Das Zentrale Dogma des Sherlock Holmes


»Was meinen Sie zu einem Bummel durch London?«
Ich war unseres kleinen Wohnzimmers überdrüssig und willigte dankbar ein. Drei Stunden lang spazierten wir gemeinsam umher und betrachteten das unaufhörlich wechselnde Kaleidoskop des Lebens, wie es durch die Fleet Street und die Strand ebbt und flutet. Holmes' charakteristisches Geplauder mit seiner scharfen Detailbeobachtung und subtilen Fähigkeit der Schlussfolgerung ergötzte und fesselte mich unaufhörlich.

(„Der niedergelassene Patient“)

Schnitt durch eine Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit: Ein Sinnbild für Holmes' Sehnsucht nach "Überkomplexität"

In den einleitenden Worten der Novelle „The Resident Patient“ (Der niedergelassene Patient) bringt Chronist Watson eine Wirkung des zentralen Dogmas der Weltsicht des Sherlock Holmes trefflich auf den Punkt. Die bloße Beobachtung unserer Umwelt reicht nicht aus um diese auch zu begreifen. Sehen ist nicht gleich Beobachten, Beobachten schon gar kein Schlussfolgern. Mit offenen Augen durch die Welt zu schlendern befähigt noch niemanden sie auch fundiert zu begreifen. Des großen Weltreisenden von Humboldts Meinung sei hier nur der Anfang aller Weisheit, nicht deren letzter Schluss.

Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist diejenige der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“

(Alexander von Humboldt)


Überall begegnen wir wundersamen kleinen Details und Rätseln. Sie umgeben uns und regen unseren Geist an, mehr zu erkennen als wir rein optisch wahrnehmen können. Der vollendete Denker sieht beim Blick aus seinem großen Fenster eines ebenso imposanten Gebäudes nicht nur einen Mann im schwarzen Anzug, der auf dem Markt Einkäufe erledigt. Er achtet im besonderen Maße auf die Details, beispielsweise auf seine durchweg dunkle Kleidung, sowie auf seinen melancholischen Blick, was beides auf einen Verlust hindeuten mag. Das er ein Bilderbuch und eine Klapper kauft, sagt ihm, dass er mit wenigstens zwei Kindern gesegnet ist, von dem eines noch in der Wiege liegt. Zudem zeigen eben diese Käufe auf, dass es wohl seine Frau ist, die er verloren hat. Die perfekte Haltung, das asymmetrisch gebräunte Gesicht, verbunden mit den Kommissstiefeln die er trägt, weisen zudem ganz deutlich auf einen erst kürzlich entlassenen Unteroffizier der Artillerie hin. So schnell wird aus einem stocksteifen Herrn im dunklen Anzug ein trauernder Witwer und Vater von zwei Kindern.

Mögen wir uns einmal vorstellen, wir selbst schlendern im Frühherbst des Jahres 1888 über den Markt von Whitehall in London. Die Eile treibt uns, noch schnell einige Erledigungen zu machen, bevor es uns zum nächsten Termin zieht. Ein dunkel gekleideter Mann von ungewöhnlich steifer Haltung, mit schweren Stiefeln, bepackt mit allerlei Einkäufen tritt uns auf den Fuß und nimmt weder Kenntnis davon oder erübrigt auch nur einen Moment um sich zu entschuldigen. Wie reagieren wir darauf, wenn wir den Herrn nur „sehen“, ihn aber, getrieben von der eigenen Emotion und Eile, nicht „beobachten“? Falls wir unseren offenen Augen ebenso einen offenen Geist folgen lassen, könnten wir jedoch zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangen, wie es einige Momente eher Mycroft und Sherlock Holmes gelungen ist, als sie vom großen Panoramafenster des Diogenes Clubs eben jenen schroff wirkenden Mann zum Gegenstand ihrer scharfen Beobachtungsgabe gemacht haben. Dem Kontext seines traurigen Schicksals Beachtung schenkend, wünschen wir ihm einen gesegneten Tag und alles Gute, anstatt ihm noch die letzte brennende Kerze im dunklen und leiderfüllten Zimmer seiner Lebensumstände auszublasen.

Holmes – wenngleich selbst eine literarische Figur – folgte einem Zentralen Dogma, welches aussagte, dass nichts Fiktives derart komplex und phantastisch anmuten kann, wie es die Realität für uns bereitzuhalten vermag. Deswegen war sein Forschungsgegenstand auch der Mensch und die ihn umgebende Realität, mit all ihren Verästelungen und Relationen. Die Literatur kann, seiner Meinung nach, nur einzelne Elemente der Komplexität der Schöpfung einfangen. Niemals jedoch kann „Erdachtes“ das „Erschaffene“ in seiner Größe und Vielschichtigkeit übertreffen.

In Holmes Weltsicht kann die von ihm gepflegte Deduktion vom kleinsten Detail auf dessen Kontext im größten System verweisen. Freilich ist dieser Geisteskraft eine Begrenzung gesetzt. Sie reicht, dem „Laplace'schen Dämon“ folgend, immer nur so weit wie unser Wissen und unsere Intelligenz sie zu tragen vermag. Dem Dämon des Stochastikers fügte sich Holmes, weswegen er wohl auch nur geringes Interesse an Astronomie, Kosmologie und den Fragen nach den Ursprüngen des Seins aufbrachte. Im alltäglichen Chaos des Lebens folgte er jedoch, gemäß seiner profunden Kenntnisse, der Analogie eines "Gottesauges", welches alles relevante überblickt und sinnbildlich über die Dächer Londons streift, in die Wohnungen der Menschen schaut, sowie das Zusammenspiel der einzelnen Akteure überblickt. Wenn er auch nicht – und ihm alle Geschöpfe gleich – über die nötigen Daten verfügen konnte, alle Teile des Kosmos zu übersehen, konnte er jedoch beinahe immer alle relevanten Teile der Gleichungen des alltäglichen Lebens erkennen, welches es ihm möglich machte seine kleinen, sowie die etwas größeren Fälle zu lösen.

»Mein lieber Freund«, sagte Sherlock Holmes, als wir beiderseits des Feuers in seiner Wohnung in der Baker Street saßen, »das Leben ist viel seltsamer als alles, was der Geist des Menschen erfinden könnte. Wir würden es nie wagen, uns manche Dinge auszudenken, die tatsächlich doch nur simple Gemeinplätze des Lebens darstellen.«
Wenn wir Hand in Hand aus diesem Fenster fliegen könnten, um über dieser großen Stadt zu schweben, sachte die Dächer zu entfernen und all die merkwürdigen Dinge auszuspähen, die sich ereignen, die seltsamen Zufälligkeiten, das Pläneschmieden, die einander entgegengesetzten Absichten, die wunderbare Kette der Ereignisse, die über Generationen hinweg wirksam wird und zu den ausgefallensten Ergebnissen führt, dann würde das alle Dichtung mit ihren Konventionen und voraussehbaren Schlüssen überaus schal und unersprießlich machen.«

(„Eine Frage der Identität“)


Literatur

Conan Doyle, Sir Arthur: Die Erzählungen I – Sämtliche Werke. Neu und originalgetreu übersetzt von Leslie Giger, Adolf Gleiner, Margarete Jacobi, Louis Ottmann und Rudolf Lautenbach. Anaconda Verlag, Köln, 2014

Suttles, Traian: Drogenrausch und Deduktion. Zur Innenwelt des Sherlock Holmes. Mainbook Verlag, Frankfurt a.M., 2017

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