Der Primat des Christentums - Eine kleine Exegese zum Osterfest


In der 23. Ausgabe des 'Ewald & Ewald' erschien gerade, der nun folgende Artikel aus meiner digitalen Feder. Zum Osterfest scheint es passend ihn hier zu veröffentlichen. Der Unsinn um die "Kreuzdebatte" ist noch nicht recht verklungen, die Inhalte denen sich die Christen der Welt eigentlich verschreiben sollten verklingen jedoch nie. Es ist mal wieder an der Zeit sich selbst daran zu erinnern, worin das Christsein, oder auch das Menschsein, eigentlich besteht. Nämlich in der Fürsorge um Menschen in Not, nicht um hohle Phrasen und sinnbefreite Symbole.

Der Primat des Christentums
Eine kleine Exegese


In Bayern und andernorts konnte man im zurückliegenden Jahr eine von der CSU initiierte Debatte über das Anbringen von Kreuzen an öffentlichen Orten erleben. Diese Debatte gipfelte dann zum 1. Juni mit dem Inkrafttreten des „Kreuzerlasses“, welcher allen öffentlichen Behörden die Verpflichtung auferlegt, im Eingangsbereich gut sichtbar ein Kreuz aufzuhängen. Von nun an soll in Polizeirevieren, Ministerien, Gerichtsgebäuden und Bauämtern das Zeichen der Christen darauf hinweisen, daß dies ein christliches Land mit entsprechenden moralischen und kulturellen Normen ist. Für Theater, Museen und Opernhäuser dagegen, gilt besagter Erlaß lediglich als Empfehlung, der „Gesetzescharakter“ bleibt hier aus.

Freilich fanden sich auch bisher in vielen Gerichtssälen und Schulen Kreuze. Offenbar zählt dieses Thema zu den zentralen Problemen unserer stürmischen Gegenwart. Obwohl: Vielleicht gibt es auch ein paar weitere kleine Probleme; sicher nicht so groß wie die Diskussion über die Pflicht, das Zeichen unseres Heilands überall sichtbar zu plazieren. Unsere Umwelt wird kontinuierlich und systematisch vernichtet, Wälder sind auf dem Rückzug, Arten verschwinden für immer vom Antlitz unserer Erde, das Klima verändert sich auf unabsehbare Weise und stellt uns Menschen und den Rest der Schöpfung vor nie dagewesene Herausforderungen. Millionen von Menschen werden von Armut und Krieg langsam dahingerafft und flüchten in der Hoffnung auf ein besseres uns sicheres Leben für sich und ihre Kinder in unsere Gefilde. Die Kreuze in den Gerichtssälen, in denen über ihr Schicksal entschieden wird, geben diesen Seelen sicher viel Halt und Sicherheit.

Genug der tragisch realen Ironie. Der Christ ist durchaus für Kreuze an öffentlichen Orten zu begeistern. Das Kreuz steht für die Identität des Christentums, für Jesu Opfer und für den neuen Bund, welchen er mit der ganzen Menschheit – unabhängig von Nationalität, Geschlecht und sozialem Stand – geschlossen hat. Das Kreuz ist zum Symbol des Abendlandes geworden und dient als Sinnbild der einenden Hoffnung auf Erlösung, Frieden, Nächstenliebe und ewiges Leben. Was nützt diese Symbolik aber, wenn sie durch nur wenig vom hier Angeführten unterfüttert wird? Wo ist die tätige Nächstenliebe aus den Lehren des Heilands, der am Kreuz gestorben ist, noch zu finden? In Parlament und Regierung sucht man danach mit nur sehr mäßigem Erfolg. Ankerzentren zur zügigen Abschiebung werden gegründet, die häufig muslimischen Einwanderer als Bedrohung für unsere christlich-abendländischen Werte angesehen, als ob diese mit der mannigfaltigen Trivialisierung durch die Gesellschaft nicht bereits großflächig aufgeweicht wären. Leider ist urteilsfreie Nächstenliebe auch unter den Christen Europas keine Selbstverständlichkeit mehr, wo sie doch unumgänglich ist und keine sogenannte „Kann-Regelung“ darstellt.

Jene Werte und Grundsätze, für die das Kreuz als Zeichen des Opfers Jesu steht, haben gewiß den Primat gegenüber dem Symbol, welches sie vermittelt. Die Frage sei hier trotz ihrer allgemeinen Art gestattet: Wie lautet der Primat des Christentums und welchem Grundsatz haben sich alle anderen Gebote und Gesetze unterzuordnen? Christus selbst bringt es deutlich auf den Punkt:

Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben.
(Lukas 10, 25-28)

Im Markus-Evangelium wird noch ergänzt:

Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.
(Markus 12, 31b)

Wer ist nun unser Nächster? Unsere Freunde und Verwandten, die Nachbarn oder gar alle Menschen, mit denen wir gemeinsame Interessen und Werte teilen, beispielsweise unsere Volksgenossen? Jesu Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter gibt hier den entscheidenden Aufschluß.

Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?
Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am anderen Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!
(Lukas 10, 29-37)

Sicher wählte Jesus für sein Beispiel bewußt einen Samariter, der dem Opfer zum Nächsten wurde. Die Samariter sind zwar Israeliten wie die Juden, galten diesen jedoch als erbitterte Feinde, da sie sich als Sekte von Israel abgesondert hatten (vgl. Jesus Sirach 50, 25-26). Als einige Juden ihren Unmut über Jesus zum Ausdruck bringen wollten, beschimpften sie ihn gar als einen Samariter, der von einem Dämon besessen sei (vgl. Johannes 8, 48). Die Feindschaft zwischen Juden und Samaritern beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit (vgl. Lukas 9, 51-53). Flavius Josephus führt an, die Samariter gestünden ihre Abstammung von den Juden ein, wenn es diesen „gutgehe“, sobald den Juden Schlechtes widerführe, leugneten sie jede Verwandtschaft mit ihnen (vgl. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer IX: 14, 3). Nun wurde in Jesu Beispiel gerade ein Samariter zum Nächsten eines Mannes, der wohl selbst ein Israelit war. Der in der Beispielerzählung erwähnte Handelsweg wurde von Händlern und Reisenden vieler Länder genutzt. Die Passage zwischen Jerusalem und dem Jordantal galt als beschwerlich und gefährlich, Raubüberfälle waren keine Seltenheit. Sowohl der Priester als auch der Levit fühlten sich den Gesetzten der Thora verpflichtet, die das Berühren einer Leiche verbieten, um in der Folge nicht als unrein zu gelten (vgl. Levitikus 21, 1 sowie Numeri 19, 11). Der arme Mann am Wegesrand hätte durchaus schon tot sein können; so zogen sie ihrer Wege und stellten für sich selbst das Gesetz der Ahnen über tätige Nächstenliebe. Durch die Caritas des Samariters erweiterte Jesus die Anwendung der tätigen Nächstenliebe vom eigenen Volksgenossen auf alle Menschen. „Mein Nächster“ ist derjenige, welcher meine Hilfe benötigt; unabhängig seiner Nation, Konfession oder den Umständen seiner Notlage. Für den Mann aus Samarien war nicht von Bedeutung, wer dieser verwundete Mann sei oder ob er etwa seine Notlage selbst verschuldet hätte. Er half, als es nötig war, sein Herz wurde aufgerissen und so wurde er seinem Mitmenschen zum Nächsten (vgl. Benedikt XVI: Jesus von Nazareth I, S.237).

Der moralische Imperativ des Samariter-Gleichnisses ist gar nicht zu unterschätzen. Ein jeder kulturelle Appell, alle Frömmigkeit und die gesamte Liturgie, deren Zentrum die Eucharistie darstellt, werden hohl und sinnbefreit, wenn wir die Liebe zu Gott und zu unserem Nächsten nicht haben (vgl. I.Korinther 13). Jesus begriff die „Frage nach dem Nächsten“ nicht nur universeller, als es im mosaischen Bund vorgesehen war. Er deutete diese Frage auch vom Ego her. Der Samariter wird als Subjekt der Geschichte, dem Opfer, also dem Objekt, zum Nächsten. Das führt die Deutung der Caritas auf ein neues Niveau, denn so stellt sie keine rein akademische Frage mehr dar. Die konkrete Notlage entscheidet, wessen Nächster wir werden. Der Helfende wird zum Nächsten, alles andere sollte für einen Christen nebensächlich sein.

Das Christsein hat im Wesentlichen mit Erlösung zu tun. Durch die in Adam ererbte Sünde sind die Menschen von Gott entfremdet. Das Wesen des übernatürlichen Glanzes, dessen der Mensch beraubt wurde, ist die Liebe in all ihren Ausprägungen. Von dieser Entfremdung erlöst zu werden, das ist der Primat des Christentums. Diese eine Sache – welche wir einfach „Liebe“ nennen – kennt im Altgriechischen vier differenzierende Begriffe, nämlich ἔρως (érōs), ἀγάπη (agápē), φιλíα (philía) und στοργή (storgé). Die größte unter ihnen ist ἀγάπη, die Gottesliebe, welche von Gott selbst kommt und immer uneigennützig ist – jene, die er der sich von ihm entfremdeten Menschheit zeigte, als er seinen Sohn zu ihr sandte, der von ihr verspottet und ermordet wurde. Der größte Akt der Güte und uneigennützigen Caritas ging von Gott selbst aus, auf daß der Mensch ewiges Leben gewinne. Sowohl das Opfer der Räuber als auch der Samariter, der ihm zum Nächsten wurde, stellen Gottes Primat für unser Tun dar. Die Notwendigkeit dessen kann unter diesem Aspekt als gar nicht dringlich genug verstanden werden. Die Caritas ist der Primat des Christentums.

Jeden einzelnen Menschen gehen die beiden Figuren an: Jeder ist „entfremdet“, gerade auch der Liebe entfremdet (die ja das Wesen des „übernatürlichen Glanzes“ ist, dessen wir beraubt wurden); jeder muß zuerst geheilt und beschenkt werden. Aber jeder sollte dann auch Samariter werden – Christus nachfolgen und werden wie er. Dann leben wir richtig. Dann lieben wir richtig, wenn wir ihm ähnlich werden, der uns alle zuerst geliebt hat.
(Benedikt XVI: Jesus von Nazareth I, S.241)

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  1. Dieser Artikel ist ebenso verfügbar unter http://occidens.de/textus
    Lektorat: Anna-Sophie Naumann

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