Sherlock Holmes' Deduktion - Eine Philosophie für heute

In der 21. Ausgabe des 'Ewald & Ewald' (Niederrheinische Blätter für Weisheit und Kunst) erschien  folgender Artikel aus meiner Feder, welcher einerseits einen konkreten Fall des berühmten fiktiven Detektivs Sherlock Holmes beschreibt, diesen andererseits jedoch  auch einmal aus philosophischer Sicht unter die Lupe nimmt. Was hat die Methodik von Holmes mit der Philosophie der Aufklärung und deren Apologeten gemein? Und inwiefern ist die Holmes'sche Deduktion in ihren Grundzügen mit der "Mutter der abendländischen Philosophie", der Scholastik, vergleichbar? 

Wie weit ist doch dieses über hundert Jahre alte Beispiel des folgerichtigen Denkens von der Realität unseres sogenannten Informationszeitalters entfernt! Hat die gegenwärtige Gesellschaft in der Breite etwas eingebüßt? Etwa die Fähigkeit aus Vergangenen auf Gegenwärtiges zu schließen, um nur ein Exempel zu nennen? "Es gibt nichts neues unter der Sonne"... sagt schon der Bibelschreiber. Alles ist schon einmal auf die eine oder andere Art geschehen.Wir müssen nur wieder lernen uns mit jenem auseinanderzusetzen das WAR, um mit dem was IST besser fertig zu werden. 


Bei allem was heuer geschieht braucht es eigentlich nur eins: Mut! Den Mut den eigenen Verstand zu benutzen um unfundierte Meinung vom Faktum zu unterscheiden. Erkenntnistheorie trifft Sherlock Holmes.


Sherlock Holmes’ deduktive Methode

im Vergleich zur scholastischen Philosophie

Von den "Fünf Apfelsinenkernen"

Die Darlegung des Falls

Inhaltswiedergabe und sämtliche Zitate aus: Conan Doyle, Sir Arthur: Die Erzählungen I. Sämtliche Werke. Die fünf Apfelsinenkerne. Anaconda Verlag, Köln 2014, S. 103-121

Anno 1887 betrat ein vornehmer Herr die berühmte Bühne in 221b Baker Street. Es war September, die Herbststürme tobten hinweg über das Vereinigte Königreich und die damals größte Stadt der Welt stand eine Zeitlang still. London und seine vier Millionen Bewohner mußten sich der rohen Naturgewalt beugen. Besagter Herr – John Openshaw mit Namen – hatte es allerdings dringend nötig, auszugehen; die pure Verzweiflung trieb ihn, dem heulenden Wind und seinen himmlischen Sturzbächen zu trotzen.

„Es ist nichts Alltägliches, was mich herführt“, begann Mr. Openshaw. „In gewöhnlichen Fällen wendet man sich auch nicht an mich. Ich bin die letzte Instanz“, erwiderte Sherlock Holmes darauf. „Und dennoch zweifle ich, ob Sie bei all Ihrer Berufserfahrung je einer dunkleren und unerklärlicheren Verkettung von Umständen begegneten als die sind, welche ich aus meiner Familie zu berichten habe“, entgegnete des Detektivs Klient darauf.

Der Bericht, welcher nun auf diese Vorstellung hin Sherlock Holmes sowie seinem Freund und Kollegen Dr. John H. Watson zu Ohren kam, setzte noch vor Zeiten des amerikanischen Bürgerkriegs ein. Openshaws Oheim wanderte in jungen Jahren gen Amerika aus, um in Florida als Pflanzer seinen Broterwerb zu sichern. Während des Bürgerkrieges kämpfte Elias Openshaw in General Thomas Jacksons Armee für die Südstaaten, und ihm wurde eine Abneigung gegen Schwarze attestiert. Nachdem die Konföderierten die Waffen hatten strecken müssen, kehrte er zum Pflanzer-Beruf zurück und gründete seine eigene Plantage. Etwa um 1870, fünf Jahre nach Ende des Sezessionskrieges, brach er wieder nach England auf und kaufte mittels seines inzwischen beachtlichen Vermögens ein Anwesen in der Grafschaft Sussex nahe Horsham. Dort führte er das Leben eines Sonderlings. Er mied Gesellschaft, so gut es ging, verließ oftmals wochenlang nicht sein Zimmer, trank, rauchte beachtliche Mengen an Tabak, galt aber im übrigen weitgehend als nichthedonistisch. Sein Bruder, der England nie verließ, zeigte nach dem Tode seiner Frau nur wenig Interesse, seinen Sohn allein zu erziehen. So zog dieser schließlich im zehnten Lebensjahr zu seinem Oheim nach Sussex. Ganz im Gegensatz zu seinen sonst so eigenbrötlerischen Lebensgewohnheiten hatte Elias für seinen Neffen viel übrig. Ein Vertrauensverhältnis entwickelte sich, vor allem weil der junge John ein Gespür dafür gewann, wann der eigenwillige Oheim lieber seine Ruhe hatte. Schnell war der Jugendliche der Herr im Hause, besaß Schlüsselgewalt, kümmerte sich um den raren Besuch und die Post. Nur gab es ganz im dramaturgisch klassischen Stil der viktorianischen Kriminalliteratur einen Ort, einen geheimnisvollen Bereich im Hause, welchen er niemals und unter keinen Umständen betreten durfte. Auf dem Dachboden befand sich eine verschlossene Rumpelkammer, zu der weder John noch sonst jemandem Zutritt gewährt wurde.

Die Jahre verstrichen, und so kam es, daß im März des Jahres 1883 ein Brief aus Indien eintraf mit Poststempel von Pondicherry, der damaligen Hauptstadt des gleichnamigen britischen Unionsterritoriums auf dem indischen Subkontinent. Er sollte zum Nukleus des Leides werden, das über die Familie hereinbrach. Der junge John saß mit seinem Onkel Elias am Eßtisch, als dieser den Brief aus Übersee mit einem heftigen Ruck aufriß. Darauf fielen fünf kleine, trockene Apfelsinenkerne auf seinen Teller herab. Was dem Neffen lediglich ein Lächeln entlockte, gereichte dem Oheim zu einem großen Schock. Mit verzerrtem Mund, aschfahl und hervortretenden Augen starrte Elias Openshaw auf den Umschlag in seinen zittrigen Händen. „K.K.K.!“, spie er förmlich aus, „Mein Gott, meine Sünden kommen herab auf mein Haupt!“

Noch am selben Tage wies er John an, nach dem Advokaten aus Horsham zu schicken. Dabei hielt er eine Metallkiste in Händen, die er offenbar aus der verbotenen Rumpelkammer geholt hatte. Als der Advokat eintraf, diktierte Elias unter Bezeugung seines Neffen sein Testament. Es besagte im Wesentlichen, daß all sein Besitz im Falle seines Ablebens an den Bruder ginge. Irgendwann fiele es dann John zu. Nur falls es Probleme gäbe, solle er das Anwesen und alles andere seinem größten Feind schenken. In den Wochen nach den geschilderten Ereignissen geschah zunächst nichts Bemerkenswertes. Nur machte Oheim Elias eine Verwandlung durch. Er trank noch exzessiver als zuvor, wurde jeder Art von Geselligkeit noch abholder, und von Zeit zu Zeit ereilte ihn ein trunkener Wahn. Während eines dieser Wahnanfälle schrie er im Garten mit einem Revolver in der Hand etwas wie: „Kein Mensch, auch nicht der Teufel, werden mich wie ein Schaf in die Hürde sperren!“ Sieben Wochen vergingen so – bis er eines Nachts nach einem erneuten derartigen Zustand im Garten verschwand. John und die Dienerschaft begaben sich auf Suche und fanden ihn endlich am anderen Ende des Gartens in einem kleinen schmutzigen Teich, mit dem Kopf nach unten. Er war noch nicht lange tot. Das Wasser war nicht mehr als zwei Fuß tief. Aufgrund seiner bekannten Exzentrizität schlossen die Geschworenen in ihrem Wahlspruch schließlich auf Suizid.

So erbte John Openshaws Vater die Besitzung nebst 14.000 £ an Bankguthaben. Als der Vater Anfang 1884 zu seinem Sohn auf das Anwesen bei Horsham zog, durchsuchten beide auf Johns Wusch hin die Rumpelkammer auf dem Dachboden. Sie fanden die Metallkiste – leer. Jedoch klebte ein Zettel im Deckelinneren. Dort stand mit roter Tinte: „K.K.K. – Quittungen, Mitteilungen, Briefe und Register.“ Diverse Spuren wiesen darauf hin, daß verschiedene Zettel und Tagebücher mit auffälligen farbigen Rändern vor kurzem ins Feuer geworfen worden waren. Im übrigen fanden sich in der kleinen Dachkammer Dokumente über Elias Openshaws Zeit in Amerika. Einige befaßten sich mit seiner Zeit in der Konföderiertenarmee. Sie bescheinigten ihn einen treulichen Dienst und eine ehrenhafte Entlassung. Notizbücher mit Anmerkungen über Politik wurden aufgefunden, so zum Beispiel über das Wiederaufleben der Südstaaten und die Opposition des Onkels gegen die sogenannten „Wanderagitatoren“ der Nordstaaten.

Ein knappes Jahr zog ins Land, als am 4. Januar 1885 der Vater am Frühstückstisch erstaunt auffuhr. Ein Umschlag mit Poststempel aus Dundee; darin fünf kleine, trockene Apfelsinenkerne. Auf der Karte darin war dasselbe „K.K.K.“ in roten Lettern zu sehen, das schon Oheim Elias in den Wahnsinn getrieben hatte. Darüber fand sich eine kurze Nachricht: „Legt die Papiere auf die Sonnenuhr!“ Der Vater war erstaunt darüber, aber nicht sonderlich beunruhigt. Von einer Anzeige bei der Polizei sah er ab. Die tragischen Geschehnisse um seinen Bruder tat er stets ab mit den Worten: „Das Märchen vom Colonel.“ Drei Tage später besuchte Vater Openshaw einen alten Freund in Portsdown Hill, Major Freebody. Nur zwei Tage später erhielt John Openshaw ein Telegramm von Major Freebody, er solle sofort nach Fort Portsdown Hill kommen. Es fanden sich weder Fußspuren, noch lag ein Raub vor, niemand hatte einen Fremden gesehen, auch kein Zeichen von irgendeiner Fremdeinwirkung, aber der Vater war tot. Beim Wandern war er offenbar in eine der zahlreichen Kalkgruben der Region gefallen. Mit zerschmettertem Schädel lag er da. Die Geschworenen, welche im alten England bei sämtlichen unnatürlichen Todesfällen tagten, befanden auf einen Unglücksfall.

So kam es dann, daß der vornehme Herr, welcher an diesem Tage Sturm und Regen getrotzt und die Baker Street aufgesucht hatte, um sich den Rat des großen Detektivs zu sichern, früher als erwartet das ganze Anwesen nahe Horsham erbte. Was ihn heute nun veranlaßte, etwa zweieinhalb Jahre nach dem Tode seines Vaters den Weg nach London anzutreten, scheint offenbar. Er selbst erhielt gestern morgen einen Brief mit den fünf Apfelsinenkernen, mit dem dreifachen roten K und der Anweisung, die Papiere auf der Sonnenuhr zu deponieren. Der Poststempel zeigte, daß der Brief, den der Klient natürlich bei sich trug, am Ost-Londoner Postamt aufgegeben wurde. Noch am gleichen Tage, so hatte John Openshaw zu berichten, zeigte er den Sachverhalt bei der Polizei an. Diese jedoch verwies auf die tragischen Unglücksfälle seiner beiden Verwandten, ging bezüglich der Briefe von einem offenbar kindlichen Streich aus. Da Openshaw sich damit nicht begnügen wollte und konnte, suchte er nach anderen Wegen, des Rätsels und der damit empfundenen latenten Bedrohung Herr zu werden. So erfuhr er von der Existenz des Londoner Detektivs.

Sherlock Holmes zeigte sich schockiert über die Borniertheit der Polizei und die Leichtfertigkeit seines Klienten. Auf die Frage, ob es noch mehr Hinweis gebe, reichte ihm Mr. Openshaw einen Zettel, der augenscheinlich aus einem kleinen Tagebuch herausgerissen worden war. Er habe die Vernichtung der übrigen Dokumente offensichtlich zufällig überstanden. Die Eigenart der vom Feuer verschonten unverkohlten Ränder der sonst unkenntlich gemachten Dokumente, vor allem ihre spezielle Farbe, half bei der Zuordnung dieses Blattes. Das Blatt war datiert auf März 1869 und enthielt folgende Daten:

4. Hudson gekommen. Dieselbe alte Plattform.
7. Die Kerne an McKauley, Paramore und John Swain von St. Augustine aufgegeben.
9. McKauley erledigt.
10. John Swain erledigt.
12. Paramore besucht. Alles gut.

Sherlock Holmes verschwendete daraufhin keine Zeit, vor allem nicht auf Erklärungen. Eile und jede Menge Tatkraft seien nun geboten, um das Leben des Klienten zu retten. Er ermahnte den abendlichen Besucher, seinen Anweisungen bis ins kleinste Detail Folge zu leisten. Zuerst solle er sich sofort mit dem nächsten Abendzug nach Hause begeben. Dort soll er das Blatt in die Metallkiste legen, dazu die schriftliche Bestätigung, daß alle anderen Dokumente von seinem Oheim vernichtet worden waren. Dann solle er dem Brief mit den Apfelsinenkernen gemäß die Kiste auf die Sonnenuhr stellen und sich bewaffnet in Sicherheit bringen. Holmes gefiel es nicht recht, seinen Klienten einer solchen Gefahr auszusetzen; jedoch hoffte er, daß die Straßen noch belebt genug waren, um die Bösewichte von übereilten Aktionen abzuhalten. So verabschiedet sich Mr. John Openshaw von Sherlock Holmes und Dr. Watson – für immer.


Die Deduktion

Oder: Wie löse ich einen Kriminalfall vom Sessel aus?

Nach diesem geistigen Ausflug ins viktorianische England und in die englische Kriminalliteratur des vorletzten Jahrhunderts scheint es angemessen, beim dargelegten Fall zu bleiben, jedoch die Perspektive zu erweitern. Sherlock Holmes’ deduktive Methodik ist am besten zu verstehen, indem man sich eines konkreten Beispieles bedient. Der vorliegende Fall gilt als exemplarisch, da seine Lösung beinahe vollständig auf Erkenntnissen a priori fußt. Mit anderen Worten; Wie löse ich ein intellektuelles Problem mittels einer reinen Verstandesleistung?

Zuerst benötigt der Denker, welcher seine Geisteskräfte in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt hat, seinen treuen Begleiter. Dieser reicht ihm auf Nachfrage den Buchstaben „K“ der amerikanischen Enzyklopädie. Bevor es allerdings notwendig scheint, das allgegenwärtige dreifache „K“ nachzuschlagen, liegen einige Schlußfolgerungen bereits a priori auf der Hand.

Erkenntnisse a priori

Klar scheint, daß Colonel Openshaw einen triftigen Grund hatte, die Vereinigten Staaten wieder zu verlassen. Der Oheim des Klienten wurde als Sonderling mit starren Gewohnheiten beschrieben. Ein Mann seines Alters, der sich im behaglichen Klima Floridas eine Plantage und damit eine eigene gesicherte Existenz aufgebaut hatte, zudem für seine Überzeugungen im Bürgerkrieg kämpfte, scheint nicht ohne gewichtigen Grund all dies aufzugeben, um es gegen das kalte Klima von Sussex zu tauschen. Die These eines Aufbruchs aus Angst vor Jemanden oder Etwas scheint a priori gegeben, da hier der Antithese, Oheim Elias wäre vielleicht aus Enttäuschung über den für ihm ernüchternden Ausgang des Bürgerkrieges, der mit dem Verbot der Sklaverei einherging ausgewandert, weniger Hinweise zugrunde liegen.

Wenn der Colonel das schöne Florida also aus Angst verlassen hat, liegt nun die Frage nahe, was diese Angst begründete. Nach der Ausgangsthese, die einen Aufbruch aus Angst a priori nahelegt, kann man sich nun gut und gerne der amerikanischen Enzyklopädie widmen. Unter „K.K.K.“ handele es sich um eine Geheimorganisation in den amerikanischen Südstaaten. Die drei Buchstaben stünden für „Ku-Klux-Klan“: Ein rassistischer und national-patriotischer Bund, 1865 gegründet von sechs ehemaligen Konföderierten-Soldaten aus Enttäuschung über den Ausgang des Sezessionskrieges. Das Kunstwort „Ku-Klux-Klan“ leitet sich vom Geräusch ab, das eine Feuerwaffe abgibt, wenn sie gespannt wird. Der Bund breitete sich von Tennessee über Louisiana, Carolina und Georgia bis nach Florida aus. Um Verräter oder politische Bedrohungen zu bekämpfen, griffen die Mitglieder zu Drohungen und Mord. Um ihrer Sache Nachdruck zu verleihen, verschickten sie Botschaften mit den Initialen des Klans und dazu je nach Region beispielsweise ein Büchel Eichenlaub, Melonen- oder Apfelsinenkerne. Dieser postalische Fehdehandschuh eröffnete dem Opfer die Option, sich dem Klan entweder zu fügen oder vor der letztlich unausweichlichen Ermordung zu fliehen. Mit dem Jahre 1869 verlor der Klan allmählich an Bedeutung. Vielerorts ging die Staatsgewalt gegen seine Mitglieder vor. Die Auflösung der Organisation war die Folge. Ihre Mitglieder verfolgten ihre grauenhaften Ideale teilweise aus dem Verborgenen weiter, der Bund als solches hörte aber für einige Jahrzehnte auf zu existieren.

Antithetisch zur Annahme, daß das frühere Mitglied Elias Openshaw vor seiner Vergangenheit beim „Klan“ floh, bleibt an sich nur die Anführung seiner unveränderten AnschauungenSeine Abneigung gegen das Verbot der Sklaverei und gegen Schwarze war hinlänglich bekannt; und trotz des verlorenen Sezessionskrieges schien es sich für ihn in den Südstaaten der VSA besser nach diesen Anschauungen zu leben als im viktorianischen England. Stark anzunehmen ist, daß er Mitglied des Klans war und vor dessen Mitgliedern oder auch vor der Staatsgewalt flüchtete, da seine Abreise kurz nach Abebben des Bundes zu terminieren ist. Die mehrfache Aufforderung, die „Papiere auf die Sonnenuhr zu legen“, macht eine Flucht Colonel Openshaws vor dem „Ku-Klux-Klan“ aus nicht näher bekannten Gründen sehr wahrscheinlich. Wohl hatte er dabei wichtige Dokumente mit sich genommen, welche die verbliebenen Bundesgenossen belasteten. Jener Schnipsel, welcher John Openshaw aus den vernichteten Dokumenten rettete, gibt uns – vorstehende Deduktionen berücksichtigt – die letzten konkreten Hinweise zur Untermauerung dieser These. Hier finden wir ganz eindeutig eine Schablone für die Todesfälle in der Familie Openshaw. Die drei namentlich erwähnten Herren sind offenbar Mitglieder des „K.K.K.“ gewesen. Die Art des Papiers und die rote Tinte nebst auffälligen Rändern markieren interne Klan-Dokumente. Alle drei Männer erhielten einen Brief mit Kernen, sicher Apfelsinen- oder Melonenkerne. Sie wurden von einem Ort namens St. Augustine aufgegeben und folgerichtig machten sich die Schreiber im Anschluß auf den Weg zu McKauley, John Swain und einen gewissen Paramore. Die ersten beiden konnten offenbar entkommen oder haben sich aus Sicht des Klans erfolgreich gerechtfertigt. Was Paramore angeht, kann man a priori davon ausgehen, daß es ihm nicht so gut ergangen ist. Er wurde besucht, danach schien aus Sicht der Bundesgenossen „alles“ gut. Jeder Besuch der Klansbrüder erwies sich im Falle der Openshaws als tödlich. So ist anzunehmen, daß auch Paramore ermordet wurde und es als Unglücksfall deklariert werden konnte. Die These, der Colonel sei aus Furcht vor dem Klan zusammen mit einigen kompromittierenden Unterlagen überhastet aus Florida geflüchtet, scheint a priori zwingend folgerichtig.

Zuletzt gilt es noch, den Zusammenhang der postalischen Drohungen an die Openshaws mit der unmittelbaren Gefahr für John Openshaws Leib und Leben zu klären. Der Brief mit den Apfelsinenkernen an Elias wurde sieben Wochen vor dessen Tod in Pondicherry, Indien, aufgegeben. Derjenige, welcher dem Verderben von John Openshaws Vater voranging, traf drei bis vier Tage im voraus aus Dundee, Schottland, ein. Aus dem Postamt in Ost-London kam der dritte Brief, adressiert an den Klienten von Sherlock Holmes. Die Postzeichen und Ursprungsorte dieser drei geben einen Hinweis auf die Methodik der Täter sowie deren Berufe. Alle drei Poststempel weisen auf Hafenstädte hin. Der tragische Tod Oheim Elias’ folgte etwa sieben Wochen nach dem Brief aus Indien. Das legt nahe, daß die Täter den Brief von ihrem Aufenthaltsort abgeschickt und sich dann selbst auf den Weg gemacht haben. Ihr Eintreffen erst sieben Wochen nach dem Eingang der Drohbotschaft legt a priori nahe, daß sie an Bord eines langsameren Seglers reisten, wohingegen der Brief natürlich mit einem schnellen Postdampfer verschickt wurde. Der Tod von Johns Vater in den Kalksteinbrüchen von Hampshire drei bis vier Tage nach Eintreffen des zweiten Briefes belegt diese These der verzögerten Abreise zusätzlich. Aufgegeben wurde er im schottischen Dundee – ebenso einer Hafenstadt. Wenn man davon ausgeht, die Täter seien nach dem Absenden der zweiten Drohbotschaft wieder direkt mittels Segelschiff nachgereist, ergibt die Differenz zwischen dem Absenden des Briefes und dem Eintreffen der Mörder kombiniert mit der zu veranschlagenden Reisezeit von Postdampfer und Segler absolut Sinn. Jetzt wird auch offenbar, weswegen Sherlock Holmes so dringend zum sofortigen Handeln drängte. Was sagt die Tatsache aus, daß jener an John Openshaw adressierte dritte Brief vom Postamt in Ost-London verschickt wurde und ihn die Botschaft schon am Morgen des vorigen Tages erreichte? Ein Segler benötigt für die Fahrt von Ost London bis in die City keinen Tag. Und bis nach Horsham ist es mit Kutsche oder Zug auch alles andere als weit. Die These, daß unmittelbare Gefahr droht, liegt unwiderlegbar auf der Hand. Es ergeben sich nun auch andere Deduktionen. Wie bereits angedeutet, legen die Umstände der Drohbotschaften den Beruf der Täter nahe. Ein oder zwei unterschiedliche Seehäfen könnten antithetisch auch für einige Urlaubsreisen der Schreiber sprechen. Drei verschiedene Seehäfen in völlig unterschiedlichen Gegenden des Empire – einer davon gar im fernen Indien –, noch dazu die offenbare Bevorzugung der Reise mit einem langsamen Segler, das gibt zusammen deutlich der These recht, daß die mutmaßlichen Täter zur Besatzung eines Seglers gehören und einer der Rotte der Kapitän des Schiffes ist. Kein privat Reisender würde im viktorianischen Zeitalter bei solch dringenden „Geschäften“ einen langsamen Segler dem Dampfschiffe vorziehen. Zudem muß einer der Amerikaner auch der Kapitän des Seglers sein, da es ansonsten kaum möglich schiene, regelmäßig solch außerplanmäßige Reisen zu unternehmen. Derlei Freizügigkeiten genießt nur der Kapitän, welcher zugleich der Besitzer des Schiffes sein muß. Daß die Übeltäter Amerikaner sind, scheint aufgrund der Vorgeschichte von Elias Openshaw klar gegeben.

Erkenntnisse a posteriori

Durch eine ausschließlich auf Verstandesleistung beruhende Deduktion konnte Sherlock Holmes somit klären, wie die näheren Umstände des Falls liegen. Um jedoch der Täter habhaft zu werden und – noch viel wichtiger – des Klienten Leben zu retten, bedarf es nun einer Recherche, welche Holmes im Idealfall zu den noch fehlenden Erkenntnissen a posteriori führen wird.

So machte sich Sherlock Holmes bereits am nächsten Morgen auf den Weg, die fehlenden Glieder der deduktiven Kette von Umständen zu finden. Im Register der Lloyd-Agentur fanden sich im Zeitraum Januar und Februar 1883 insgesamt 36 Schiffe mit Berührung von Pondicherry. Eines davon schiffte sich dabei in den letzten Jahren mehrmals im Hafen von London ein: Die „Lone Star“, ein Segler unter amerikanischer Flagge. Da Texas aufgrund des alleinstehenden Sterns in der Staatsflagge gemeinhin als „Lone Star State“ bezeichnet wird, liegt auch die Verbindung zu den Südstaaten, dem „Ku-Klux-Klan“ und der ganzen restlichen daran anschließenden Deduktionskette nahe. Auch in den Kopien der Verzeichnisse aus Dundee fand sich ein Hinweis darauf, daß die „Lone Star“ im Januar 1885 dort lag. So fände die Deduktion auch in Bezug auf den Mord an Openshaws Vater ihre Bestätigung. Auch entdeckte Holmes einen Eintrag, der bestätigte, daß der Segler vor drei Tagen im Albert Dock angelegt hatte. Als Holmes von Dockarbeitern vor Ort erfuhr, daß es sich bei besagtem Schiff um einen Segler handelt und neben einigen Finnen und Deutschen nur drei Amerikaner zur Besatzung gehörten, herrschte völlige Klarheit. Einer der Amerikaner sei der Kapitän gewesen, die beiden übrigen dienten als Matrosen auf der „Lone Star“, und diese sei mit dem Morgenwind gen Savannah aufgebrochen. Die drei amerikanischen Seemänner seien letzte Nacht allesamt auf Landgang gewesen.

Was geschehen war, liegt klar und deutlich vor Augen. Auch ein Artikel der Morgenzeitung ließ spüren, daß Sherlock Holmes seine Widersacher unterschätzt hatte. Zumindest aber deren kaltblütige Entschlossenheit. John Openshaws Leichnam wurde bei der Waterloo Bridge aus den Fluten der Themse gezogen. Die Polizei vermutete einen Unfall. So konnten all die dargelegten Deduktionen doch das Schicksal des Mr. John Openshaw nicht günstiger stimmen. Der Fall konnte zwar faktisch gelöst, metaphysisch aber keineswegs befriedigend abgeschlossen werden.

Einige Monate später erst erfuhren Holmes und Watson, daß irgendwo weit draußen im Atlantischen Ozean der zerbrochene Hintersteven eines Schiffes mit der Markierung „L.S.“ gefunden wurde. Eingedenk der starken Äquinoktialstürme lag die Vermutung nahe, die „Lone Star“ wäre den unheilvollen und heftigen Naturgewalten zum Opfer gefallen. So wurden die Täter von einer anderen, höheren Instanz schließlich zur Rechenschaft gezogen.


Die Philosophie des Sherlock Holmes

Die Wissenschaft der Deduktion und deren Provenienz aus der scholastischen und der aufklärerischen Philosophie

Im vorangegangenen Fallbericht wurde, abgesehen von einigen wenigen Beifügungen, auf die unter „Holmesianern“ verbreitete Methodik des „Sherlockian Reading / Writing“ zurückgegriffen. Literaturwissenschaftlich ganz ungewöhnlich wird im sogenannten „Sherlockian Game“ in einer quasi spielerischen Art darauf bestanden, Holmes und Watson seien reale historische Figuren. Daß Arthur Conan Doyle die Werke im erzählerischen Ich des Dr. Watson abgefaßt hat, kommt dieser Methode sehr zupaß. So nimmt Sir Arthur in dieser Lesart die Rolle des „Verlegers“ der Werke Watsons über Sherlock Holmes ein. Dieser Methode möchte sich der Autor nun noch eine Zeitlang bedienen, wenn er kurz aufzeigt, inwiefern die Dogmen dieser literarischen Figur mit den philosophischen Werken der Aufklärung von Kant und Hegel, der Scholastischen Philosophie und deren aristotelischen Wurzeln korrespondieren.

Die Wissenschaft der Deduktion oder „Kunst der Deduktion“, wie Holmes sie zuweilen nennt, kennt Verschränkungen mit verschiedenen philosophischen Disziplinen. Die Grundlage der Denkprozesse des Detektivs bildet die formale Logik, welche sich gerade hier deutlich von der gegenwärtig mit der meisten Aufmerksamkeit bedachten symbolischen Logik des andauernden Informations- und Naturwissenschaftszeitalters unterscheidet. Eine in sich kohärente Kette von Schlußfolgerungen bildet zusammen mit der Kausalität der Glieder untereinander die Basis einer jeden Holmes’schen Deduktion.

Der vollendete Denker müßte eigentlich imstande sein, anhand einer einzigen Tatsache, welche ihm in allen ihren Beziehungen klargeworden ist, sowohl die Begebenheiten, die daraus folgten, als auch diejenigen, welche vorausgingen, zu ermitteln. Genau so, wie Cuvier [frz. Biologe und Paläontologe, 1769-1832] den Bau eines ganzen Tieres bei der Betrachtung eines einzigen Knochens festzustellen vermochte. Wir sind uns noch viel zu wenig bewußt, was wir alles durch bloße Geistesarbeit erreichen können.“ (Conan Doyle, Sir Arthur: Die Erzählungen I. Sämtliche Werke. Die fünf Apfelsinenkerne. Anaconda Verlag, Köln 2014, S.114)

Der Möglichkeit, daß cum hoc ergo propter hoc diverse Koinzidenzen von Möglichkeiten sowie deren Korrelation voreilig als kausal begriffen werden, stehen die detailversessene Prüfung der einzelnen Glieder der kausalen Kette sowie umfangreiches Wissen über die Fakten und Zusammenhänge aller fachspezifisch relevanten Disziplinen gegenüber. So können fehlerhafte aristotelische Schlüsse durch umfangreiches Wissen über die einzelnen Glieder der Kette weitgehend vermieden werden. Am Anfang der Holmes’schen Deduktion steht demnach bezüglich seines Fachs das intensive Studium der Kriminologie, Chemie, Toxikologie, Kinesik, hier speziell Mimik und Gestik, sowie der Kriminalhistorie. So ist im Falle der „Verschwundenen Braut“ Dr. Watson der Ansicht, alle Darlegungen des Klienten genauso wie Holmes auch gehört zu haben; jedoch wäre er nicht imstande gewesen, aus den Fakten Entsprechendes zu deduzieren.

Allerdings, aber ohne die Kenntnis der früheren Fälle, die mir so sehr zustatten kommen.“ (Conan Doyle, Sir Arthur: Die Erzählungen I. Sämtliche Werke. Die verschwundene Braut. Anaconda Verlag, Köln 2014, S.238)

Wie auch der Scholastiker ist Sherlock Holmes der Überzeugung, theoretisches Wissen sei stets dem empirischen überlegen, also dem durch praktische Erfahrung erlangten Wissen a posteriori. Eine bloße Beobachtung kann für sich allein genommen fehlerhaft sein, weil kaum die Möglichkeit besteht, alle Bedingungen zu kennen und zu prüfen, die zur zweifellosen Erkenntnis a posteriori führen. Ebenso besteht die Möglichkeit, daß externe Kräfte, die auf ein beobachtetes Phänomen einwirken, entweder fehlerhaft gedeutet werden können oder gar nicht hinlänglich bekannt sind. So legt der Holmes’sche Denker die empirischen Erkenntnisse immerzu in eine bereits bestehende allgemeingültige theoretische Schablone. Dies bindet die Fakten in ein Theorie-Gerüst, welches auf vielfach bewährte Erkenntnisse a priori gebaut ist. So widersprechen sich die Folgerungen vom Detail aufs Ganze und umgekehrt keineswegs, denn ein jedes Detail kann erst dann für mehr stehen als für sich selbst, wenn größere Sachverhalte bereits theoretisch übergeordnet sind. Wenn wir von diesen größeren Sachverhalten sprechen, dann sind diese im Falle der detektivischen Deduktion mit Fällen der Kriminalgeschichte gleichzusetzen. Teleologisch ist hier die causa finalis gleichbedeutend mit dem Motiv einer Tat immerzu entscheidend, aber niemals völlig neu. Als Sherlock Holmes nach erfolgreichem Abschluß eines Falles nicht zum ersten Mal die Bibel zitiert, untermauert er dieses Axiom seiner Denkarbeit:
Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ (Buch Kohelet 1,9 EÜ)

Das Leben ist eine große gegliederte Kette von Ursachen und Wirkungen. An einem einzigen Glied läßt sich das Wesen des Ganzen erkennen. Wie jede andere Wissenschaft, so fordert auch das Studium der Deduktion und Analyse viel Ausdauer und Geduld; ein kurzes Menschendasein genügt nicht, um es darin zur höchsten Vollkommenheit zu bringen.“ (Conan Doyle, Sir Arthur: Die Romane. Sämtliche Werke. Eine Studie in Scharlachrot. Anaconda Verlag, Köln 2014, S.24)

Holmes’ spezielle Methode der Deduktion entspricht in großen Teilen sehr wohl denjenigen Auffassungen von deduktiver Logik und Dialektik der Philosophen Kant und Hegel. Im Rahmen der „Wissenschaft der Deduktion“ werden theoretische Erwägungen und Prozesse a priori angewendet, um praktische Probleme deduktiv und anschließend oftmals auch dialektisch zu erfassen und so einer Lösung zuzuführen. Die Dimension der Hegelschen Dialektik tritt deutlich zutage, wenn Holmes nach einem deduktiven Prozeß noch mehr als eine möglicherweise wahrheitsgemäße Lösung übrigbleibt. In diesen speziellen Fällen greift er alle übriggebliebenen Thesen auf, stellt ihnen entsprechende Antithesen gegenüber, synthetisiert diese mittels eines rein abstrakten und autarken – das heißt, unvoreingenommenen – Denkprozesses zu einer abschließenden Wahrheit. Hier legt Sherlock Holmes zwar ein größeres Augenmerk auf die Eliminierung der verschiedenen Thesen als auf deren Synthese, verknüpft allerdings ebenso gekonnt die Für und Wider einzelner Punkte der Beweiskette zu einem kohärenten Ganzen.

Es ist eine alte Maxime von mir: Was übrigbleibt, wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muß die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie sich auch ausnehmen mag.“ (Conan Doyle, Sir Arthur: Die Abenteuer von Sherlock Holmes. Die Beryll-Krone. Aufbau Verlag, Berlin 2006, S.335)

Wenn Aristoteles eine Deduktion als ein Argument bezeichnet, aus welchem sich bei bestimmten Voraussetzungen andere schließlich ableiten lassen, kommt schon bei dieser offenbar ersten historischen Definition der Deduktion zum Ausdruck, daß immerzu mindestens ein Axiom gegeben sein sollte, bevor eine Deduktion möglich scheint. In Holmes Augen verstand sich die Deduktion als Verfahren für jedes vorgelegte Problem, mittels anerkannter Meinungen (quasi durch Erkenntnisse a priori) zu einer Meinung zu gelangen. Wenn diese Erkenntnisse a priori nun mit einem breiten Fundus an Wissen a posteriori unterfüttert werden, kann man schon die Holmes’sche Deduktion in Schemen erkennen. In Verbindung mit einer angewandten Dialektik und der Fähigkeit der Extrapolation, welche Sherlock Holmes gern als Phantasie bezeichnet, scheint die Fähigkeit zur präzisen Beobachtung und Schlußfolgerung dann schon deutlich durch.

Sagen wir lieber, in den Bereich, wo wir Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abwägen und die glaubhafteste aussuchen. Das ist die wissenschaftliche Nutzung der Phantasie, aber wir haben immer eine wirkliche Basis, auf der wir unsere Vermutungen aufbauen können.“ (Conan Doyle, Sir Arthur: Der Hund der Baskervilles. Weltbild, Augsburg 2005, S.47)

Die Anmerkung scheint angemessen, daß die meisten von Holmes’ Deduktionen im Sinne Kants nicht als reine Erkenntnisse a priori zu verstehen sind. Denn eine jede Erkenntnis, welche teilweise auf bereits erfahrenen fußt, kann nicht auf eine reine Verstandesleistung zurückzuführen sein, denn der Verstand vergleicht die Fakten unausweichlich mit bereits erlangten Erkenntnissen a posteriori. Als paradox ist dieser Sachverhalt jedoch keineswegs zu verstehen. Im Inertialsystem einer zur praktischen Nutzanwendung gedachten Deduktion verschwimmen die Grenzen zwischen theoretischer Erwägung und empirischer Erkenntnis unter Berücksichtigung von Axiomen von selbst hin zu einer Quintessenz der quasi praxisorientierten Deduktion. So kann man die wesentlichen drei Säulen der Holmes’schen Deduktion (Denkarbeit, a-priori-Erkenntnisse – Axiome, im Sinne von eigenen oder fremden Fallstudien – praktische Detektivarbeit, a-posteriori-Erkenntnisse) als fluide Elemente begreifen, welche zusammen das Wesen der Arbeit des großen Detektivs ausmachen.

Im Prinzip stellt Sherlock Holmes die Analyse eines jeden Objektes oder einer jeden Sache immer unter die Maxime der causa finalis. Die Zweckmäßigkeit des abgenutzten, mit Talgflecken besudelten Hutes eines reichen Mannes oder die Gründe für das seltsame Verhalten einer ältlichen Witwe – die in der modernen Philosophie kaum mit Beachtung gewürdigte Zweckursache ist als Provenienz einer jeden Holmes’schen Kausalkette zu begreifen.

Aus einem Wassertropfen könnte ein Logiker auf die Möglichkeit eines Atlantik oder eines Niagara schließen, ohne von diesen gehört oder sie gesehen zu haben ... Es sollte aber Vorsicht gegeben sein, denn die Vollkommenheit in der Deduktion und Analyse kann im kurzen Menschendasein bekanntlich kaum erreicht werden ... So tut man gut daran, bevor man sich an hohe geistige oder sittliche Probleme wagt, welche die größten Schwierigkeiten bieten, sich zunächst auf einfachere Aufgaben beschränken.“ (Conan Doyle, Sir Arthur: Die Romane. Sämtliche Werke. Eine Studie in Scharlachrot. Anaconda Verlag, Köln 2014, S.23, 24)

Mittels dieser und einer Handvoll anderer Analogien scheint eine Einbettung der Wissenschaft der Deduktion, wie Sherlock Holmes sie verstand, in die Disziplin der Deduktion im Sinne der Scholastik sowie der Dialektik formal ganz hervorragend zu funktionieren. Zumindest aber widerspricht diese nicht grundsätzlich deren Apologeten. In Bezug auf eine Deduktion zur Existenz Gottes hält sich Holmes allerdings Zeit seines Lebens weitestgehend zurück. Der oftmals von Watson als kalte „Denkmaschine“ titulierte Sherlock Holmes konnte zwar über quasi-theologische Sachverhalte fabulieren, über dieses Stadium ging seine diesbezügliche Denkarbeit jedoch nicht hinaus. Demzufolge spielte Gott als Axiom in Holmes Gedankenwelt bestenfalls eine beiläufige Rolle. So stehen Holmes’ Auffassungen über die Wissenschaft der Deduktion um ihrer selbst willen im krassen Gegensatz zum Beispiel zur Meinung eines Bernhard von Clairvaux, welcher dies als „schändliche Neugier“ begriff. Eine atheistische Weltsicht leitet sich daraus freilich nicht ab, denn bei all seiner Brillanz zeigte Sherlock Holmes gegen Ende seines Wirkens dann doch so etwas wie Demut vor der, wie er es nannte, „letzten Lektion“.

Bildung ist etwas, das nie abgeschlossen ist, Watson. Sie besteht aus einer langen Reihe von Lektionen, und die größte kommt zum Schluß.“ (Conan Doyle, Sir Arthur: Die Erzählungen II. Sämtliche Werke. Der Rote Kreis. Anaconda Verlag, Köln 2014, S.417)


Sir Arthur Conan Doyle

Von der Erschaffung des berühmtesten Menschen, der nie lebte

Arthur Conan Doyle wird am 22.Mai 1859 als zweites Kind der Katholiken Charles Doyle und Mary Foley in Edinburgh geboren. Ab dem Alter von 11 Jahren besucht er die Internatsschule der Jesuiten in Stonyhurst in der Grafschaft Lancashire und zeigt neben einer Vorliebe fürs Kartenspiel bereits schriftstellerisches Talent. Nach seinem Abschluß folgt Doyle 1875 der Einladung des Jesuitengymnasiums Feldkirch in Österreich und lernt von da an ein recht passables Deutsch. Ein Jahr danach kehrt er nach Schottland zurück und nimmt das Medizinstudium in Edinburgh auf. In seiner Studienzeit befaßte sich Doyle mit einem breiten Fundus an vorrangig kriminalistischer Literatur. Dazu zählen vor allem die Novellen von Edgar Allan Poe, Wilkie Collins, Emile Gaboriau und Robert Louis Stevenson. Poes Schöpfung des genialen Analytikers Auguste Dupin wirkte als eine der Inspirationen für den späteren Sherlock Holmes. Holmes’ berühmte Neigung, sich zum Zweck eines entscheidenden Vorteils bei seinen Ermittlungen zu maskieren, leitete Doyle später lose vom Begründer der Sûreté ab, dem einstigen Kriminellen Eugène François Vidocq. Dieser gilt zudem als erster Detektiv weltweit und inspirierte auch Honoré de Balzac und Victor Hugo zu eigenen literarischen Schöpfungen.

Der wahren intellektuellen und charakterlichen Vorlage für Doyles späterer Schöpfung des Sherlock Holmes begegnete er allerdings erst im zweiten oder dritten Semester seines Medizinstudiums: Dr. Joseph Bell wurde Doyles Professor in Chirurgie und später auch sein Mentor. Bell war berühmt für seinen scharfen Verstand – mit seiner hervorragenden Beobachtungsgabe beeindruckte er jeden. Bell konnte anhand kleinster Details präzise darauf schließen, wo ein Mensch am Tage gewesen ist und welchen Gewohnheiten er frönte. Dieser brillante Wissenschaftler gilt gleichfalls als Begründer der forensischen Medizin und wurde bei einigen Kriminalfällen von öffentlichem Interesse zu Rate gezogen. So wollen viele Holmesianer gern Sherlock Holmes als Berater der Polizei während der „Jack the Ripper-Morde“ anno 1888 sehen. In Wahrheit beriet Dr. Joseph Bell damals die öffentlichen Ermittler in diesem Falle, freilich mit keinem durchschlagenden Erfolg. Immerhin: Wenn Königin Victoria in der Sommerfrische auf Schloß Balmoral residierte, fungierte Bell als Leibarzt.

Ab 1878 arbeitete Doyle schließlich als Assistent seines Professors Bell. Kurz darauf veröffentlicht er erste Kurzgeschichten, darunter die Novelle „The Mystery of Sasassa Valley“. 1880 heuert Doyle als Schiffsarzt auf einem Walfänger mit Kurs auf die Arktis an. Kurz nach seinem Medizinabschluß 1881 geht er erneut auf große Fahrt, diesmal gen Westafrika. Dort erliegt er beinahe der Malaria. Konsterniert von diesem Nahtoderlebnis wendet er sich schließlich Stück für Stück von der Kirche ab und befaßt sich zunehmend mit dem Okkultismus. Diese Neigung zum Magischen sollte sich als Antagonismus zu seiner pragmatischen und logischen Arbeitsauffassung durch sein ganzes weiteres Leben ziehen und in seinen letzten Jahren zu einem Wahn bis hin zur Realitätsflucht führen. Ein Jahr nach seiner Afrikareise gründet Doyle in Southsea nahe der Hafenstadt Portsmouth in Südengland seine eigene Praxis. Sie läuft nicht allzu gut an, so bleibt ihm viel Zeit zu schreiben. Die Arbeit an dem Roman „The Firm of Girdlestone“ nimmt den Großteil des Jahres 1884 ein. Im Jahr darauf heiratet Doyle die Schwester eines Patienten, Louise Hawkins, schließt er seine Dissertation ab.

1886 gilt als Geburtsjahr von Sherlock Holmes und Dr. John Hamish Watson. Im kurzen Zeitraum zwischen Anfang März und Ende April schreibt Conan Doyle den kleinen Roman „A Tangled Skein“. Auf Bitten des Verlages Ward, Lock and Company, der nach mehreren vormaligen Ablehnungen das Manuskript und alle Rechte daran für 25 £ ersteht, wird er später in „A Study in Scarlet (Eine Studie in Scharlachrot)“ abgeändert. Watsons Namen entleiht Doyle seinem Freund Dr. James Watson, die charakterliche Vorlage für Sherlock Holmes’ treuen Begleiter ist Conan Doyle allerdings in erster Linie selbst. Ein Jahr nach der Niederschrift erscheint der Roman im „Beeton’s Christmas Annual“. 1889 folgt Doyles historischer Roman „Micah Clarke“. Als Auftragsarbeit für das amerikanische „Lippincott’s Magazine“ entsteht „Das Zeichen der Vier“ als zweiter Sherlock-Holmes-Roman. In Philadelphia begegnet der schottische Romancier Oscar Wilde, der ebenso für dieses Magazin schreiben wird.

Nachdem er seine alte Praxis aufgegeben und zwischenzeitlich eine neue am Devonshire Place in London eröffnet hat, reist Doyle mit seiner Frau, besucht Berlin und Robert Koch, befaßt sich in Wien mit Augenchirurgie und schreibt an allerlei Projekten. Ab 1891 gibt er den Arztberuf jedoch gänzlich auf und schreibt fortan vor allem Kurzgeschichten der Abenteuer von Sherlock Holmes. Das neugegründete „Strand Magazine“ druckt von da an für 35 £ pro Geschichte Doyles Originale ab. In den nächsten Jahren werden die Geschichten rund um den genialen Logiker zu einem riesigen Erfolg. Schritt für Schritt entsteht ein Mythos, welcher zunehmend die Schranken zwischen Fiktion und Realität aufweicht. Immer mehr Briefe mit Hilfegesuchen aus aller Herren Länder erreichen die berühmte Adresse in 221b Baker Street. Doyle wird seiner berühmtesten Schöpfung langsam überdrüssig- Er lebt im Schatten von Sherlock Holmes, wird kaum noch selbst als Schriftsteller wahrgenommen, seine anderen Originale werden kaum beachtet. Bei einem Kururlaub mit seiner Frau in der Schweiz entschließt sich Doyle kurzerhand, Holmes den literarischen Tod erleiden zu lassen. Nach einem Besuch der Reichenbachfälle bei Meiringen vermerkt er gemütvoll in seinem Tagebuch: „Killed Holmes.“ (Weinstein, Zeus (Hrsg.): Sherlock Holmes Handbuch. Kein & Aber, Zürich 2008, S.47).

Doyle widmet sich in der nachfolgenden Zeit einem Füllhorn an diversen Projekten. Neben reger Reiseaktivität schreibt er eine Handvoll Theaterstücke und hält Lesungen seiner Werke. 1899 bricht der zweite Buren-Krieg aus, worauf er ein Jahr freiwillig als Militärarzt in einem Lazarett Dienst tut. Einige Jahre später erliegt seine Frau Louise einer chronischen Tuberkuloseerkrankung. Doyles Biografie ist ein gewaltiges Auf und Ab. Kurz nach dem Tode von Königin Victoria wird von deren Nachfolger König Edward VII. Arthur Conan Doyle in den Ritterstand erhoben. 1907 sollte Jean Leckie Doyles zweite Frau werden.

In Bezug auf den „Mord am Sohne“ zeigt sich die Öffentlichkeit in den folgenden Jahren erschüttert: In der City of London flattert schwarzer Trauerflor, und die Redaktion des „Strand Magazins“ wird jahrelang mit Leserbriefen regelrecht bombardiert. Sir Arthurs bisher so strikte Ablehnung, weitere Holmes- Geschichten zu verfassen, erweicht ein wenig. Schließlich bieten ihm das „Strand Magazine“ und die amerikanische Zeitschrift „Collier’s Weekly“ jeweils die exorbitanten Summen von etwa 25.000 $, was damals ein beachtliches Vermögen war. So war es dann der Reiz des schnöden Mammons, der einer dürstenden Leserschaft noch zahlreiche Erzählungen und zwei weitere Romane brachte. In der Erzählung „Das leere Haus“ erfährt der geneigte Leser, daß Holmes nie in die Tiefen des Wasserfalls von Reichenbach gestürzt war und er sich nach dem Tode seines ärgsten Widersachers Professor Moriaty für einige Jahre vor dem Rumpf seiner gewaltiger kriminellen Organisation verstecken mußte. Die Leserschaft nahm diese etwas stumpf daherkommende Wendung allerdings begeistert auf.

Im Laufe der Jahre wurden Sir Arthurs Kriminalgeschichten rund um den Londoner Meisterdetektiv in Buchform veröffentlicht und in hunderte Sprachen und Dialekte übersetzt. Doyle, das zerrissene literarische Genie, hinterließ nach seinem Tode im Jahre 1930 vier Kinder aus zwei Ehen. Sein Sohn Kingsley starb bereits 1918 an einer Krankheit, die er sich im Ersten Weltkrieg auf deutschem Boden zugezogen hatte.

Doyles Vermächtnis zeugt von einem polyhistorischen Geist und einer Vielzahl an schriftstellerischen Facetten: etwa die Reihe um den exzentrischen Biologie-Professor Challenger in „Die vergessene Welt“ oder die Detektivgeschichten „Der verlorene Zug“ und „Die Geschichte des Mannes mit den Uhren“ oder Historien wie „Die Flüchtlinge“, „Der große Schatten“ oder „Napoleon Bonaparte. Die Geschichte eines französischen Edelmannes“ und so fort. Leider wurde mit der enormen Popularität des Holmes-Kanons Sir Arthurs schlimmste Befürchtung Wahrheit: Der Schatten der Schöpfung verbirgt bis heute die Sicht auf den Schöpfer.

Mir scheint, die Deduktion ist nirgends so sehr am Platz als in der Religion. Diese läßt sich durch Vernunftschlüsse entwickeln, wie eine exakte Wissenschaft. Als unsere sicherste Bürgschaft für die Güte der Vorsehung gelten mir die Blumen. Alles andere – unsere Kräfte, unsere Triebe, unsere Nahrung – ist zum Leben absolut notwendig. Doch diese Rose ist etwas Apartes. Ihr Duft, ihre Farbe, dient nicht zur Erhaltung, sondern zum Schmuck des Daseins. Nun wissen wir aber, daß es nur die Güte ist, welche Extrafreuden gewährt, und deshalb sage ich, daß die Blumen ein verheißungsvolles Unterpfand für mich sind.“ (Conan Doyle, Sir Arthur: Die Erzählungen I. Sämtliche Werke. Der Marinevertrag. Anaconda Verlag, Köln 2014, S. 554, 555)

Die Gewißheit jedoch aufzuzeigen, daß das Leben aus mehr bestehen muß als dem Notwendigen, aus einer Tiefe der Schönheit, die Kunst, Literatur, Natur und Religion bieten, war Doyles eigentliches Bestreben. Wie seine Schöpfung war er an allem interessiert, was anders und speziell ist. Der Ausbruch aus dem alltäglichen Einerlei, die Zuwendung zu einer von einer höheren Macht gegebenen Schönheit, die den Sehenden zu erquicken imstande ist und ihm Zugang zu einer Welt zu erlauben, die überall ist und jedoch kaum von jemandem gesehen wird – das war Doyles Anspruch und Maxime. Um zu sehen, was die Deduktion offenbaren kann, braucht es Mut und ein gerüttelt Maß an Anstrengung. Es hat Sinn, ohne Ressentiments mit Immanuel Kants Interpretation der horazischen Worte zu schließen, die wie folgt lauten:

Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ (Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung?. Hrsg. Horst Brandt. Ausgewählte kleine Schriften. Meiner Verlag, Hamburg 1999, S.20-22)


Literaturverzeichnis

Conan Doyle, Sir Arthur: Die Erzählungen I – Sämtliche Werke. Neu und originalgetreu übersetzt von Leslie Giger, Adolf Gleiner, Margarete Jacobi, Louis Ottmann und Rudolf Lautenbach. Anaconda Verlag, Köln, 2014
Conan Doyle, Sir Arthur: Die Erzählungen II – Sämtliche Werke. Neu und originalgetreu übersetzt von Leslie Giger, Adolf Gleiner, Margarete Jacobi, Louis Ottmann Rudolf Lautenbach und Hans Wolf. Anaconda Verlag, Köln, 2014
Conan Doyle, Sir Arthur: Die Romane – Sämtliche Werke. Neu und originalgetreu übersetzt von Margarete Jacobi, Heinrich Darnoc und H.O. Herzog. Anaconda Verlag, Köln, 2014
Conan Doyle, Sir Arthur: Der Hund der Baskervilles. Neu übersetzt von Gisbert Haefs. Weltbild, Augsburg, 2005
Conan Doyle, Sir Arthur: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Neu übersetzt von Gisbert Haefs. Weltbild, Augsburg, 2005
Conan Doyle, Sir Arthur: Die Abenteuer von Sherlock Holmes. Aufbau Verlag, Berlin, 2006
Deissler, Alfons & Vögtle, Anton (Hrsg.): Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. 3. Auflage der Sonderausgabe. Herder Verlag, Stuttgart, 2007
Höffe, Otfried: Kleine Geschichte der Philosophie. Verlag C.H.Beck, München, 2001
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hauptwerke der großen Denker. Voltmedia, Paderborn, 1990
Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung?. Horst Brandt (Hrsg.). Ausgewählte kleine Schriften. Meiner Verlag, Hamburg 1999
Suttles, Traian: Drogenrausch und Deduktion. Zur Innenwelt des Sherlock Holmes. Mainbook Verlag, Frankfurt a.M., 2017
Wende, Peter: Das Britische Empire. Geschichte eines Weltreichs. Verlag C.H.Beck, München, 2008
Weinstein, Zeus (Hrsg.): Sherlock Holmes Handbuch. Kein & Aber Verlag, Zürich, 2008

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  1. Dieser Artikel ist ebenso verfügbar unter http://www.occidens.de/
    Lektorat: Anna-Sophie Naumann

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