jahre alt, als sein Vater starb.
Aber man sollte nicht behaupten, dass dessen Dahinscheiden ein
ausgesprochenes Übel für Mutter und Sohn darstellte. Der Kerl war
ein Trinker und Glücksspieler und geriet des Öfteren in Konflikt
mit dem Gesetz. Eines Tages stürzte er im Rausch über die Reling
seines Fischkutters und verschwand in den Fluten des Kanals. Wenig
später erkrankte Davids Frau Mutter an einem Nervenfieber und
überlebte dies nur knapp. Die Tante kümmerte sich fortan um den
Jungen. Später ermöglichte sie ihm gar ein Studium in Oxford.«
»Großartig, guter Mann!«, rief
Holmes. »Können Sie uns noch sagen, ob Dr. Knorr hin und wieder
Besuch während seiner Arbeitszeit erhielt?«
»Gewiss, Mr. Holmes. Ein älterer
Gentleman, der sich als ‚Mr. Fox‘ vorgestellt hat, hat in den
letzten paar Wochen des Öfteren bei Dr. Knorr hereingeschaut.«
»Was können Sie uns über jenen
gewissen Herrn sagen?«
»Eine recht große Erscheinung mit
salbungsvollem Gebaren, trotz geduckten Gangs. Zudem trug er eine
Kette um den Hals, jedoch größtenteils von einem dunklen Pullunder
verborgen. Im Wesentlichen sind das die Dinge, welche mir ins Auge
gefallen sind.« Er zögerte.
»Noch etwas?«, hakte Holmes nach.
»Nun, es liegt mir fern, schlecht über
einen Freund des guten Dr. Knorr zu sprechen, weshalb ich auch
gezögert habe, es gleich zu sagen. Nun, Mr. Fox verströmte des
Öfteren einen starken alkoholischen Geruch und wirkte auch von Mal
zu Mal in zunehmenden Maße berauscht.«
»Jetzt sind wir endlich ganz und gar
im Bilde. Eines muss ich Ihnen nun noch gestehen, bevor wir zur Tat
schreiten: Ihr guter Bekannter hat sich keines Verbrechens schuldig
gemacht, er wurde vielmehr Opfer einer solchen Tat. Und nun liegt es
an uns, seinen Mörder zu fassen und ihn an weiteren Untaten zu
hindern. Möchten Sie uns dabei helfen?«
Bei diesen Worten war der Mann in
seinem Stuhl zusammengefahren. Der allerletzte Rest von Farbe wich
aus seinem Gesicht. »Ach du lieber Himmel, wie furchtbar! Mr.
Holmes, meine Herren, natürlich will ich Ihnen in jeder erdenklichen
Art helfen, diesen Verbrecher dingfest zu machen.«
Der Nachtwächter führte uns auf
Holmes‘ Wunsch hin durch die „heiligen Hallen“ der Naturkunde.
Wir betraten den imposanten Gebäudekomplex, der die großen Schätze
der Ausstellung beherbergt – einst Teil der Sammlung Sir Hans
Sloanes, des ersten Barons von Chelsea. Wir durchwanderten die große
Eingangshalle, vorbei am Büro des Direktors, bis hin zum Hofzugang.
Mr. Crane eröffnete uns auch dieses Portal und schon schritten wir
zu Füßen der großen Bibliothek zum Eingang der Abteilung für
Ägyptologie. Hinter einer riesigen Flügeltür von dunklem Holz
warteten die Relikte einer längst vergangenen Weltmacht auf.
Schaukästen voller Papyrusrollen und Skarabäen, reich verzierte
Sarkophage mit den Mumien der großen Pharaonen an den Wänden;
Statuetten wohlproportionierter, katzenhaften Königinnen thronten
auf großen Sockeln und wurden in ihrer zeitlosen Schönheit nur noch
übertroffen, von den Abbildern der Tiergottheiten, welche die alten
Ägypter verehrt hatten. Ein kleiner Gang führte uns abseits dieses
Glanzes in den Arbeitstrakt der Forscher. Unter die zahlreichen Büros
– meine Auge verfing sich im Vorbeigehen an einem Schildchen, das
den Namen unseres unglücklichen Mordopfers trug – reihten sich
kleine und größere Lagerräume, Heim der weniger glamourösen
Stücke der Sammlung. Hinter einer weiteren Biegung des Korridors lag
endlich das Ziel unserer Exkursion: Mr. Crane entriegelte eine Tür,
die vielsagend mit dem Wort 'Labor' tituliert war; und hier stießen
wir auf die Relikte der Ausgrabung in Hierakonpolis, an der unser
armes Opfer zuletzt beteiligt gewesen war. Holmes wies unseren Führer
an, auch diese Tür wieder zu verschließen, wie er es bereits mit
jeder anderen Tür gehandhabt hatte, deren Schwelle wir an jenem
Abend überschritten hatten. Das flackernde Licht unserer
Handlaternen erfüllte einen großen, quadratischen Raum von etwa
sechs mal sechs Metern Größe. Beinahe zur Gänze eingenommen wurde
er von einem gewaltigen ovalen Tisch, auf dem sich eine Vielzahl
kleiner, teils etikettierter Exponate versammelt hatte. Sie waren in
Gesellschaft dicker Bestands- und Registerbüchern, die sich zu
dutzenden auch in hohen Regalen fanden. All das zeugte vom Plan einer
gründlichen Katalogisierung und Erforschung der soeben erst in
Oberägypten geborgenen Relikte. Hier lagen Tonplatten verziert mit
Hieroglyphen, dort ragten kleine Statuetten aus dem Packstroh in den
Überseekisten, die den Raum verstopften. Am gegenüberliegenden Ende
des riesigen Eichentischs erahnte ich Papyrusrollen, die sich
allerdings in keinem allzu guten Zustand befanden. Zwischen
Tischkante und einer Regalwand linker Hand stand ein weiteres Möbel,
darauf lagerten ein Federetui, Papier und Lupen von verschiedenen
Stärken. Eine Lampe überstrahlte die Szenerie mit dem nüchternen
weißen Licht eines Operationssaals und erinnerte an die kühle
Anwesenheit der Moderne in einem Tempel, geweiht der Geschichte.
Holmes unterzog noch jeden kleinsten
Gegenstand seinem prüfenden Blick und durchforstete die
Aufzeichnungen des jungen Archäologen Dr. Knorr nach Hinweisen, die
Licht ins Dunkel dieses Verbrechens bringen könnten. Nach einigen
Minuten schien er fündig geworden zu sein. Einige Momente lang
starrte er auf eine der Registraturen, dann eilte er wie vom Blitz
getroffen im Raum umherzueilen und die Regale abzulaufen. Ein Buch
nach dem anderen zog er heraus und schob es anschließend wieder
hinein. Schließlich fand er, wonach er suchte. Holmes tastete nach
einer dicken Schwarte, auf deren Rücken in goldenen Lettern etwas
wie 'Robinsons Märchen' geprägt war – es ließ sich nicht
gänzlich herausziehen. Im Inneren des Regals klickte und klapperte
es leise. Holmes hatte einen geheimen Mechanismus in Gang gesetzt;
und ein Teil der Bücherfront löste sich vom Boden bis zur Decke und
gab einen schmalen Spalt frei.
»Ein seltsamer Fund«, bemerkte
Hamilton irritiert, »wenn man bedenkt, welcher Disziplin diese
Abteilung sich verschrieben hat.«
»Folgen Sie immer dem, was nicht zum
Rest passt«, warf ich ein. »Was genug von der Norm abweicht, um
aufzufallen und sich als etwas Besonderes herausstellt, wird das
Dunkel fast immer zu erhellen vermögen«
»So ist es, alter Knabe.« pflichtete
Holmes bei. »Und jetzt möchten wir einen kurzen Blick riskieren.
Wollen wir einmal sehen, was sich hinter dieser Bücherwand
verbirgt.«
Holmes examinierte die kleinen Schlitze
der mannshohen, bisher verborgenen Wandöffnung. Einige Augenblicke
später fischte er ein etwa dreißig mal zwanzig Zoll messendes
Tonfragment hervor. Nachdem er es sich geschwind angeschaut hatte,
legte er es zurück an sein Versteck, verschloss vorsichtig die
Bücherwand und schob behutsam den alten goldgeprägten Lederrücken
zurück an seinen Platz.
»Nun gilt es abzuwarten und das Licht
zu dimmen, meine Herren.«
»Was haben Sie denn dort gefunden,
doch nicht etwa ein Krokodil im Miniaturformat?«, wollte der
belustigte Inspektor wissen.
»In gewisser Weise habe ich das sehr
wohl, mein lieber Hamilton. Aber später wird gewiss noch reichlich
Gelegenheit sein, alles ausführlich zu erläutern. Jetzt möchte ich
Sie alle bitten, hinter diesem Paravent, der so passend bereitsteht,
Posten zu beziehen und Ihre Lumineszenz sowie Ihre akustische
Vernehmbarkeit auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.«
Wir gingen also in Stellung hinter dem
Wandschirm und dunkelten die Laternen ab. Holmes gab seine Unlust zu
tiefergehenden Erläuterungen zu Verstehen und gemahnte uns zur Ruhe.
Der große Detektiv ließ sich im Schneidersitz nieder, schloss die
Augen und legte seine Fingerkuppen aneinander. Wie er da so im
beinahe sakralen Halbdunkel saß, erinnerte er mich an den Buddha,
der völlig im Einklang mit sich selbst und dem Universum auf die
Erleuchtung wartet. Mr. Crane tat es ihm insofern gleich, als dass er
sich ebenfalls setzte und in völliger Bewegungslosigkeit verharrte.
Hamilton und ich standen noch eine Weile herum und lugten von Zeit zu
Zeit über den Rand unseres Verstecks. Nach einiger Zeit dessen
überdrüssig begaben wir uns schließlich auch zu Boden. Unsere
Wartezeit erschien sich fast unerträglich lang hinzuziehen. Wie
lange wir schon auf der Lauer lagen, konnte ich nur abschätzen, da
es in dieser Dunkelheit keinem von uns möglich war, die Zeit von
unseren Uhren abzulesen. Eine Dunkelheit, die auch sinnbildlich für
meine Ratlosigkeit bezüglich dessen stand, was und vor allem wer uns
hier heute Nacht erwarten würde.
Um Einiges später, sicher schon weit
nach Mitternacht, wurde Holmes‘ geradezu statuenhafte Ruhe -
Ahnungslose hätten durchaus glauben können, er sei eingenickt –
durch ein Geräusch gestört. Er öffnete die Augen, rutschte auf die
Knie und legte sich wie ein Raubtier in Erwartung seiner Beute auf
die Lauer. Einige Minuten geschah nichts. Wir anderen drei wagten
weder Laut noch Bewegung. Schließlich vernahm ich ein Knirschen –
der Schlüssel im Türschloss! Holmes bewegte sich keinen Inch vom
Fleck, beobachtete mit einem Auge jedoch ganz genau, was sich
jenseits unseres Verstecks zutrug. Auch Hamilton und ich krochen nun
vorsichtig zum dem Holmes entgegengesetzten Ende des Wandschirms, um
der Szenerie zu folgen.
Als sich die Stunden zuvor von Mr.
Crane gründlich verschlossene Tür endlich öffnete, drang der
Schein einer Lampe ins Zimmer. Vom Licht geblendet, erahnte ich
lediglich den Umriss einer Person im grauen Regencape. Die Person
schloss die Tür hinter sich, vorsichtig und beinahe ohne jeden Laut,
um sich dann schnell zum Artefaktentisch zu begeben. Er stellte seine
Lampe ab und beugte sich über die Aufzeichnungen des seligen Dr.
Knorr. Wie Holmes vor einigen Stunden, schien er die Aufzeichnungen
und einige der verstreuten Relikte längst vergangener Tage gründlich
zu untersuchen. Schließlich öffnete er sein Cape ein Stück weit
und entnahm der Innentasche den zerknüllten Fetzen eines Papiers. Er
glättete es, breitete es vor sich aus und verglich es mit einem
Bogen auf dem Tisch. Dann, plötzlich und ohne Vorwarnung, stieß er
etwas für mich unverständliches aus und hastete zu jener
Bücherwand, mit der sich auch mein Freund Holmes zuvor intensiv
beschäftigt hatte. Er fand den alten Lederrücken, bewegte ihn nach
vorn, die Geheimtür öffnete sich und gab das verborgene Tonfragment
preis. Unser nächtlicher Eindringling griff hastig danach und mühte
sich um Verwischung der Spuren, die seine nächtliche Anwesenheit
hätten verraten können. Als er mit alledem fertig war, öffnete er
sein Cape noch ein Stück weiter und zog einen Beutel aus dem Sakko
hervor, welches er darunter trug.
»Das dürfte reichen, mein Herr!«
brüllte Holmes. Gleichzeitig richtete er den Scheinwerfer seiner
Lampe in die Richtung des Verbrechers, der darauf erschrocken
zurückwich und die alte Tonplatte fallen ließ. Sie zerbarst ist
dutzende Teile.
»Sie verdammter Bastard!«, schrie der
Räuber und fischte hastig nach irgendetwas in den Innentaschen
seiner Jacken.
»Watson, Hamilton! Darf ich Sie
bitten, nun endlich Ihre Revolver zu ziehen und unseren Besucher in
seine dringend benötigten Schranken zu weisen.«
Wir zögerten keine Sekunde – zogen
und entsicherten unsere Waffen und richteten sie beinahe synchron auf
den unheimlichen Gentleman im Regencape. Er zuckte zusammen und
schien kurz zu erwägen, ob er das Schicksal herausfordern solle,
nahm dann jedoch lieber Abstand davon. Er streckte uns seine Hände
entgegen und Hamilton ließ sich nicht zweimal bitten, ihm die
wohlverdienten Handschellen anzulegen. Als er dem Halunken die Kapuze
aus dem Gesicht zog und ihm ganz klar in die Augen blicken konnte,
traten abwechselnd Erstaunen und blanke Wut ins Gesicht des
Inspektors. Genies müssen angemessen hofiert werden – daher
ersuchte Holmes den Inspektor, uns trotz der nächtlichen Stunde
zusammen mit dem Gefangenen in die Baker Street zu begleiten um uns
ganz und gar ins Bilde dieser Tat und ihrer näheren Umstände setzen
zu dürfen.
Kurz darauf saßen wir auch schon im
Brougham der Polizei, welcher gen Baker Street durch die zunehmend
nebligen Straßen unserer großen Stadt vorwärts zuckelte. Schnell
kamen wir nicht voran und während der gesamten Dauer unserer
Kutschfahrt unterhielt uns der neuer Passagier mit wilden
Verwünschungen, die sich vor allem gegen Holmes und die Polizei
richteten. Meine Taschenuhr verriet mir, dass es halb drei Uhr
morgens war, als wir endlich die Marylebone Road verließen und auf
die Baker Street einbogen. Hamilton bewegte seinen ungebärdigen
Gefangenen mit eindringlichen Mitteln zum Übertreten der
Türschwelle, um ihn schließlich ins Wohnzimmer und auf einen Stuhl
zu schleifen. Der Inspektor selbst bezog auf einem zweiten Stuhl,
direkt daneben Stellung und behielt den Täter sehr ausdauernd und
voller Entschlossenheit im Auge. Ich setzte mich in meinen Sessel und
warf einen fragenden Blick auf Holmes, der zunächst das
übernächtigte Kriminalistengespann mit Cognac und Zigarren
versorgte und es sich dann in seinem Sessel gemütlich machte.
»Sie, Herr Detektiv«, fauchte der
immer noch vor Wut schäumende Mann, »könnten mir wenigstens auch
einen Drink einschenken, wenn Sie mir schon keine Zigarre anbieten!«
»Ach herrje«, sprach Holmes höhnisch,
»versäumte ich etwa, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich
nur mit denjenigen Gesetzesbrechern zu trinken und zu rauchen pflege,
denen wenigstens ein Mindestmaß an Moral und Anstand zu eigen sind?«
»Wie konnten Sie, ein Mann Gottes, ein
Priester, sich nur herablassen, ein solch schreckliches Verbrechen zu
begehen?«, stieß ich aus; in der Annahme einer messerscharfen
Deduktion.
»Watson, mein guter Watson. Diesmal
möchte ich Sie in eingeschränkter Form verteidigen, denn Sie
verfügten heute nicht über all jene Informationen, um ihren
deduktiven Schluss ausreichend abzusichern. Genau genommen sind Sie –
und, bis vor einer Stunde, auch der geschätzte Inspektor – diesem
ekelhaften Wurm auf den Leim gegangen. Sie glaubten, wovon er wollte,
dass sie es glauben. Wollen Sie vielleicht etwas Erhellendes zu
unserer Unterhaltung beitragen, Mr. Fips? Oder soll ich Sie bei ihrem
wirklichen Namen nennen?«
»Ich habe nichts zu sagen, Gentlemen.
Und nennen Sie mich von mir aus, wie Sie wollen.«
»Fips, der Küster?« rief ich
erstaunt.
»Gewiss, Watson. Dem Inspektor ist es,
wie ich sehen konnte, auch erst vorhin aufgefallen. Aber – und Sie
möchten mich berichtigen, falls ich irre – wenn Sie den
vermeintlichen Fips und Vikar Ashcroft nicht bereits heute Morgen
gesehen hätten, würden Sie Letztgenannten doch gewiss immer noch
für den Täter halten?«
»In der Tat, Mr. Holmes. Zum Glück
sind wenigstens Sie seinem Schauspiel nicht auf den Leim gegangen.«
»Ich muss gestehen, noch heute Morgen
habe ich ebenso den Vikar verdächtigt. Dann jedoch wurde mir
bewusst, dass sämtliche Berichte, welche einen Schatten auf ihn
warfen, entweder aus dem Munde von Mr. Fips kamen oder aber vom Täter
gestreut und absichtlich in dessen Darstellung integriert wurden, den
wir jetzt als ebendiesen Küster haben identifizieren können. Jener
erzählte uns vom angeblichen Alkoholismus des Vikars Ashcroft sowie
über dessen vermeintliche Sittenlosigkeit. Einen solchen Eindruck
erweckte dieser Kirchenmann bei mir jedoch keineswegs. Vielmehr
wirkten seine Demut und Betroffenheit ob dieser Schandtat sehr
aufrichtig auf mich. Auch die klassischen Anzeichen eines
Alkoholmissbrauchs vermochte ich bei ihm nicht auszumachen. Heute
Morgen befragte ich zudem beide Anwesenden kurz getrennt voneinander.
Mr. Fips erwiderte auf meine Frage zu Besuchern des Vikars freimütig,
er treffe regelmäßig einen jungen Gentleman, welcher zum von uns
vermuteten Erscheinungsbild des Opfers passen könnte. Auch einen
Streit habe er einmal vernommen. Der Vikar dagegen äußerte
kryptisch Mr. Fips verkehre seit einigen Wochen mit einem
freundlichen jungen Herrn, er stellte aber keine weiteren
Spekulationen zu unserem Sachverhalt an. All dies, meine Herren,
unterstreicht die vorangegangenen Folgerungen. Der Vikar war
unverdächtig, so blieb nur noch Mr. Fips übrig. Niemand sonst
verfügte über einen eigenen Schlüssel zur Kirche. Andere Optionen
– etwa verborgene Türen und Verschläge oder gar Einbruch –
schieden nach der gründlichen Untersuchung des Tatorts aus. Nun galt
es nur noch, Fips' Motiv und dessen Verbindung zum armen Dr. Knorr zu
klären.«
»Das sagen Sie so leicht, mein lieber
Holmes«, warf ich ratlos ein.
»Sie glauben kaum, wie stark sich die
Form der Ohren über die männliche Linie vererben kann. Da vom
Gesicht des Verblichenen nicht mehr allzu viel erhalten war, unterzog
ich seine Ohren einer profunden Untersuchung und stellte interessiert
fest, dass Muscheln sowie Läppchen in Form und Ausrichtung große
Ähnlichkeiten mit denen von Mr. Fips aufwiesen. Auch die
übereinstimmende Ausformung der Augenhöhlen lieferte mir großen
Aufschluss. Watson, Sie kennen doch meine kleine Schrift 'Einige
Bemerkungen über die ererbte Physiognomie zum Zwecke der
Verbrechensaufklärung'?«
»Sagen wir, ich habe es überflogen«,
erwiderte ich verlegen.
»Hätten Sie es gelesen oder gar
studiert, dann hätten Sie mir gestern Abend andere Fragen gestellt
und sich vielmehr an dieser Art aufschlussreicher Details
interessiert gezeigt.
Sei es drum. Spätestens nach unserem
Gespräch mit Mr. Crane, dem Nachtwächter, war aus meinem Verdacht
Gewissheit geworden: Mr. Fips ist der angeblich verstorbene Vater des
seligen Dr. Knorr.«
»Meine Güte!« unterbrach der
Inspektor erschüttert, »Sie ermorden Ihren eigenen Sohn und wollen
Ihn nach dieser Gräueltat auch noch berauben?«
Auch wenn der Küster noch immer einen
missmutigen und abweisenden Eindruck erweckte, wich ob des
Bekanntwerdens dieser schrecklichen Wahrheit ein wenig der blinden
Wut und Arroganz aus seinen Zügen. Eine Antwort; ein Wort der
Rechtfertigung blieb er uns jedoch auch weiterhin schuldig.
»Vielleicht kann ein Mann wie Sie im
Rückblick dann doch nicht alles rechtfertigen und nicht jedwede
Schuld von sich weisen, wie den Mord am eigenen Sohne«, sprach ich
voller Verachtung aus, was uns wohl allen auf der Zunge lag.
»Weiterhin stellte sich die Frage, wie
es sein kann, dass Dr. Knorrs Vater noch lebt und mit einer anderen
Identität den Küster in St. George‘s spielt. Auch dies konnte ich
mittels rein deduktiver Denkvorgänge nach dem Gespräch mit dem
Nachtwächter des Britischen Museums erahnen. Ein Trinker ist selten
ein guter Spieler. Mr. Crane berichtete uns, Dr. Knorrs Vater sei
beides gewesen. Er verschuldete sich und geriet sicher nicht nur mit
dem Gesetz, sondern auch mit wenigstens einem ominösen Buchmacher in
Konflikt, was die beinahe unvermeidliche Folge seiner Lebensumstände
sein sollte. Den eigenen Tod vorzutäuschen ist gerade für einen
Seemann ein leichtes Spiel. Befreit von den lästigen Schulden und
sicher auch von ungewollten familiären Verpflichtungen begann er
unter neuen Namen in einer neuen Stadt ein ebenso neues wie
heuchlerisches Leben. Irgendwann las er von den ägyptologischen
Verdiensten eines gewissen David Hieronymus Knorr, dass dieser nun im
Britischen Museum angestellt sei und sich mit der wissenschaftlichen
Aufarbeitung der Funde aus Hierakonpolis befasse. Eine solche
Namenskombination wird sich im Königreich gewiss nicht oft finden
lassen. Es mag nur Neugier gewesen sein, vielleicht auch mehr;
jedenfalls entschied Fips, diesen Gentleman zu besuchen – freilich
unter einem weiteren Alias. Ob er ihn über seine wahre Identität
aufklärte oder nicht vermag ich nicht zu sagen. Dass sich aber sein
von Habgier und Bosheit durchdrungenes Wesen schließlich
durchsetzte; dies, meine Herren, kann ich mit Gewissheit sagen. Die
Tatsache, dass er von einem Besuch zum nächsten mehr und mehr Kniffe
anwandte, um zur von ihm später selbst gelieferten Beschreibung des
Vikars zu passen – gebückte Körperhaltung, salbungsvolle Gesten
und die alkoholische Fahne – zeigt uns zweierlei. Zum einen stieß
er bereits früh auf eine Sache im Labor seines Sohnes, für die ein
Raub lohnen würde. Zum anderen wird deutlich, mit wie viel Akribie
und Heimtücke hier vorgegangen wurde. Zumindest kurzzeitig sollte
der Vikar als Sündenbock herhalten, um Fips die Zeit zu geben, seine
Beute zu holen und unauffällig die Flucht zu ergreifen. Wir Menschen
verändern uns nun einmal nicht, wie so oft behauptet wird. Lediglich
passen wir uns neuen Lebensumständen an und die meisten zeigen nur
jene Wesenszüge, die ihnen gerade von Nutzen sind.«
»Was uns schließlich zum Motiv der
Tat führt – richtig, Holmes?«
»Ganz recht, Watson. Und hier muss ich
gestehen, dass ich wohl von der Strahlkraft des so offensichtlichen
Zusammenhangs geblendet gewesen sein musste, bis der gute Professor
Lloyd so freundlich war, meine Augen zu öffnen. Inspektor: Sie
müssen nämlich wissen, dass Watson und ich uns gestern Abend noch
zoologischen Rat eingeholt haben. Professor Lloyd klärte uns über
das groteske Krokodil auf, das sich auf dem Fetzen Papier finden
ließ, den ich aus dem Rachen des Toten bergen konnte.
Interessanterweise ist dieses Krokodil – konkreter: ähnliche
Vertreter dieser als Gaviale bezeichneten Familie – der Forschung
aus Sumatra und Indien her nicht unbekannt. Noch erhellender ist der
Umstand dass der Professor diese Zeichnung auf eine französische
Forschungsarbeit aus Ägypten zurückzuführen vermochte. Es scheint
nahezu ausgeschlossen, dass diese Krokodile vor weniger als einem
Säkulum noch in Ägypten heimisch waren. Daher lag der Verdacht
nahe, dass es sich bei Doktor Knorrs Krokodil um die Kopie eines
altägyptischen Tiergottsymbols handelt, welche sich oft auf
archäologischen Artefakten finden lassen. Ein solches drängte sich
mir nun dringend als Tatmotiv auf. Da dem Opfer sämtlicher Besitz
abgenommen wurde, der uns Aufschluss über dessen Identität oder
Profession hätte geben können, legte mir folgende Deduktion nahe:
Der Mörder befürchtete, dass es sonst gar der Polizei durch
Kombination möglich gewesen wäre, eine Verbindung zwischen dem
Opfer und dem nächstliegenden Ort archäologischer Forschung zu
ermitteln.«
»Natürlich, Holmes«, gab ich
erstaunt von mir. »Das Britische Museum. Fabelhaft! Es liegt ja in
direkter Nachbarschaft von St. George's.«
»Und wie kam es denn nun zum Mord an
Dr. Knorr?« wollte Hamilton endlich wissen. »Und um welches
Artefakt handelt es sich? Um die Tonplatte, die dieser Unmensch hat
fallen lassen, als er sich der Festnahme entziehen wollte?«
»Zuerst zum Mord, Hamilton: Mr. Knorr
– ich darf Sie doch so nennen, Mr. Fips, oder ist Ihnen vielleicht
Mr. Fox lieber? Sie scheinen ja eine Vorliebe für Einsilbigkeit zu
haben?«
»Ihr Name besitzt in allen Ohren auch
nur eine Silbe, Mr. Holmes«, flüsterte unser Gefangener boshaft.
»Und doch steht er für so viel mehr,
als es dem Ihren je beschieden sein wird«, konterte Holmes mit einem
großen Maß an Genugtuung.
»Nachdem Fips sich also der Existenz
eines Artefakts beträchtlichen archäologischen und damit auch
materiellen Werts bewusst wurde – entweder erfuhr er es von Dr.
Knorr persönlich, oder aber er durchforstete seine Aufzeichnungen –
schritt er schnell zur Planung seines Raubzugs. Er vergewisserte sich
über den genauen Aufbewahrungsort des Relikts, fertigte einen
Abdruck der Schlüssel zum Britischen Museum und eignete sich zuletzt
eine Abschrift der Symbole und Hieroglyphen an, die auf dem Objekt zu
sehen sind. Doktor Knorr bemerkte das und suchte seinen Vater an
dessen Arbeitsstelle auf, um ihn zur Rede zu stellen. Was dann
geschah, muss ich Ihnen, meine Herren, kaum noch erläutern. Nach
Küster Fips erschien auch Doktor Knorr in der Sakristei. Die Türen
waren bereits geöffnet, so benötigte das spätere Opfer auch keine
Schlüssel. David Knorr entriss seinem Vater die Kopie, die dabei
entzweiging und der gewissenhafte Sohn stopfte sich eine Hälfte in
den Mund um sie dem Zugriff des Vaters zu entziehen. Darauf kam es
zum Kampf, bei dem Fips seinen eigenen Sohn mit dem erstbesten
geeigneten Gegenstand niederschlug und um die Identität seines
Opfers zu verschleiern, verstümmelte er es auf grausam gründliche
Weise. Als er alle persönlichen Gegenstände aus den Taschen seines
Sohnes entfernt hatte, rief er nach der Polizei. Er inszenierte sich
als argloser Zeuge – nicht, ohne noch ein schlechtes Licht auf den
an der Sache völlig unbeteiligten Vikar zu werfen.«
»All dies leuchtet mir ein, Mr.
Holmes. Aber ich möchte schon wissen, um welches Artefakt es sich
nun gehandelt hat, welches vorhin in tausend Teile geborsten ist.«
»Um eine Kartusche, guter Inspektor.
Eine Königskartusche, welche auf dieselbe Zeit wie die erst kürzlich
von James Edward Quibell nachgewiesenen Könige Skorpion und Narmer
zurückzudatieren ist. Quibell ist es im Hauptdepot der Grabungen von
Hierakonpolis erst kürzlich gelungen, Licht in die frühste Epoche
der altägyptischen Geschichte zu bringen – der sogenannten 0.
Dynastie. Durch die 'Narmer-Palette' ließ sich der erste König
nachweisen, der Ober- und Unterägypten vereinte, denn er trägt die
weiße Krone Ober- und die rote Krone Unterägyptens. Nun, meine
Kenntnisse der Entschlüsselung so früher Hieroglyphen sind
begrenzt. Jedoch gewann ich in der kurzen Zeit, die mir zur
Examinierung der Kartusche blieb, einen Eindruck von ihrem
vermuteten, beträchtlichen Wert. Vor allem ging daraus hervor, dass
zur Regierungszeit Pharao Narmers ein unterägyptischer König
Anspruch auf die beiden Kronen erhob, dessen Ruf ihm den Namen
'Grauenvolles Krokodil' eingebracht hatte. Diese kleine
Königskartusche des 'Krokodils des Grauens', wie ich den Pharao
nennen möchte, hätte einen gesamtägyptischen Gegenkönig zu Beginn
der 0. Dynastie – die um das Jahr 3100 v. Chr. vermutet werden kann
– kanonisiert und diese Erkenntnis hätte dem jungen Forscher
ermöglicht, aus dem Schatten seines großen Lehrmeisters zu treten.
Für Mr. Fips stellte die Kartusche jedoch lediglich die Gelegenheit
dar, sich durch den Verkauf auf Kosten seines eigenen Sohnes zu
bereichern. Zahlungswillige Käufer für Kostbarkeiten dieses Ranges
finden sich in London gewiss zur Genüge. Man kann sagen: Durch seine
niederträchtigen Taten wurde Fips zu einer Art unheiligen
Wiedergängers des 'Krokodils des Grauens', über das die Gravur der
Kartusche Aufschluss erlaubte.«
Nach langem Schweigen erhob sich der
Inspektor, packte Mr. Fips‘ am Arm, führte ihn zur Tür, verneigte
sich tief und dankte Holmes für seine Leistung. Bald würde die
Morgendämmerung hereinbrechen, die lange Nacht hatte sowohl bei mir
als auch beim guten Holmes ihren Tribut gefordert. Ich legte mich
ohne große Umstände schlafen und Holmes tat es mir gleich.
Erst am folgenden Abend trafen wir
wieder am Kamin zusammen, wärmten uns gerade am Feuer und mit
unseren Whiskeys, da lachte Holmes plötzlich aus vollem Halse und
reichte mir ein Kabel, das ihn soeben erreicht hatte.
»Vom Inspektor, Watson. Lesen Sie.«
+++Werter Mr. Holmes,
ich darf Ihnen mitteilen, dass Mr.
Knorr, alias ‚Mr. Fips‘ oder ‚Mr. Fox‘, schließlich alles
gestanden hat und Ihre Rekonstruktion des Tathergangs sowie der
zugrundeliegenden Umstände und Motive voll und ganz bestätigen
konnte. Er wird noch heute dem Haftrichter vorgeführt. Seien Sie
sich meines größten Dankes versichert.+++
Insp. Hamilton
»Das ist ja hervorragend, Holmes.«
»Noch viel mehr als das, alter Knabe!
Diesem grauenvollen Menschen war ein ganz bestimmter Umstand wohl
überhaupt nicht bewusst.«
»Und der wäre?«
»Ich hatte nicht einmal die Spur eines
Beweises gegen ihn in der Hand.«
»Aber Holmes, was ist mit alledem, das
Sie gestern Nacht deduziert haben?«
»Dabei handelt es sich um nicht mehr
als Deduktionen, guter Freund. Sie sind zwar in sich stimmig und
zweifellos zutreffend, jedoch vor dem britischen Gesetz keine
Beweise. Nachzuweisen war ihm bis zu seinem vollumfänglichen
Geständnis lediglich der versuchte Raub eines wertvollen
archäologischen Relikts. Ob er anhand meiner vorgelegten
Indizienkette auch wegen des Mordes an seinem Sohn verurteilt worden
wäre, wäre äußerst ungewiss geblieben. Nun wird er dem Strick
allerdings nicht mehr entgehen. Davor kann ihn auch der beste Advokat
nicht mehr bewahren.«
»Ich kann nicht behaupten, diesen
Umstand zu bedauern, Holmes.«
»Mag sein, Watson. Wobei doch der Tod
dieses Unmenschen nichts nützt, außer dem archaischen
Gefühlsregungen in unserem Inneren Befriedigung zu beschaffen. Und
waren es nicht ebensolche Triebe, die diesen Mann dazu bewogen,
seinen eigenen Sohn hinzuschlachten, um sich einen materiellen
Vorteil zu verschaffen und die eigenen Haut zu retten? Gott möge
seiner Seele in höheren Maße gnädig sein, als er es je mit seinem
Sohn war.«
Die Königskartusche vom 'Krokodil des
Grauens' konnte trotz umfangreicher Versuche nicht zusammengesetzt
werden. Nun müssen die Ägyptologen darauf hoffen, dass irgendwann
noch weitere Indizien für die Existenz eines Königs dieses Namens
auftauchen. James Edward Quibell ließ verlauten, er wolle sich in
den nächsten Jahren dem Gebiet um Tarchan nahe Kairo aufmerksamer
widmen, um vielleicht neuer Erkenntnisse über den geheimnisvollen
Krokodilkönig habhaft zu werden.
Holmes befleißigte sich in Anerkennung
der Errungenschaften des verblichenen Dr. Knorr fortan ebenso
gelegentlich der ägyptologischen Forschung. Mir ist nicht bekannt,
ob er beim Studium etwaiger Reiseberichte, Fundstücke und sonstiger
Aufzeichnungen einen Hinweis zur Existenz des ‚Krokodils des
Grauens‘ finden konnte. Dass er es jedoch tat, führte mir vor
Augen, wie sehr ihn dieser Fall berührt zu haben schien. Er selbst
blieb zwar zeitlebens kinderlos, doch erschien ihm die Vorstellung
zutiefst niederträchtig, den eigenen Nachkommen das Leben zu nehmen.
Der frühere Küster von St. George's wurde nach nur dreitägiger
Verhandlung schuldig gesprochen und kurz darauf gehängt.
©
Manuel Albert Friedemann 2019
Lektorat: Anna-Sophie Naumann
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