Von der modernen Denkabstinenz – Eine Ausstiegsstrategie



Meinung und Faktum Faktum zu unterscheiden – heutzutage wird dies dem Normalbürger (warum auch immer irgendjemand stolz darauf sein sollte, völlig „normal“, also mittelmäßig zu sein) wahrlich nicht ganz leicht gemacht. Hinter so vielen Meldungen – ob im TV, Internet oder in den Printmedien – verstecken sich Intensionen, die von Marketingstreben und politischer Orientierung gefärbt sind. Dazu kommt ein schieres Überangebot derselben, was es vielen – auch ob ihrer eigenen prall gefüllten Zeitpläne – unmöglich macht, diesen angemessen nachzugehen.

Von einem Herren, den ich sehr schätze und der mir zum Geistesvater geworden ist – zudem wohl der gelehrteste Mann, den ich kennen darf – höre ich öfters: Dies und das sei nicht sein Gebiet und er könne sich darüber keine fundierte Meinung bilden. Wenn ich vor einer aktuellen Frage stehe, wie sie vielleicht gerade medial kursiert, welche weder seinen noch meinen Neigungen entspricht, kann er im Zweifelsfall allerdings besser des Pudels Kern offenlegen (meist nicht der faustische Mephistopheles), als manch einer, der schon längst seine Meinung kundgetan hätte.

Erkenntnisgewinn wird in der Breite der Gesellschaft offenbar sehr unterschiedlich gehandhabt. Weshalb ist das so? Könnte es nicht ein paar Faustregeln geben (immer wieder dieser Faust!), die es mir erleichtern, sowohl Einsichten objektiv zu bewerten als auch deren Gehalt sinnvoll einzuordnen? Unsere Erfahrungen helfen uns, Einsichten ins rechte Licht zu rücken und damit vielleicht einer fundierten Erkenntnis näher zu kommen. Die Eruierung der zugrundeliegenden Einsichten sollte aber immer den ersten Schritt zum Erkenntnisgewinn darstellen. Erst dies macht eine Meinungsbildung überhaupt möglich.

Versuch einer kleinen Anleitung:

  1. Auf die Quelle und deren Intension kommt es an
    Woher stammt der Sachverhalt meines Interesses? Was hat es mit der Quelle auf sich? Hier ist es angeraten, einmal zu eruieren, woher eine Meldung eigentlich stammt. Ist es eine Internetquelle, lohnt es sich, nach deren Ursprung zu fanden. Studie? Unbestätigte Meldung einer Zeitung oder gar der „BILD(enden) Presse“? Ist die Quelle stark parteiisch, verfolgt sie bestimmte Ziele? Auch Nachrichtenmeldungen oder solche aus den Printmedien gilt es auf ihre Ursprünge hin zu prüfen. „Die Politik will eine Ehe auf Zeit“, ist beispielsweise eine klassische Fehlmeldung, wenn man bedenkt, dass lediglich eine Landtagsabgeordnete laut über ein solches Modell nachgedacht hat und sie damit nie und nimmer eine Mehrheit hätte finden können. Noch zudem entscheidet freilich nicht der bayerische Landtag über Gesetze, welche im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt sind. Und vielleicht hat die gute Dame damit etwas ganz anderes verdeutlichen wollen? Viele erinnern sich an diese Debatte, kaum einer an deren Hintergründe.
  1. Meinung oder Faktum und dessen Kontext?
    Schon jetzt kann ich ganz gut einschätzen, ob es sich um eine Meinung, Interpretation oder ein Faktum handelt. Zum Exempel: eine Meldung so ähnlich wie diese schlug vor so einiger Zeit bekanntlich wie eine Bombe ein: „Die Erde dreht sich um die Sonne. Sonne unbeweglich.“ Im Prinzip richtig. Aber, ist die Sonne tatsächlich unbeweglich? Dreht sie sich in Wirklichkeit nicht mit einer Geschwindigkeit von beinahe 2 km/s um die eigene Achse? Und eine Dimension höher gedacht – hier ist keine physikalische Dimension gemeint – , dreht sich unser gesamtes Sonnensystem nicht auch um ein massereiches Schwarzes Loch im Zentrum unserer Galaxie? Die Milchstraße wiederum bewegt sich im Verbund mit anderen Galaxien, angezogen und abgestoßen durch enorme Gravitationskräfte in ihrem Galaxienhaufen, welcher ebenso mit anderen interagiert. Auf den Kontext kommt es an! In jedem Inertialsystem herrschen andere Relationen, neue Erkenntnisse drängen ständig hervor; ob dieses Bezugssystemen nun ein Astronomisches oder ein Gesellschaftliches ist, sei dabei obsolet.
  1. Erkenne dich selbst und folge deinem Interesse
    Welches Wissen bringe ich mit, um mich besagten Themas anzunehmen? Bin ich mit Artverwandten vertraut oder beschäftige ich mich erstmals mit derartigen? Kann ich mir hier noch Rahmenwissen aneignen? Hier ist auch die eigene Reaktion auf ein entstandenes Interesse maßgeblich. Schon sinnvolle pädagogische Konzepte legen nahe, einem aktuellen Interesse im besten Falle augenblicklich zu folgen. Wenn ich also auf eine Meldung stoße, die mich interessiert, sollte ich ihr so unverzüglich wie möglich nachgehen und mich damit und mit dem nötigen Rahmen vertraut machen. Ansonsten ist die Versuchung groß, eine voreilige Meinung zu bilden, welche nicht mit den nötigen Erkenntnissen unterfüttert ist.
  1. Wo sind die Experten?
    Vielleicht kenne ich jemanden, der sich in besagtem Gebiet gut auskennt, mit dem ich alles diskutieren kann? Selbst wenn ich eine gewisse Expertise mitbringe, kann es nicht schaden, sich von Angesicht zu Angesicht eine Zweitmeinung einzuholen. Zweitmeinungen kann man sich heuer freilich auch im Internet besorgen. Nur  gilt es hier dann im besonderen Maße, die Spreu vom Weizen zu trennen. Da die meisten Sachseiten keinem fachlichen Lektorat unterliegen, vermehrt sich eine Desinformation schneller als jemals zuvor. An diesen Punkt greift dann wieder Punkt 1 dieser kleinen Anleitung: Auf die Quelle kommt es an!
  1. Muss ich mir überhaupt eine Meinung bilden?
    Zum Ersten entspricht es dem Wesen eines gebildeten Menschen, nicht in Allem eine Meinung zu haben. Warum auch? Das wirkliche Leben ist viel zu komplex, um es in allen Einzelheiten und noch weniger bezüglich aller großen Zusammenhänge bewerten zu können. Hier ist Mut zur Vorläufigkeit gefragt! Eine fundierte Ansicht, möge sie auch nur eine Etappe im Prozess der Meinungsbildung sein, ist um so vieles gewichtiger als ein voreiliges, möglicherweise von rein emotionalen Beweggründen genährtes voreiliges Urteil (Vorurteil). Zum Zweiten kann ein Mensch von beweglichem Geist seine Meinung von Zeit zu Zeit auch schon mal ändern. Diese Eigenschaft, welche heute gern als Schwäche interpretiert wird, erlaubt es dem Denkenden auch verständliche Fehleinschätzungen zu korrigieren und somit weiter intellektuelle Fortschritte zu machen. Derjenige, der aus Trägheit oder Stolz heraus den gleichen Fehleinschätzungen immer wieder unterliegt, ist ein Narr!

Was den Erkenntnisgewinn angeht, stellt es sich als schwierig heraus, eine vereinheitlichte Theorie zu formulieren. Als begründet kann man es jedoch ansehen, dass einer jeden Meinung eine Bildung derselben mittels einer klar verifizierbaren Erkenntnis vorausgeht. Diese Erkenntnis wächst gemäß der eigenen Vernunft, wenn sie sich alle verfügbaren Einsichten (a posteriori) und Erfahrungen (a priori) nutzbar macht. Ich kann der Meinung sein, der kürzlich erfolgte Angriff der Israelischen Luftwaffe auf iranische Ziele in Syrien sei gut begründet. Diese Meinung ist aber erst dann von einem gewissen diskursiven Wert, wenn ich die näheren Umstände und die spezielle politische Situation im Nahen Osten zumindest in Ansätzen begreife.

Freilich, wahre Universalgelehrte kann es im gegenwärtigen (Des-)Informationszeitalter nicht mehr geben. Niemand ist auch nur ansatzweise imstande, sein eigenes Fachgebiet gänzlich zu überblicken. Zu gewaltig ist die Fülle an Erkenntnis, zu groß die Menge der Falschmeldungen in allen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen geworden. So kann man auch von niemanden all die Muße und Zeit einfordern, die nötig wären, sich immerzu in allen Einzelheiten über die aktuellen Entwicklungen um uns herum zu informieren. Weswegen diese Schrift auch vielmehr als Aufforderung zur „Demut in der Meinungsbildung“ zu begreifen ist denn als Anleitung, sich rund um die Uhr mit den Hintergründen aller gegenständlichen und metaphysischen Dinge zu befassen. Nur wenn man aus Erkenntnissen Meinungen bilden möchte, sollte man sich sicher sein, dass es sich auch um eine wahre Erkenntnis – im Sinne des von der Vernunft diktierten Ermessbaren – handelt. Überschriften und Bildunterschriften zu lesen reicht da einfach nicht aus!

Sapere aude! Habe Mut, Muße und Zeit, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

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